Teil II C87 5/6 (oder: Die kalten Mieter)
i. Tod in Mexiko (Shabbatz Krekov, C87 1/6: 1905-1956-1987-X)
Diese Zeilen sind das erste Zeugnis einer Art Verwechslung. Sie erzählen die Geschichte von Richard Kallmann, der 1956 tot in den mäandernden Ausläufern von Mexiko-Stadt aufgefunden wurde. Sie erzählen aber auch die Geschichte von Shabbatz Krekov, dessen Körper nun im Kälteschlaf verweilt, kopfüber getaucht in einen Tank flüssigen Stickstoff. Es handelt sich bei den beiden um ein und dieselbe Person. Kallmann war 51, als man ihn mit weggeschossenem Gesicht und von Leichenfraß entstellt am südlichen Rand der mexikanischen Hauptstadt fand. Krekov hingegen hatte gerade das 82. Lebensjahr überschritten, als er eines natürlichen Todes starb und sein Leichnam eingefroren wurde. Doch wir reden von einem Menschen. Kallmanns Zustand war zu fragil für seinen unsterblichen Geist. Also entledigte er sich seines alten Ichs und lebte fortan in einer Erfindung weiter, einem Phantom. Richard Kallmann starb in einer einsamen Nacht im Jahre 1956 in Mexiko und wurde im selben Augenblick als Shabbatz Krekov wiedergeboren. Doch eine Geschichte muss mit ihrem Anfang begonnen werden, zumindest in diesem Fall. Und eine wahre Geschichte riecht nach altem Papier.
Die Eltern Kallmanns lebten nicht schlecht im Wien des frühen 20. Jahrhunderts. Gut gelaunt und von einer irrationalen Euphorie erfasst, ließen sie ein Jahrhundert hinter sich und widmeten sich mit großen Plänen einem neuen. Gustav Kallmann, ein österreichisch-jüdischer Kaufmann, der jedoch - zum Protestantismus konvertiert - seinen Geburtsnamen Rubin abgelegt hatte, war mit starkem unternehmerischem Geist an der Erfindung der Thermoskanne und des Waffeltuchs beteiligt, was ihm einen gewissen Wohlstand eingebracht und das Ehepaar Kallmann in die höheren Kreise des Großbürgertums befördert hatte. Seine bildhübsche Ehefrau Hedwig, geboren als Hedwig Emilie Kissler, war eine deutsche Schauspielerin, die schon in jungen Jahren auf eine beachtliche Bühnenerfahrung zurückblickte. Sie hatte als kaum Erwachsene in den größten Theaterhäusern gespielt, wenn sie auch stets für Nebenrollen besetzt wurde - doch es waren eben jene Nebenrollen, die den Hauptdarstellern nicht selten die Show stahlen. So genoss sie auch in Österreich eine nicht unerhebliche Prominenz und war gemeinsam mit ihrem charmanten und aufgeweckten Gatten in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ein gern gesehener Gast in den Wiener Salons.
Ihr wachsender Reichtum ermöglichte es den Kallmanns, eine ganze Reihe von Kunstwerken zu kaufen, Gemälde und Skulpturen, die sie sammelten und die bald eine der interessantesten Privatsammlungen der Wiener Oberschicht bildeten. Vielen jungen Kunstschaffenden ermöglichten die Kallmanns so den Einstieg in einen zu dieser Zeit florierenden Markt, galt doch ein Kauf des Ehepaars schon bald als hohes Werturteil. Doch ein Großteil der Kallmann'schen Sammlung ist heute als Raubkunst verschollen, die Nationalsozialisten stahlen die Bilder aus den Immobilien der Familie. Eine beträchtliche Zahl der Gemälde und Skulpturen musste Gustav zudem bereits vor den Wirren der Weltkriege verkaufen, als die Familie wirtschaftliche Einbußen zu verzeichnen hatte und nach einigen Fehlkalkulationen und Verlusten dem Bankrott entgegensteuerte. Manches ist verbrannt. Kallmanns Sammlung existiert heute nicht mehr, sie ist verschwunden. Nur in der Erinnerung und auf ein paar wenigen Fotografien hat sie noch Bestand.
Doch als Franz Richard Kallmann im Frühling 1905 das Licht der Welt erblickt, ist davon noch nichts zu spüren. Er kommt als erster Sprössling einer privilegierten Familie zur Welt, deren Abgründe der Außenwelt stets verborgen bleiben. Richard, schon seit der Geburt von unsagbarer Schönheit, wächst die ersten Jahre seines Lebens wohlbehütet in der Steiermark auf, wenn auch aus Tagebuchaufzeichnungen seines Kindermädchens Magdalena Schneider bekannt ist, dass er sich, bereits in jenen jungen Jahren, des Nachts von Albträumen geplagt unruhig im Schlaf hin und her wirft und häufiger ins Bett nässt.
Der kleine Bub macht mir Angst, schreibt sie 1910, er spricht im Schlaf von Ungeheuern, die ich mir kaum auszumalen getraue, sie verfolgen ihn, und er weint und zittert, sodass ich ihn manches Mal aufwecken muss, bis er sich dann beruhigt hat und in meinem Arm wieder einschläft. Manchmal hilft nur ein Tuch mit ein wenig Schnaps, um seinen nächtlichen Wahn zu durchbrechen. Der Frau Kallmann erzähle ich nicht davon, ich habe Angst, dass sie meine Fähigkeiten in Zweifel zieht und ich wieder auf der Straße stehe.
Doch der kleine Bub ist zäh und gedeiht, verbringt die Tage in den Gärten des Kurhotels, das Vater Gustav Ende der 1900er Jahre in Sagan eröffnet. Er spielt (allein), streift durch die Büsche und Wälder, spricht vor sich hin, wie es das Tagebuch Magdalenas erzählt, deren bisweilen verzweifelte Einträge 1912 plötzlich abbrechen. Immer wieder notiert sie, dass sie den Jungen im Garten oder in dem weitläufigen, mehrstöckigen Haus nicht finden kann, er dann plötzlich vor ihr stehe und sie zu Tode erschrecke.
Den Ersten Weltkrieg übersteht die Familie in Sagan physisch unbeschadet, auch wenn sie erhebliche materielle Verluste hinnehmen muss. Doch es geht weiter: Bis 1919 bleibt der Junge Richard im Haus seiner Eltern und begegnet dort den großen Malern, Dichtern und Schriftstellern der Zeit. Richard wird von einem Privatlehrer unterrichtet, der auch seine im Abstand von etwa zwei Jahren geborenen Geschwister lehrt, deren tragische Wege hier nachzuzeichnen wohl den Rahmen der kurzen Lebensskizze sprengen würde. Nur soviel sei erwähnt: Es ist tragisch, war immer tragisch, wird immer tragisch bleiben. Auch der früh pubertierende Richard beginnt, inspiriert von einem in diesen Tagen hochtrabenden Milieu der intellektuellen Elite, erste Miniaturen zu schreiben, Aphorismen, die bald in prosaischen Experimenten münden.
Die Familie nimmt einige Kriegsversehrte zur Kur auf, und Richard wird von einem nahezu obsessiven Interesse an den Erzählungen der Soldaten befallen, die, traumatisiert vom Kriegstreiben und bisweilen schrecklich entstellt, in Sagan wiederhergestellt werden sollen. Sprachlich noch so unsicher wie eine junge Antilope auf der Flucht vor einem Löwen, beginnt Richard, jetzt ein Lebenslechzer mit zwingendem Interesse an Tod und Verderben, die Geschichten der Soldaten (und ihre Erzählungen aus den Schützengräben) aufzuschreiben. Heute jedoch sind diese frühen Versuche allesamt verschollen, was weder gut noch schlecht ist.
1923 brennt das Wiener Wohnhaus der Kallmanns komplett nieder, sodass die Familie nun ganz nach Sagan übersiedelt. Nicht so jedoch Richard, er lebt seit Ende 1919 in einem nicht näher bezeichneten Internat am Rande Wiens, wo er den Unterricht still und zurückhaltend verfolgt, jedoch ausschließlich ausgezeichnete Arbeiten schreibt, die nicht selten das Lehrpersonal überfordern: Seine Frau Klassenlehrerin, die von den paranoiden Visionen Kallmanns, welche jedoch, wie ihre Aufzeichnungen belegen, jede für sich von unsagbarer Präzision und Konzentration zeugen, irritiert ist, schreibt über den Heranwachsenden: Was ist dem Richard widerfahren, dass er so etwas schreibt? Was stimmt mit diesem Jungen nicht?
Mit 18 Jahren und einer Körpergröße von 1,92 Metern besteht der hagere und doch muskulöse Kallmann, den man nun fast einen jungen Mann nennen mag, mit Auszeichnung das Abitur. Er verzückt die Geschlechter trotz seiner ausgemachten Schüchternheit und nicht zuletzt durch die Anmut seiner markanten Wangenknochen, verlässt das Internat und soll erst ein Jahrzehnt später in Verbindung mit einem Brandanschlag dorthin zurückkehren, dessen nähere Umstände auf ewig ungeklärt bleiben.
Kallmann, gerade volljährig, bezieht eine Wohnung am Prater in Wien, die er sich mit einer Gruppe Dirnen teilt, welche den attraktiven Österreicher ungefragt in die mannigfaltigen Disziplinen des Liebesspiels einführen. Oh, wie es ihm gefällt, was die Dirnen da tun, und wie er zunächst kaum darüber sprechen kann. Doch Freundschaften entstehen, endlos geistern die Unterhaltungen durch die Nächte. Die so gemachten Erfahrungen inspirieren den sexuell erwachenden (ach, sich überschlagenden!) Mitbewohner und Schlüssellochgucker Richard Kallmann in der zweiten Hälfte der 1920er Jahren zu seinem sträflich missachteten Debütroman Die Dirnen, der für das zeitnah beieinander entstehende erotische Frühwerk wie eine Blaupause zu lesen ist und mit Hammerschläge, Hinterköpfe und Rutschiges Vienna eine aufgeladene Trilogie bildet, die den jungen Mann schließlich ins Visier der Sittenpolizei bringt.
Alle drei Romane sind nach demselben Muster gestrickt und werden aus der Perspektive einer Gruppe in ihrem Wesen gänzlich unterschiedlicher Prostituierter erzählt, die in plätschernden (inneren) Monologen über das eigene Leben und spekulativ über das ihrer Freier und Freierinnen sinnieren, wodurch ein geisterhaft huschender Erzählstrom entsteht, der ein paar Meter über dem hedonistischen Wien der...