Viktor Pawlowitsch Obnorskij
I
Die Schulkameraden mochten Vitja Obnorskij wegen seines ungeselligen Charakters und seiner Verschlossenheit nicht.
Er war fünfzehn Jahre alt, als seine Mutter ihm sagte:
"Geh zu Iwan Nikititsch, er wird dir Ware geben."
"Was für Ware?"
"Frag nicht, was für Ware?" fuhr ihn die Mutter böse an. "Du hast nun genug in der Schule gelernt und könntest schon längst fertig sein. Jetzt sollst du endlich arbeiten, dich dem Handel widmen. Es wird sowieso Zeit, daß du dich auf eigene Füße stellst und selbst für dich zu sorgen beginnst."
Viktor nahm diese Veränderung wie ein Erwachsener auf. Es war ihm klar, daß die Mutter das Schulgeld nicht mehr bezahlen konnte und daß die Schule ihm nun verschlossen blieb. Dennoch machte er auch an diesem Tage seine Schulaufgaben und ging wie immer am Abend etwas spazieren.
Aber diesmal kehrte er später zurück als sonst. Die Mutter setzte ihm einen Becher Apfelmost vor und gab ihm eine Scheibe Brot.
"Warst du bei Iwan Nikititsch?" fragte sie.
"Zum Henker mit ihm!"
Da ließ sich die Mutter erschrocken auf einen Stuhl fallen.
Viktor aber aß bedächtig sein Brot weiter und trank den Most dazu. Als er mit dem Abendessen fertig war, sagte er:
"Ich brauche euern Iwan Nikititsch nicht, ich habe schon eine Stellung."
"Wo?" fragte die Mutter halb erfreut, halb besorgt.
"In den Bahnwerkstätten, als Schlosser."
Die Mutter war entrüstet.
"Du willst Schlosser werden? Damit schändest du das Andenken deines Vaters! Dein Vater war Unteroffizier, und nun willst du Handwerker werden!"
"Handwerker werden . . ."' wiederholte Vitja ihre letzten Worte. "Ich will nicht mit einem Kasten vor dem Bauch herumlaufen und mit Most handeln!"
"Ist denn das so schlimm, Vitenka? Wenn du Erfolg hast, kannst du ein großer Kaufmann werden."
"Ich will nicht in Wologda leben!" entgegnete Viktor heftig. "Ich lerne ein Handwerk und gehe nach Moskau."
"Und was willst du dort? Leiden die Handwerker etwa keinen Hunger?"
"Ich werde nicht hungern", entgegnete der Junge überzeugt. "Und ich werde auch nicht mit Apfelmost handeln. Pascha Reschetnikow ist auch aus der Schule fortgegangen."
"Ich weiß es."
"Weißt du aber auch, daß er in den Werkstätten schon fünf Rubel im Monat verdient?"
Die Mutter überlegte. Fünf Rubel waren zwar nicht viel Geld, aber es hatte keinen Zweck, sich mit dem Sohn zu streiten. Auf alles wußte er eine Antwort.
"Mach wie du willst", sagte sie düster. "Es ist ja dein Leben, für das du verantwortlich bist."
"Ich will es auch verantworten", erwiderte Viktor stolz.
II
Die Bahnwerkstätten hatten eine große Schlosserei, die von einem aus seiner Heimat verbannten Polen geleitet wurde. Konfederat Iwanowitsch war zwar ein strenger Chef, aber er behandelte den Knaben gut, weil er seinen Wissensdrang erkannt hatte, und weil Viktor stets sauber gekleidet war, nie fluchte und sich wie ein Erwachsener benahm.
Zu Anfang bekam Viktor nur die schlecht bezahlten Bohrarbeiten; aber er beschwerte sich nicht, führte die Aufträge gewissenhaft aus und brachte seinem Meister Vertrauen entgegen.
"Willst du eigentlich ein richtiger Schlosser werden oder nur die Zeit totschlagen, bis deine Mutter genug Geld beisammen hat?" fragte ihn eines Tages Konfederat Iwanowitsch.
"Ich will ein richtiger Schlosser werden", erwiderte Viktor aufrichtig, denn das Schlosserhandwerk interessierte ihn wirklich. Konfederat Iwanowitsch glaubte ihm und beschäftigte sich von nun ab mehr mit dem Knaben. Er zeigte ihm, wie man am Schraubstock arbeiten mußte, und wie man die einzelnen Werkzeuge am besten für die praktische Arbeit verwenden konnte. Sogar Zeichnen und Mathematik brachte er ihm bei, damit der Junge weiter kommen und etwas leisten konnte.
Und Viktor war ein aufmerksamer und dankbarer Schüler. Er übernahm vom Meister alle Geheimnisse seines Berufes und erlangte nach zwei Jahren eine solche Vollkommenheit, daß Konfederat Iwanowitsch staunen mußte und ihm manche Arbeit übertrug, an die er sich selbst nicht richtig heranwagte.
"Geh', Vitja", sagte er eines Tages zu Obnorskij, "sieh dir einmal den Schreibtisch bei Tscharodeiew an. Ich kann da nichts machen."
Viktor wurde mißtrauisch empfangen, denn was der Meister nicht konnte, das traute man dem Lehrling erst recht nicht zu. Aber der Kaufmann mußte verwundert zusehen, wie der bescheidene, blonde Bursche mit den ernsten Augen das komplizierte Schloß auseinandernahm und in wenigen Stunden wieder in Ordnung brachte. Von nun an hatte Viktor in Wologda den Ruf eines kunstfertigen Schlossers.
Wenn es im Winter kalt war, und der qualmende Ofen brannte, sangen die Arbeiter in der Werkstatt oft traurige und schwermütige Lieder. Viktor lauschte diesen Liedern und dachte an das schwere Leben und an die Not, aus der er und seine Kameraden nicht herauszukommen vermochten. Da blieb plötzlich der Meister eine ganze Woche von der Arbeit weg. Die einen sagten, daß der Alte sterben wird und die andern, daß er säuft. Viktor wollte aber Gewißheit haben und besuchte den Meister. Konfederat Iwanowitsch saß gerade am Tisch und las. Er freute sich über den Gast und bereitete ihm Tee.
"In der Werkstatt meint man, daß Sie krank sind", sagte Viktor verlegen.
"Nein, Vitja", lachte Iwanowitsch, "ich bin bei bester Gesundheit."
"Warum kommen Sie dann nicht in die Werkstatt?"
"Ich werde wieder einmal ausgewiesen, weil ich angeblich schon wieder zu lange in Wologda bin. Nun will ich nach dem Onega-See nach Powenez."
"Und wer weist Sie aus?" wunderte sich Vitja.
Der Alte stellte zwei Tassen auf den Tisch und schnitt Brot ab, aber er gab keine direkte Antwort.
"Du bist noch jung, Vitja", sagte er,."du weißt noch nicht, was rundum vor sich geht."
Viktor stutzte. In seinen braunen Augen flammten unruhige Fünkchen auf. "Was geht denn vor?"
"Schlechtes geht vor. Auf der Erde gibt es viel Reichtum, so viel, daß du und ich und alle Menschen gut leben könnten. Die Reichen bemächtigen sich aber des guten Lebens und halten es fest."
"Kann man es ihnen denn nicht entreißen?" fragte Viktor aufbrausend.
"Das kann man wohl, Viktor. Man muß es nur sehr stark wollen."
Die ganze Nacht verbrachte Viktor bei Konfederat Iwanowitsch. Er erfuhr, daß der Alte es versucht hatte, das gute Leben aus den zähen Klauen der Reichen zu entreißen. Er war nicht allein gewesen. Viele Arbeiter hatten mit ihm gekämpft, ihre Kräfte hatten jedoch nicht ausgereicht, um zu siegen.
"Wenn einmal das Arbeitervolk sich vereinigt, dann wird den Zaren und seine Krösusse nichts mehr retten", schloß Konfederat Iwanowitsch.
Seit dieser Zeit war Viktor ständiger Gast im Hause des Meisters. Sehr oft ging er mit seinem Freund Pascha Reschetnikow dorthin. Konfederat Iwanowitsch wußte viel: wie die Arbeiter in Europa kämpften, welche Parteien es gab, und wie man den Polizeispitzeln entgehen konnte. Viel gab es bei Konfederat Iwanowitsch zu lernen, und Reschetnikow versuchte auch das Gelernte auszuwerten. Er unterhielt sich mit den Kameraden in der Werkstatt und baute den ersten Zirkel auf: Viktor war zurückhaltend, beteiligte sich nicht an den Gesprächen und führte sich im Beisein Fremder so auf, als gingen ihn Reschetnikows Dinge garnichts an.
III
Konfederat Iwanowitsch wurde tatsächlich nach Powenez ausgewiesen. Man schrieb das Jahr 1869. Da wollte auch Viktor nicht länger in Wologda bleiben, er wollte Neues sehen und weiter kommen. Vor seiner Abreise sagte er zu Reschetnikow, daß er nach Rostow am Don fahre.
In Wirklichkeit fuhr er aber nach Petersburg.
In einer Munitionsfabrik, in der Viktor gleich in den ersten Tagen Arbeit fand, kam er mit den Zirkelleuten zusammen. Er war belesener als viele erfahrene Agitatoren. Den Studenten, die die Zirkel leiteten, fiel der befähigte Arbeiter sogleich auf. Sie wollten ihm die Leitung eines Zirkels aus acht Mann übertragen, doch Viktor lehnte ab.
"Ich will es nicht in meiner Fabrik tun", erklärte er den Studenten. "Lieber irgendwo anders, wo man mich nicht kennt."
Den Studenten leuchtete dieses Argument ein; sie meinten, aus ihm werde einmal ein guter Verschwörer werden.
Nur mit einem Arbeiter freundete sich Viktor näher an - mit dem Gießer Nikolai Reinstein, einem schwerfälligen Mann, mit sauber geschnittenem runden Bärtchen. Um ihn häufiger zu treffen, nahm Obnorskij Anfang 1872 in der Nobel-Fabrik Arbeit. Reinstein gefiel Obnorskij durch seine Bedächtigkeit und dadurch, daß er ständig im Hintergrunde blieb, obgleich er drei Zirkel leitete.
In Arbeiterkreisen machte sich Enttäuschung über die Lehren der Narodniki bemerkbar, wenngleich diese auch emsig tätig waren. Die einen agitierten in den Bezirken der Arbeiterwohnungen, andere gingen in die Fabriken und Werke.
Tschaikowzy, Buntari, Bakuninleute, Lawrowleute - das waren nicht nur Benennungen von Zirkeln der Narodniki. Diese Benennungen unterstrichen auch verschiedene Gedankenrichtungen. Aber die feinen Unterschiede waren so schwer zu erfassen, daß selbst die Narodniki sich nicht zurecht fanden. Immerhin versuchten alle Zirkel die Arbeiter aufzuklären.
Aber die überwiegende Mehrzahl der Narodniki tat das nur deshalb, um aus den Arbeitern geschulte Propagandisten für ihre Dorfgemeinschaftspläne auszubilden. Der pädagogische Eifer solcher Narodniki richtete sich darauf, ihre Hörer von Marx abzulenken,...