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Nein, sie kamen nicht aus seinem Kopf, sie kamen tatsächlich von draußen. Es waren keine Traumreste, wie er gedacht hatte, vermischt mit Bildern aus der Kindheit: der einsame Baum im Garten, an dem jedes Jahr weniger Pflaumen hingen, der Hühnerstall nebenan, die Glucken im Strohkorb beim Brüten, so lange, bis ein leises Knacken zu hören war und erste Risse sich zeigten, dann ein Ruckeln und Zucken, bevor das Ei platzte und ein glitschiger, leuchtend gelber Knäuel aufs Stroh rollte, ein verklebtes Büschel mit geschlossenen Augen, völlig erschöpft. Auch die Großmutter war ins Bild gekommen, ganz in Schwarz und mit Hut, auf dem Weg zur Kirche, für den sie den Kiesweg hinterm Schuppen nahm, die Handtasche fest umklammert, darin das Gesangbuch, der Rosenkranz, ein paar Klammern fürs Haar und ein großes weißes, zusammengefaltetes Schnäuztuch, mit Spitzen umrandet, wie bei einer Tischdecke. Jeden Sommer, wenn er mit ihr, eine Schüssel in der einen Hand, eine Mistgabel zum Schütteln in der andern, auf diesen Pflaumenbaum zuschritt, sagte sie: Nächstes Jahr lohnt es sich nicht mehr! Als bloß noch sechs oder sieben Pflaumen an ihm hingen, fällten sie ihn. Die Nachbarn wollten nicht glauben, dass sie beide das ganz alleine geschafft hatten: er fast noch ein Knirps, sie jenseits der achtzig. Manchmal ist man zu Dingen fähig, die einen selbst verblüffen.
Einmal im Jahr war bei ihnen sonntags ein Hahn auf dem Tisch gestanden, gefüllt mit Brät, Kräutern, Gewürzen und weiß Gott was allem, jedes Mal ein Festessen, unvergesslich. Am Vortag schlug die Großmutter ihm den Kopf ab, mit dem Beil auf dem Hackklotz, worauf er noch eine Runde durch die Luft flatterte und Blut verspritzte, während der Kopf mit dem Kamm schon auf dem Boden lag. Der Hackklotz stand mitten im Hühnergarten, hauptsächlich zum Holzhacken. Die Hühner und dieser Klotz gehörten zusammen, wie Leben und Tod. Als Kind hatte er sich oft gefragt, ob die Hühner wussten, dass das Gleiche auch ihnen blühen würde, sie waren meist dabei, wenn ein Rumpf ohne Kopf durch die Luft flog. Aber sie schauten überhaupt nicht hin, als gäbe es Wichtigeres zu tun: Würmer aus dem Boden scharren, kleine Revierkämpfe ausfechten, das Gefieder putzen. Was die Großmutter tat, schienen ihre nervösen Knopfaugen auszublenden, als ginge es sie nichts an. Sie gackerten weiter, badeten im Sand, tranken aus Schalen schlückchenweise Wasser, in meditativer Versenkung. Das Geköpftwerden gehörte zu ihrem Leben wie die Körner, die sie pickten, und wie die Hühnerleiter und der Zaun um sie herum und der Himmel weit droben.
Diese Bilder kamen ihm in dem Zwischenzustand aus nachwehenden Träumen und einsetzendem Erwachen, kurz vor Einbruch der Wirklichkeit, in den Momenten, als man noch nicht genau wusste, was von draußen kam und was aus dem eigenen Innern, jedoch schon etwas von dem Licht ahnte, das einen beim Augenöffnen erwartet. Um den Andrang der Realität noch eine Weile hinauszuzögern, hätte er seine nächtlichen Filmbilder am liebsten noch einmal angekurbelt. Im Wachzustand musste man sich immer gleich wieder für dies und gegen jenes entscheiden und sich in irgendeiner Weise verhalten, während man sich im Halbschlaf den Dingen einfach überlassen und sie trotzdem schon ein wenig steuern konnte, ohne jede Verantwortung und ohne alle Folgen. Am liebsten hätte er weitergedöst und sich in diesen Erinnerungsgespinsten verloren, was immer sie heranschwemmen mochten.
Das Krähen wollte nicht aufhören, es wurde lauter, mächtiger, gebieterischer. Es mussten Hunderte sein, wenn nicht Tausende, vielleicht Millionen. Zu Hause befand er sich jedenfalls nicht, so viel stand fest, schon gar nicht bei der Großmutter, die schon lange tot war. Dann aber tauchte dieses Bild auf: zerrupfte, halb nackte Hähne mit bloß noch spärlichem Gefieder, die Haut käsig, voller rötlicher Flecken, wie Pusteln oder Warzen, die Kämme herabhängende Lappen, wie angenagt und angefressen, um eines der Beine eine Schnur, festgebunden an Bäumen, direkt an der Straße, mit nur einer Armlänge Bewegungsfreiheit, auf Auspuffhöhe. Nichts Stolzes an ihnen, nichts Majestätisches, elendige Kreaturen. Es fehlte ihnen alles, was er aus seiner Kindheit kannte, vor allem die Misthaufen, auf denen sie am liebsten thronten. Sie lebten in einer Steinwüste.
Nun wusste er auch, wo er sich befand: in einem Hotel in einer fremden Welt, mit Rikka neben sich. Und er wusste auch, warum er die Augen noch nicht öffnen und weiterträumen wollte, wie aus Angst, unangenehm überrascht zu werden, ohne sagen zu können, worin dieses Unangenehme bestand. Es war nur ein Gefühl, ja sogar weniger als ein Gefühl, ohne alles Greifbare, gleich einem Nebel, von dem er nicht wollte, dass er sich lichtet. Früher war er gerne aufgewacht und gerne aufgestanden, vor allem, wenn ein heller Himmel ihn begrüßte, in letzter Zeit hing er oft seinen ausfransenden Träumen nach und wäre lieber liegen geblieben. Inzwischen hatte er gleich beim Aufwachen ein beklemmendes Gefühl, das ihn oft stunden-, ja manchmal tagelang nicht mehr loslassen wollte. Vor einiger Zeit war er noch gerne in die Schule gegangen und aus der Schule gerne zurück nach Hause, die tägliche Routine hatte etwas Beruhigendes, trotz aller Probleme in den Klassen und mit den Kollegen. Jetzt fühlte er sich manchmal schon beim Aufwachen erschöpft und fast schwermütig, obwohl er nie zu Schwermut geneigt hatte. Allerdings steckte hinter dieser Schwermut vermutlich etwas ganz anderes, viel Schlimmeres, woran er lieber nicht denken mochte. Dabei wusste er nur zu gut, was es war. Es war ein innerer Aufruhr, den er mit aller Kraft niederzuhalten suchte. Im Grunde wollte er einfach nur wieder der sein, der er einmal war.
Zurück vom Abendessen hatten sie noch eine Weile auf dem Balkon gestanden und in die Nacht geschaut, zur Linken das Meer, zur Rechten Berge in unbestimmter Ferne, vielleicht die Kordilleren, auch wenn sie erstaunlich niedrig aussahen und laut Karte erst weiter nördlich anfingen, dort, wo sie heute hinfuhren, in wenigen Stunden. Im Bett hatten sie noch ferngesehen, Unterhaltung und Werbung auf allen Kanälen, knallbunt und ziemlich retro, von Nachrichten keine Spur, aber sie hätten sowieso nichts verstanden. Nach einem schnellen Zappen schalteten sie ihn aus und gleich darauf auch das Licht, eine kalte Deckenröhre, deren Licht das Zimmer noch öder erscheinen ließ, als es eh schon war.
Rikka schlief noch, ruhig und tief, fast als könnte sie tot sein, friedlich und wie erlöst von allem. Er schlüpfte aus dem Bett, langsam und leise, tappte auf Zehenspitzen zum Balkon, schob die Tür sachte zur Seite und hinter sich zu. Immer noch traute er seinen Sinnen nicht, man konnte es kaum glauben. Nirgendwo hatte er von diesen Hähnen gehört oder gelesen, nicht einmal im Reiseführer, in dem alles Mögliche stand, von Prostituierten und dem Papamobil, das man für den polnischen Papst gebaut hatte und das wie eine Reliquie verehrt wurde, irgendwo in einer Kathedrale hier. Angenehm warm war es schon so früh, über dem Meer ein blassblaues Leuchten, am Horizont ein breiter gelber Streifen mit rötlichen Tönen, obwohl die Sonne noch gar nicht aufgetaucht war, aber ihre Strahlen vorausschickte. So stellte man sich den ersten Schöpfungstag vor, dachte er, in reinem Licht, das noch nie ein Unheil gesehen hat und schon zweimal nichts von dem, was sie gestern Abend zu Gesicht bekommen hatten, nicht nur die angepflockten Hähne und die Baumbewohner auf Brettern zwischen den Ästen und die riesigen Lagerhallen, aus deren Fensterlöchern Scharen von Gesichtern blickten, wie eingepfercht.
Auf der Suche nach einem Restaurant waren sie plötzlich vor zwei Leprakranken gestanden, wie aus dem Nichts, hinter einer Wegbiegung, Gespenstern gleich, an einen Zaun gelehnt, keine zwei Schritte von ihnen entfernt, am Eingang eines Parks, unweit der amerikanischen Botschaft, in einem Viertel, in dem man so etwas nie vermuten würde. Lepra, hatte er gedacht, gäbe es schon seit Ewigkeiten nicht mehr, eine biblische Krankheit bis ins Mittelalter, mythisch, wie nicht von dieser Welt, eine von Gott verhängte Strafe, zu Zeiten, als man noch an Gott geglaubt hat. Diese beiden aber streckten ihnen ihre verknoteten Hände entgegen, leibhaftig, aus Fleisch und Blut. Sie traten auf sie zu, vorsichtig, scheu, demütig, der kleinere mit einem glibberigen Auge ohne Pupille, rötlich weiß, tief in seiner Höhle versunken, sein Kopf voller Beulen, weißlich, gelblich, ...
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