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Aitor konnte sich an kein Ereignis in seinem Leben erinnern, das ihm so nahegegangen wäre wie das Verschwinden seiner Tochter. Obwohl Ana nach mehrmaliger Ankündigung, vielmehr Drohung, das Haus freiwillig verlassen hatte, fühlte Aitor die gleiche Verzweiflung wie jemand, der bei einem Unfall oder einer Katastrophe einen geliebten Menschen verloren hat. Dass er selbst sich niemals eigene Kinder gewünscht hatte, tröstete ihn nicht.
Er hatte vermutet, dass er welche haben würde, nicht so sehr aus freien Stücken, eher, weil es ihm als die logische Konsequenz seines Wunsches erschien, mit einer Frau zu leben. Als Jugendlicher hatte er wohl von einem wilden Leben ohne Bindungen geträumt, einem Nomadenleben, in dem er sich spontan immer wieder für neue Orte und Menschen entscheiden könnte, auch für die Dauer seiner Beziehungen, aber sehr bald wurde ihm klar, dass er eine Frau brauchte, gelassen und liebevoll, die ihm helfen würde, eine Unruhe zu besänftigen, die ihn, obwohl sie fast nie nach außen drang, mit der Vorahnung eines unmittelbar bevorstehenden Unglücks in Schach hielt, eine Bedrohung, für die er gewappnet sein musste. Diese Frau würde ohne Zweifel Kinder haben wollen - er vermutete, dass gelassene, liebevolle Frauen eine Familie anstreben -, und er würde es hinnehmen, wie er es hinnehmen würde, ein Haus zu kaufen, eine Hypothek aufzunehmen, eine sichere Anstellung zu haben und an den Wochenenden ihre Eltern zu besuchen, und selbstverständlich an Weihnachten. Diese Aussicht erschien ihm etwas lästig, aber nicht sehr besorgniserregend, so wie die Notwendigkeit einkaufen zu gehen oder das Auto zu waschen, Aufgaben, die keinen Spaß machen, aber die auch nicht so unangenehm sind, dass sie einem den Tag verderben, eine Routine, eine beruhigend vorhersehbare Abfolge von Tätigkeiten, die ihm die Struktur geben würde, um seine Ängste in den Griff zu bekommen. Aber wenn ihn jemand gefragt hätte, ob er, unabhängig davon, was andere wollen, sich Kinder wünschte, hätte er lächelnd geantwortet, dass er gern einen Hund hätte. Einen Hund, dachte er, ein Hund hätte genügt, um diese Rastlosigkeit zu vertreiben, die dieses Summen in seinem Innern verursachte.
Wahrscheinlich hatte seine Distanz zu Kindern etwas mit der Zeit zu tun, als er selbst Kind war, sein Vater Anton verbrachte als Ingenieur in der Erdölförderung die meiste Zeit außer Haus und außer Landes, so dass sein Verhältnis zu ihm eher dem zu einem entfernten Verwandten glich, und das zu seiner Mutter Maika war auch nicht gerade von überströmender Herzlichkeit geprägt. Nicht, dass sie ihn schlecht behandelt oder vernachlässigt hätte, aber sie beschränkte sich darauf, ihre Verpflichtungen zu erfüllen, wie jemand, der eine unumgängliche Arbeit verrichten muss, die weder befriedigend noch unangenehm ist, so halt, wie ein Auto zu waschen oder einkaufen zu gehen. Sie hätte lieber ein Mädchen bekommen. Sie war sogar absolut davon überzeugt, dass ein Mädchen in ihr heranwuchs, nichtsdestotrotz hatte sie vierundzwanzig Stunden vor der Geburt noch nicht entschieden, wie es denn heißen sollte, eine Entscheidung, die sie allein treffen musste, da ihr Mann schon seit drei Monaten hundert Kilometer vor der Küste Norwegens arbeitete und sie nie die Gelegenheit gefunden hatten, es zu besprechen.
Aitor hatte Glück, dass er nicht als Mädchen zur Welt kam.
Wenn seine Mutter sich noch nicht für einen Namen entschieden hatte, dann deshalb, weil sie alles verabscheute, was spanisch oder baskisch klang. Maikas Vater war ein Alkoholiker gewesen, der seine Frau mit der gleichen Wut misshandelte, wie er die Unabhängigkeit des Baskenlandes verteidigte, und der alle Spanier ohne Ausnahme als weibisch und gottlos betrachtete, und Maika erinnerte sich schon nicht mehr, ob ihr Vater so viele Monate im Gefängnis verbracht hatte, weil er ihre Mutter wieder einmal verprügelt hatte oder wegen seiner politischen Aktivitäten in dem anarchistischen Zirkel, dem er angehörte. Maika hieß in Wirklichkeit Maria del Carmen, aber ihr Vater verbot ihr, sich so zu nennen, und zwang ihr diese Verkürzung auf, die ihm zufolge im baskischen Vaterland eher verwurzelt ist. Die Tochter, obwohl sie die Reden des Vaters von der Überlegenheit der Bizkainos, die weit über den Guipuzcoanos und selbstverständlich über den Alavesos standen, verachtete, konnte ihre Abneigung gegenüber den Spaniern nicht überwinden, und als sie sich in Madrid niederließ, brachte sie es nicht fertig, sich wieder Maria del Carmen zu nennen oder wenigstens Mari Carmen oder kurz und knapp Carmen; obwohl sie sich neuen Bekannten zunächst so vorstellte, nannte sie sich aus Gewohnheit oder aus einem schwer erklärbaren Stolz heraus bald wieder Maika. Deshalb wollte sie auch für ihr Kind keinen der üblichen Namen aus einer der beiden Traditionen, die ihr unbequem waren wie ein Paar zu enge Schuhe, und sie hatte mit der Möglichkeit gespielt, ihrer Tochter einen indianischen Namen zu geben, wie Pocahontas oder Malinche, aber eine Radiosendung weckte eine andere Vorliebe. Aitor kam am 6. August 1970 zur Welt, durch eine eingeleitete Geburt, da die Schwangerschaft bereits auf die 42. Woche zuging, und in ihrem Bett im Krankenhaus hörte Maika im Radio ihrer Zimmernachbarin, dass man des Abwurfs der Bombe auf Hiroshima vor 25 Jahren gedachte, und vielleicht durch die Schmerzen und die Verlassenheit verwirrt (niemand aus der Familie war in diesem Moment bei ihr) oder später durch die Betäubung, die für den Kaiserschnitt notwendig war, entschied sie, dass ihre Tochter Hiroshima heißen sollte. Der Name erschien ihr wohlklingend, exotisch und originell zugleich, genau passend für einen so außergewöhnlichen Menschen, wie ihre Tochter einer werden würde. Als man ihr zeigte, dass es sich um einen Jungen handelte, bestand sie zunächst darauf, eine Tochter geboren zu haben, aber sie musste schließlich, wenn sie auch nicht den Beteuerungen des Chirurgen und der Krankenschwestern glaubte, doch die Offensichtlichkeit eines Penis akzeptieren, der ihr im Vergleich zu einem so kleinen Kind etwas überdimensioniert erschien, und als Stunden später eine Frau im weißen Kittel sie fragte, wie das Neugeborene heißen sollte, wusste sie nichts zu antworten. Wie heißt denn der Vater?, wollte die Ärztin oder Schwester ihr helfen. Aitor, antwortete Maika, und gab den Namen ihres eigenen Vaters an, vielleicht verhaspelte sie sich, weil er ähnlich klang wie der Name ihres Mannes, doch obwohl sie das Missverständnis später hätte ausräumen oder einen anderen Namen hätte wählen können, beließ sie es aus Gleichgültigkeit oder Erschöpfung dabei, so dass der Junge schließlich einen baskischen Vornamen und einen kastilischen Nachnamen bekam, Aitor Sánchez.
Eines der wenigen Male, bei denen Maika mit ihrem Sohn über ihre Schwangerschaft und Geburt sprach, er war noch klein, erzählte sie ihm lachend, dass er in Wirklichkeit Hiroshima hätte heißen sollen, zu Ehren der Stadt, die von der Atombombe dem Erdboden gleichgemacht worden war. Ihm war plötzlich zum Heulen zumute, und er hätte nicht sagen können, ob wegen der ungewohnten Heiterkeit seiner Mutter oder weil es ihm wehtat, dass sie ihn nicht lieben konnte, genau ihn, anstatt eines Mädchens oder irgendeines anderen Jungen. Er überwand sich sie zu fragen, warum sie so überzeugt davon gewesen war, ein Mädchen zu bekommen, und nach kurzem Nachdenken erklärte sie, dass es eine sehr einfache Schwangerschaft gewesen sei, fast ohne Anfälle von Übelkeit, und er habe sie nie getreten, selten habe er sich überhaupt bewegt, so dass sie seine Anwesenheit oft gar nicht bemerkt habe, fast, als hätte der Fötus niemals die Wände der Gebärmutter auch nur gestreift. Jungs treten dich, bevor sie aus deinem Körper herauskommen, erläuterte sie, obwohl sie das gar nicht wissen konnte. Aitor malte sich aus, wie ein Astronaut in seiner Mutter zu schweben, sich um sich selbst drehend, langsam, mit dem Raumschiff nur durch ein Kabel verbunden, das verhinderte, dass er für immer in der ihn umgebenden Schwärze verloren ging.
Aitor hatte keine Geschwister: Sein Vater entschied sich, in Brasilien zu bleiben, wo er mehrere Monate in der Erdölförderung für Petrobras an den Ufern des Amazonas gearbeitet hatte (er schickte ein paar Fotos vom Dschungel und von einem toten Tapir, dem ein Bein fehlte), und reichte die Scheidung in Abwesenheit ein. Maika akzeptierte widerstandslos. Das letzte Mal sah Aitor seinen Vater auf einem Foto in El País. Der Artikel schilderte ein Gerichtsverfahren, das 2003 in Chevron eröffnet wurde und in dem es um die Ölpest im Nationalpark Yasuní in Ecuador ging. Sein Vater lächelte inmitten der Beschuldigten; mit den wenigen Haaren, die auf einer durch das Blitzlicht glänzenden Glatze klebten, einem Jackett mit zu kurzen Ärmeln und der dicken Brille wie der eines Professors für irgendeine tote Sprache, sah er älter aus, als er hätte sein...
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