Kapitel 1
Heute - kurz vor Weihnachten
»Ich gebe auf! So was kann sich doch kein normaler Mensch merken.« Entnervt schlug Bea ihren Taschenatlas der Physiologie zu und widmete sich ihrer Tochter. Keine Sekunde zu früh. Lisa war schon fast an der Tür und auf dem Weg zu ihrem Lieblingsspielzeug: dem Katzenfutter.
Hirnnerven und Geschlechtskrankheiten mussten warten. Jetzt war erst mal der tägliche Pflichttanz angesagt. Vielleicht schaffte es die Lerngruppe heute Mittag, ihr dieses lateinische Fachchinesisch einzutrichtern.
Denn: Egal, wie schwer es war, es gab kein Zurück.
Eigentlich war ja Melli diejenige gewesen, die unbedingt Heilpraktikerin werden wollte. Aber inzwischen hatte es Bea regelrecht gepackt. Sie fand die Einblicke in Körper und Seele so spannend, dass es ebenso ihr Traum geworden war. Nächstes Jahr um diese Zeit würde sie die Prüfung machen. Sie wollte diesen Abschluss mehr als alles auf der Welt. Wieso der Termin allerdings kurz vor Weihnachten sein musste, verstand sie nicht. Wenn es schiefginge, wäre es das traurigste Weihnachten, das sie sich vorstellen konnte - und das war nicht ganz einfach nach dem letztjährigen Horrorfest, das im Aus ihrer Ehe gipfelte.
Andererseits, sollte sie es schaffen, würde sie sich selbst damit das schönste Weihnachtsgeschenk ever machen. Das hatte durchaus seinen Reiz. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wie sie es anstellen sollte, sie musste es schaffen. Musste! Musste! Musste! Keinen Triumph für Armin: »Habe ich ja gewusst, dass es nur eine Hausmütterchenidee war.« Diese Blöße würde sie sich nicht geben! Dass die Idee tatsächlich nicht clever durchdacht gewesen, sondern aus einer Weinlaune heraus entstanden war, musste er ja nicht wissen.
Gift und Galle kamen ihr hoch, wenn sie an seinen selbstgefälligen Gesichtsausdruck dachte.
»Kümmere dich doch um die Kinder. Dann hast du genug zu tun und brauchst diesen Selbstverwirklichungsquatsch für frustrierte Hausfrauen nicht. Du schaffst es ja sowieso nicht. Oder hast du vergessen, dass dir bei Prüfungen die Nerven durchgehen?«
Oh, wie hatte sie seine Sprüche und seine Anspielungen auf ihre Prüfungsangst satt! Wäre er nicht schon ausgezogen, würde sie ihn glatt rauswerfen. Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken an den Heiligabend im vergangenen Jahr, der so ganz und gar nicht weihnachtlich geendet hatte. Schnell wischte sie die Erinnerung wieder weg. Vorbei. Sie hatte jetzt ein neues Leben und immerhin noch ein Jahr Zeit, um Hirnnerven und Krankheiten aller Art fest in ihrem Gedächtnis abzuspeichern.
Bea schnappte sich ihre Jüngste und ließ sie einmal durch die Luft schwingen, bevor sie bequem auf Mamas Hüfte Platz fand.
»Na, du kleiner Strolch, die Richtung jedenfalls stimmt schon mal. Wir beide gehen jetzt in die Küche. Tamara und Felix kommen in einer Stunde und werden Hunger haben.«
Wenn Lisa mit der Mama kochen durfte, war sie immer ein sehr zufriedenes Kind. Mit ihren vierzehn Monaten war sie auf alles neugierig und begeistert, wenn was los war.
»Komm, wir schauen noch eben nach der Post, und dann geht's los.«
Rechnung, Werbung, Kontoauszüge, Ansichtskarte von Mutter. Wo war die zurzeit? Ah ja, Marokko. Wetter gut, Leute nett, blablabla. Gelangweilt warf Bea die Karte auf den Küchentisch und ließ sich auf einen Stuhl sinken.
Mal schauen, was der Kontostand zu erzählen wusste.
»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief sie eine Sekunde später. »Nein, das glaub ich ja nicht. Das ist ein schlechter Scherz!«
Sie fuhr mit der Faust auf den Tisch.
Die völlig verdutzte Lisa verzog weinerlich das Gesicht, aber Bea fasste sich schnell.
»Nicht weinen, Schatz. Mami ist nicht böse mit dir. Bestimmt nicht.« Tröstend streichelte sie ihr über die Wange und schaffte es sogar, ihre Kleine anzulächeln. Einige Gummibärchen fanden den Weg aus der Tüte in Lisas Patschhändchen.
Was bildete sich dieser Mistkerl von einem Noch-Ehemann überhaupt ein, einfach achthundert Euro weniger zu überweisen?
Wütend tigerte Bea in der Küche hin und her und murmelte vor sich hin. Lisa hatte sich schnell von ihrem Schreck erholt und beobachtete, Gummibären kauend, das merkwürdige Gebaren ihrer Mama.
Inzwischen hatte Bea sich entschlossen das Telefon geschnappt. Diese Sache musste geklärt werden. Sofort! Immerhin konnte es ja ein Fehler der Bank sein oder sonst irgendwas. Aber ihr Bauchgefühl wusste es besser. Das war kein Versehen, das war pure Berechnung. Wider besseres Wissen rief Bea dennoch erst einmal bei der Bank an. Sebastian Friedrich, ihr Sachbearbeiter und ein guter Freund von Armin, bestätigte ihr, dass kein Fehler vorlag. Ohne weitere Höflichkeitsfloskeln unterbrach Bea das Gespräch, um sofort mit fahrigen Fingern neu zu wählen.
Armin war von Anfang an dagegen gewesen, dass sie Heilpraktikerin werden wollte. Als er es rausgefunden hatte, hatte er ihr eine nette kleine Szene gemacht, versucht den Ehemann raushängen zu lassen, den Bestimmer - obwohl er nur noch auf dem Papier ihr Mann war. Und jetzt probierte er es auf diese Art. Auch noch kurz vor Weihnachten! Wovon sollte sie die Geschenke für die Kinder kaufen? Den Weihnachtsbaum? Das Festessen? Er wusste genau, wie er sie treffen konnte, aber Bea würde nicht zulassen, dass er seinen Kindern das Weihnachtsfest verdarb. Schon gar nicht dieses erste Weihnachtsfest nach der Trennung.
Na warte, Bürschchen!
Sie wählte die Nummer zum dritten Mal. Ständig besetzt. Dieser Feigling!
Immer noch wutschnaubend, fing sie an, das Gemüse zu putzen. Aber sie hatte keine Ruhe.
Erneuter Versuch.
Tüt-tüt-tüt. Das durfte nicht wahr sein, immer noch besetzt!
Dem Herrn würde sie mächtig die Meinung geigen, wenn sie ihn denn irgendwann an der Strippe hatte. Sie legte gerade wütend auf, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm.
»Lisa, nein! Igitt!«
Das Telefon flog auf den Tisch und mit einem Satz war sie bei ihrer Tochter. Während sie das Katzenfutter aus den kleinen Fäustchen hervor pulte, schaute sie Lisa prüfend an.
»Hast du schon was davon im Mund?«
Mit gekonntem Griff quetschte Bea die Wangen der Einjährigen zusammen, um die Tiefen der Mundhöhle zu erforschen. Was hatte sie da nicht schon alles gefunden: Kieselsteine, Murmeln und sogar mal einen Mistkäfer. Brrrrrrr. Bea schüttelte es immer noch, wenn sie daran dachte. Alles in Ordnung: Das Mäulchen war leer und roch frisch nach Kindermund und Gummibärchen.
»Sind die Bärchen schon alle weg? Na, dann komm mal, mein Schatz. Du kannst mir beim Kochen zuschauen.«
Mit Schwung hob Bea die Kleine in ihren Kinderstuhl und schob sie zu sich ans Spülbecken. Sie wusch die Babyhände. Nun konnte Bea endlich das Gemüse fertig schnippeln.
Lisa knabberte zufrieden an einem Stück Karotte. Gribingdingdong. Die Türklingel krächzte wie eine alte Krähe.
»Bleib schön sitzen, Mami ist gleich wieder da.«
Die Hände an der Schürze abwischend, stürzte sie zur Tür und linste vorsichtig durch den Spion. O nein, Frau Blumendorf! Die hatte noch gefehlt.
Kurz spürte sie die Verlockung, einfach nicht zu öffnen, aber so was tat frau nicht, schon gar nicht, wenn sie auch mal wieder was von der Nachbarin wollte.
»Hallo, Frau Blumendorf. Was führt Sie zu mir?«
Das Lächeln war einen Hauch zu freundlich gewesen. Frau Nachbarin nahm die Einladung sofort an und schob sich in den Flur. Die hatte einfach immer Zeit für ein Schwätzchen.
»Ich wollte nur mal schauen, ob alles in Ordnung ist.« Der neugierige Blick wanderte in Windeseile in sämtliche Winkel des Flurs. »Sie haben ihre Mülltonne nicht rausgestellt. Hätte ja sein können, dass Sie . «
Ein polterndes Krachen aus der Küche unterbrach ihren Redefluss.
»O nein, Lisa!«
Mit der Nachbarin im Schlepptau hechtete Bea in die Küche. Lisa hatte ihren Stuhl umgeschmissen und war auf flinken Händen und Knien auf dem Weg zum Futternapf. Im Fallen hatte sie inzwischen wirklich Übung.
Vor dieser Aktion hatte sie schnell noch den laufenden Wasserhahn so gedreht, dass sich ein netter kleiner See auf dem Küchenboden bildete.
»Na, Sie haben aber ein ganz schönes Durcheinander hier, meine Liebe. Ist wohl alles ein bisschen viel, so ohne Mann? Soll ich Ihnen ein wenig zur Hand gehen?«
In Frau Blumendorfs Augen tanzten kleine Freudensternchen. Bea wusste, dass das Gesprächsstoff für mindestens zwei Stunden war. Zur Hand gehen? Das hätte gerade noch gefehlt.
Sie drehte das Wasser ab, schnappte sich Lisa und begleitete die Nachbarin Richtung Ausgang.
»Das ist wirklich nicht nötig, vielen Dank. Aber Sie sehen ja, ich habe wirklich gerade keine Zeit. Danke fürs Vorbeischauen. Auf Wiedersehen, Frau Blumendorf!«
Resolut schob sie die aufdringliche Frau zur Tür hinaus und lehnte sich von innen dagegen.
Einmal kurz durchatmen.
Ein Blick auf die Uhr genügte, um wieder Schwung in Bea zu bringen. Gleich kamen Felix und Tamara aus der Schule - hungrig natürlich -, und sie hatte noch nicht einmal das Gemüse zu Ende geputzt. Das war einer dieser Tage .
Schon kochte die Wut auf ihren treulosen Ehemann erneut in Bea hoch. Er hatte es sich schon während ihrer Ehe verflixt einfach gemacht, aber seit sie getrennt waren, kümmerte er sich so gut wie gar nicht mehr um seine Kinder. Das Chaos schränke ihn in seiner Persönlichkeitsentwicklung ein, hatte er ihr kurz nach Silvester erklärt, als sie noch einmal versucht hatte, den Problemen in einem Gespräch auf den Grund zu gehen und...