2. Kopenhagen - Göteborg
Ich könnte früh am Morgen aufstehen, um etwas arbeiten zu gehen, um Pfand aufzulesen, den es hier mit Sicherheit zuhauf gibt. Doch ich mag nicht, ignoriere den 5-Uhr-Wecker und schlafe lieber noch etwas weiter oder auch anders ausgedrückt: verkrieche mich vor den vielen Mücken, die wie in der vorherigen Nacht mich malträtieren.
Zwei Stunden später spaziere ich zurück in das Herz von Christianshavn und habe noch etwas Zeit bis SuperBrugsen öffnet, um mit meinem bisschen Pfand etwas Geld zu machen. Ein paar Leute steigen runter zur Metrohaltestelle. Ich schreibe Tagebuch. Wenig später habe ich weitere 14 Kronen in der Tasche, was meinen Gesamtverdienst auf umgerechnet etwa 5 Euro erhöht. Die neuen Einnahmen decken die Kosten für Brot und Leberpastete, womit ich erst einmal gut durchkommen sollte. 30,50 Kronen bleiben noch, was auch bedeutet, dass ich dann irgendwann doch noch etwas arbeiten muss, um mir die Fähre nach Schweden leisten zu können. Aber keine Eile, die Fahrt ist erst in zwei Tagen geplant.
Auf dem Søren Kierkegaards Plads warte ich darauf, dass die Bibliothek öffnet. Wieder überbrücke ich die Zeit mit Tagebuch. Dazu gibt es zum Frühstück ein paar Scheiben Brot mit Leberpastete. Das Radio läuft, es kommt Klassik, es ist ein sehr, wirklich sehr gemächlicher Dienstagmorgen in Kopenhagen, mit angenehmen milden Temperaturen. Außer mir sitzt hier niemand auf dem Platz und auch noch kein Tourist hat sich bisher gezeigt. Ich rauche meine letzte Zigarette, putze danach Zähne und salonfähig geht es hinein in die große Bibliothek.
Über Nyhavn und der Grünanlage Amaliehaven (mit dem Schloss Amalienborg nebenan) und der Aussicht auf die Operaen (auf einer Insel) geht es weiter, schließlich mitten durch das Kastell von Kopenhagen hindurch und zurück auf die Uferpromenade. Den Lille Havfrue empfängt mich in der Mittagssonne. Die kleine Meerjungfrau sitzt schüchtern am Ufer. Warum auch immer schaut sie zu uns aufs Land, zu den vielen Erwachsenen und Kindern, statt raus aufs Wasser. Ansonsten hat sie es recht schön hier, wenn da nicht die vielen Touristen und Fotografen wären. Sie schaut etwas traurig, gleichzeitig zeigt sie sich selbstbewusst und hat sich ihrer Kleider in dieser Sommerhitze entledigt. Sie kann es sich erlauben, sie ist hübsch. Ich dagegen lass die Klamotten an mir und halte sie dort für ganz gut aufgehoben, auch wenn ich möglicherweise als splitternackter Mann ihr hier ein wenig die Show stehlen würde. Sie tut mir etwas leid, denn als Wahrzeichen der Stadt, das sie selbst nie sein wollte, wurde sie schon das ein oder andere Mal tätlich angegriffen. Doch auch zwei Enthauptungen, eine Armamputation sowie Sprengstoff- und Farbbombenanschläge hat sie überlebt. Merkwürdigerweise sieht sie dafür noch immer recht gut aus, doch leider würdigt sie mich mit keinem Blick. Dabei bilde ich mir ein, dass wir beide einsam und füreinander geschaffen sind. Ein Irrtum. Ich gehe. Ohne Selfie.
Es fällt mir arg schwer, in dieser Mittagshitze zu laufen, doch noch schwerer fällt mir die Aussicht, dass ich nichts mehr zum Naschen oder Rauchen für meine Pausen zwischendurch habe. Von den übriggebliebenen 30 Kronen habe ich 19 in eine Briefmarke für eine Postkarte investiert. Mir schien das wichtiger zu sein als ein Stück Schokolade. Das muss man nicht unbedingt verstehen. Trotzdem kehrt die Freude nach dem Mittagsloch schnell wieder zurück, genauer am Fährhafen, wo ich vor dem Terminal auf eine Goldgrube stoße: in einer Mülltonne finde ich eine halbe Tüte mit Pfanddosen, ein kleines Vermögen . und nun bin ich auf den Geschmack gekommen, gehe von Mülleimer zu Mülleimer und werde fast überall fündig, das ist der erste Ort in Kopenhagen, wo keine Pfandsammler vorbeikommen, keine Profis, nur ich, der die Gunst der Stunde nutzt. Nach nur wenigen Minuten habe ich zwei volle Netto-Einkaufstüten zusammengesammelt, die ich fürs Erste an meinen Rucksack hänge, was erstaunlicherweise gut funktioniert, auch wenn es möglicherweise etwas dämlich aussieht. Es ist die Stunde, in der ich endlich alle Hemmungen verliere und mich nicht mehr davor scheue, in Mülltonnen nach Gold zu scharren, wovor ich bis zu diesem Moment doch immer noch etwas Scham empfunden habe, Scham dass mich dabei jemand sehen könnte. Doch hier, wo die Fähre vor meinen Augen nach Oslo aufbricht, ist alles egal, und ich vergesse daran zu denken was andere denken könnten. Das ist vermutlich die letzte Hürde auf dem Weg zur Freiheit . oder zum Penner. Nach nur einer halben Stunde "Arbeit" habe ich einen ganzen Monatsverdienst zusammen, zumindest gefühlt, gefühlt für einen, der weniger Vermögen in seiner Geldbörse hat, als was sich da in zwei Plastiktüten befindet. Ich verlasse die dänische Hauptstadt weiter nordwärts, bin bereits in den ersten Vorstadtsiedlungen angekommen und halte Ausschau nach dem nächsten Supermarkt, um mir meine Beute abzuholen (und um die klimpernden Tüten loszuwerden). Ich fühle mich dreckig, auch weil ich jetzt noch mehr ins Schwitzen geraten bin als schon zuvor. Meine Hände sind schmutzig, müffeln, auch mein abgetragenes Shirt wurde beim Pfandauflesen eingesaut, aber darüber mache ich mir keine Gedanken, denn Geld und Reichtum sind meistens mit etwas Gestank verbunden.
Hinter dem Fährhafen reihen sich die vielen Jachthäfen aneinander, die Statussymbole der Reichen, beobachtet von den Sonnenanbetern auf dem Pier . Kalkbrænderihavnen . Svanemøllehavnen . Tuborg Havn . Hellerup Havn . ich wüsste zwar nicht was ich mit einer Jacht anfangen sollte, aber vermutlich würde ich auch eine besitzen, wenn ich Millionär wäre. Vom Jachthafen aus blickt man rüber zur schwedischen Küste, es gefällt mir hier, inmitten all des Reichtums. Doch die Leute hier scheinen locker drauf zu sein, viele Männer sind mit freien Oberkörpern zu Fuß oder auf Fahrrädern unterwegs. Ich zähle kurz durch und finde bei über 50 Prozent der Männer mindestens ein Tattoo am Oberkörper. Die Dänen scheinen darauf abzufahren. Im Netto sind die Leute angezogen, zumindest halbwegs und ich werde zumindest die Hälfte meines Pfands los (28,50 Kronen), nicht so die andere Hälfte Dosen und Flaschen, die aus Norwegen stammt und mit der Fähre eingeschleppt wurde. Dafür bekomme ich nichts, trotzdem bin ich zufrieden mit meiner Ausbeute. Ich stehe vor der Entscheidung ob ich das Geld gegen eine Schachtel Kippen oder gegen eine Packung mit acht Hörncheneis eintausche. Der Heißhunger siegt und ich nehme das Eis, was ich selbstredend eine Stunde später schon bereue. Die kalte Zwischenmahlzeit gibt es am Ende eines Hafenkanalbeckens, auf ein paar schattigen Stufen, in angenehmer Gesellschaft eines Schwanenpärchens, deren beiden Jungtiere gierig auf mein Eis starren. Es ist eine gute Erfrischung, auch wenn ich für einen kurzen Moment vor mir selbst erschrecke, da ich das Eis mit den gleichen, ungewaschenen Händen esse, die wenige Minuten zuvor noch die Mülleimer durchstöberten. Das ist . ja das ist dir hier draußen wirklich völlig Banane . du nimmst immer mehr Züge eines wilden Tiers an oder vielmehr lebst du das wahre Naturell des Menschen und vergisst einen Großteil all der Manieren, die man dir von frühester Kindheit an beigebracht hat. Die Schokolade vom Eis tropft mir auf das Shirt und das stört mich mehr als die schmutzigen, klebrigen Hände. Doch Adele bringt die gute Stimmung zurück und singt für mich Someone like you. Sie hat natürlich recht, sie ist eine junge, weise Frau. Auch wenn ich auf sie und das Eis nun verzichten könnte, wenn ich stattdessen mich lieber für die Kippen entschieden hätte. Am Tuborghafen steht übrigens die gleichnamige Brauerei. Ich bekomme Durst. Es fällt schwer an einer Brauerei vorbeizugehen und nicht an Bier zu denken.
Die ersten Strände tauchen auf, im Charlottenlund Strandpark versammeln sich vor allem junge Leute und erstaunlicherweise darunter praktisch keine übergewichtigen Menschen. Die Männer gut durchtrainiert, die Frauen ebenso, wenn auch auf andere Weise, weiblicher, attraktiver. Auch wenn ich es mir selbst nicht gern eingestehe, aber bei so viel nackter Haut um mich herum, spielt sich in meinem Kopf ein Ranking ab: die dänischen Frauen sind prozentual gesehen die bisher Attraktivsten dieser Reise, so sehr ich auch den spanischen, südländischen Typ mag. Und nun kann ich auch sehen, dass hier noch mehr Frauen als Männer tätowiert sind. Es steht ihnen. Im nächsten Moment muss ich aber auch etwas schmunzeln, umgeben von über eintausend jungen, attraktiven Körpern, umgeben von einer sexuell stark aufgeladenen Atmosphäre, stehe und wandle ich, der einzige ungepflegte Mensch weit und breit, nicht älter als sie, aber doch trennen uns ganze Erdteile oder gar Planeten. Und schon wieder fühle ich mich ein wenig wie Grenouille, nur dass sich niemand auf mich stürzt und ich völlig unsichtbar zu sein scheine, als ginge ich mitten durch eine Horde sich (zumindest körperlich) liebender Menschen, die durch nichts aufgeschreckt werden, weder dass neben, vor oder hinter ihnen der Akt auf ähnliche Art und Weise vollführt wird, noch dass ich mitten durch sie hindurch, über sie hinweg, unter sie hindurchkrieche, mit meinen schmutzigen, verrunzelten Gnomhänden und einem heimtückischen Lächeln unter der blutigen, roten Nase. Doch ich halte mich hier nicht lange auf, verziehe mich, bevor mich jemand sieht, in den nächsten Wald hinein, wo ich offensichtlich viel eher hineinpasse als in einen dänischen Strandpark. Auf einem Wanderweg erreiche ich in dem großflächigen Waldgebiet Jægersborg hegn (bei Skodsborg) einen Shelterplatz an einem kleinen, idyllischen See. Keine Häuser, nur ein paar wenige...