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Helena behielt recht, tags darauf zeigte sich das Wetter wieder von seiner besten Seite; die Sonne wärmte Natur und Parkgänger. Als ich zu unserer Bank unter dem alten Ahorn kam, saß Helena bereits dort, blinzelte in die Sonne und ließ ihre Beine baumeln.
»Aha, der Herr Ueli, hab ich ihn also doch nicht so erschreckt, dass er nicht wiederkommt«, sagte sie grinsend und fügte sehr ernst hinzu: »Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen. Ich finde, ich habe meiner Mutter unrecht getan. Wie hätte sie anders handeln können, in ihrer Lage . Aber komm, setz dich, heute habe ich Pistazien mitgebracht, die kennst du ja wohl.«
Helena hatte sich entschieden, einen weiten Bogen zu schlagen, bei ihren Großeltern anzufangen, um mir begreiflich zu machen, warum ihre Mutter so gehandelt hatte und wie das Schicksal zu den Menschen, noch mehr aber die Menschen untereinander grausam sein können.
Mein Vater Achilleus wurde 1912 in Kleinasien, also auf türkischem Boden, geboren. Seine Eltern waren reiche Griechen. Mein Vater, sein Bruder Nikolaos und die zwei Schwestern Pipina und Elektra wuchsen in guten Verhältnissen auf. Doch der Türkisch-Griechische Krieg zwang die Familie, aus der Türkei zu fliehen. Die Türken erwischten sie auf der Flucht. Sie schlugen den Eltern vor den Augen der Kinder den Kopf ab und zwangen meinen Vater, vom Blut seiner Eltern zu trinken. Mein Vater, er war der Jüngste, und seine Geschwister kamen als Waisen nach Griechenland. Mit achtzehn hatte er eine Hirnhautentzündung, das schränkte seine Gesundheit, vielleicht auch sein Denken stark ein. Aber davon erzähle ich später.
Von den Großeltern mütterlicherseits weiß ich mehr. Überhaupt, was ich von meinen Vorfahren weiß, erfuhr ich alles von meiner Mutter. Ihr Vater war ein griechischer Reeder wie davor auch schon sein Vater. Meine Großmutter stammte von der Insel Spetses. Sie war dreizehn, als sie meinen Großvater kennen lernte.
Er war damals mit ihrer besten Freundin verlobt, aber meine Großmutter schnappte ihn ihr weg. Nach der Heirat zogen sie nach Piräus und bekamen neun Kinder. Mein Großvater Anargiros liebte seine Penthesilea abgöttisch. Am Anfang nahm er sie immer mit auf seine Schiffsreisen, später blieb sie bei den Kindern. Penthesilea hatte ein Leben wie eine Königin mit Dienstpersonal und Gouvernanten für die Kinder.
Siehst du, in meiner Familie gab es schon auch noble Leute, aber das ist alles Schnee von gestern .
Als Anargiros auf einer seiner Reisen war, wandte das Glück sich von den beiden ab. Penthesilea war wieder schwanger, und die Hebamme gab ihr eine Spritze. Aber etwas lief schief, und meine Großmutter wurde krank und starb. Leda, meine Mutter, war damals fünf Jahre alt. Am Tag, als Großmutter starb, saß sie auf dem Gehsteig und weinte. Nachbarskinder spielten um sie herum, und eines warf einen Stein, der Leda am Fuß verletzte. Der Fuß wurde geschwollen und entzündete sich. Mein Großvater, der inzwischen von seiner Reise zurückgekommen war, schickte die Kinder mit der Gouvernante auf die Insel Spetses, wo die Familie Häuser besaß. Leda schärfte er ein, wegen der Infektionsgefahr nicht im Meer zu schwimmen. Sie ging trotzdem baden, und die Infektion wurde schlimmer, so schlimm, dass man ihr schließlich den Unterschenkel amputieren musste.
Das Schicksal verteilt Gaben und Gräuel nicht gerecht, der eine kriegt ein Füllhorn voll von Gutem, der andere droht in einem Meer von Schlechtem zu ertrinken. Mein Großvater war ein gebrochener Mann, jeden Tag saß er am Grab seiner Frau. Neun Monate später starb auch er. Von den neun Kindern waren vier bereits im Kindesalter gestorben. Evgenia, die älteste Schwester meiner Mutter, war damals vierzehn Jahre alt, das war, als in Europa der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Damit die Geschwister nicht auseinandergerissen wurden, musste Evgenia heiraten. Aber letztlich konnte nur meine Mutter Leda bei ihr bleiben, ihr Bruder Silenos und die Schwester Helene kamen bei Nachbarn unter. Gala, die andere Schwester, musste ins Waisenhaus.
Evgenias Mann war ein übler Kerl, er machte all das, was der Herrgott verboten hat. Meine Mutter litt sehr: ohne Eltern aufwachsen, mit nur einem Bein . In der Schule wurde sie herumgeschubst, und der Beinstumpf verheilte nicht richtig. Evgenia und ihr Mann zwangen sie mit elf Jahren, eine Lehre als Schuhnäherin zu beginnen. Sie arbeitete von morgens bis abends - und das mit nur einem Bein. Um elf Uhr nachts kam sie jeweils nach Hause und musste noch den Abwasch machen. Jahre später wurde Evgenia schwer krank, in ihrem Bauch sammelte sich immer Wasser, das alle sechs Monate operativ entfernt werden musste. Genützt hats nichts, mit dreiunddreißig starb sie. Ihr »Super«-Mann verkaufte alles und verpulverte das ganze Geld mit Kartenspielen, Frauen, Drogen. Auch die zwei Geschwister, die bei den Nachbarn aufwuchsen, starben viel zu früh. Von den neun Kindern blieben also einzig meine Mutter Leda und ihre Schwester Gala übrig.
Mit zweiundzwanzig lernte meine Mutter während der Arbeit bei einem Schuhmacher meinen Vater kennen, auch er arbeitete dort. Mutter drängte auf eine Heirat, weil sie so schnell wie möglich aus dem Haus ihrer Schwester wegwollte. Evgenia, die zu jener Zeit noch lebte, riet ihr davon ab. Er sei kein Gelernter, er mache ja nur Gelegenheitsarbeiten. Selbst der Bruder meines Vaters sagte ihr: »Mein Bruder ist nichts zum Heiraten, er hatte mit achtzehn Jahren eine Hirnhautentzündung und ist manchmal ziemlich merkwürdig.«
Aber Mutter heiratete ihn trotzdem, sie sah das anders: Er arbeitete fleißig, er trank nicht, fluchte nicht, ging nicht mit anderen Frauen. Gewiss, manchmal erzählte er Unsinn. So sagte er einmal um Mitternacht: »Jetzt gehe ich auf den Friedhof.« Mutter antwortete: »Der Friedhof ist nachts geschlossen.« Er sagte: »Macht nichts, ich klettere einfach über die Mauer.« Oder wenn er etwas suchte, räumte er Schränke und Truhen leer. Einmal suchte er ein Taschentuch und brachte alle Wäsche, die Mutter sorgfältig gebügelt in eine Truhe weggeräumt hatte, durcheinander. Dann wurde sie manchmal wütend und schrie: »Geh fort!«, und er meinte, sie schicke ihn für immer weg. Mein Vater war selbstmordgefährdet. Er versuchte sich zweimal das Leben zu nehmen, aber Mutter rettete ihn: Das erste Mal griff er sich ein scharfes Spezialmesser, mit dem sie in der Schuhmacherei das Leder putzten, und lief weg. Doch meine Mutter holte ihn zurück. Das zweite Mal legte er sich auf die Bahnschienen, aber auch dort war sie rechtzeitig zur Stelle.
An meinen Vater erinnere ich mich kaum. Ich habe zwar sein Gesicht vor Augen, nicht von Fotos, sondern aus der Erinnerung. Er war ein hübscher Mann. Auch meine Mutter sah adrett aus. Als sie heirateten, war Vater dreiundzwanzig und Mutter zweiundzwanzig. Sie arbeitete zu Hause an ihren Nähmaschinen für die Schuhmacher, Vater hatte seine Gelegenheitsarbeiten. Das Geld reichte gerade knapp, um die kleine Familie durchzubringen. Und bei allen Unwägbarkeiten wegen Vaters Krankheit - ich glaube, sie hatten es miteinander zehn Jahre lang sehr gut.
Helena legte eine Pause ein, klaubte in der Plastiktüte zwischen den leeren Pistazienschalen nach einer noch ganzen Nuss und musterte mich.
»Willst du das wirklich alles hören? Ich meine, eine Rosamunde-Pilcher-Geschichte wird das nicht.«
Sie sagte das in einem Ton, als wolle sie sagen: Ich hab dich gewarnt, komm mir nachher nicht und jammere, das sei dir alles zu viel. Sie blickte kurz zur Sonne, dann auf ihre Uhr und sagte, ohne meine Antwort abzuwarten: »Na gut, eine Stunde kann ich noch bleiben. Dann muss ich nach Hause, meine Enkelin kommt zum Abendessen, ich muss noch einiges vorbereiten. Heute Morgen habe ich schon Zaziki gemacht, du weißt schon, Joghurt, Salatgurke, frischen gepressten Knoblauch, Olivenöl, und alles richtig gewürzt - wenn du das magst, bring ich dir morgen eine Schale voll mit. Ach ja, das Rezept für die Tiganites habe ich dir auch versprochen. Ich werde vergesslich .«
1935 heirateten meine Eltern. Mutter hatte keine Ahnung, was in ihrer ersten Nacht mit Vater geschehen sollte, und hatte furchtbare Angst, dass er ihr ein Loch in den Bauch machen würde. Sie war nie aufgeklärt worden. Deshalb ging Vater mit ihr zum Arzt, und der sagte ihr: »Du brauchst keine Angst zu haben, geh jetzt einfach mit deinem Mann nach Hause und mach, was er dir sagt.«
Zuerst lebten Vater und Mutter zusammen mit den beiden Schwestern des Vaters in einem großen Haus in Piräus. Doch Vaters jüngste Schwester wollte für ihre Familie auch den Hausteil haben, der eigentlich ihm gehörte. Viel später bekam ich als Ersatz dafür von Vaters Familie ein Stück unbebautes Land in Piräus. Ach! Das ist auch so eine verflixte Griechengeschichte - erzähl ich dir ein anderes Mal.
Mutter und Vater zogen also mit meinem Bruder und mir an einen anderen Ort, ganz in der Nähe. Mutter mietete ein Zimmer, kaum...
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