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Ich bin ein Arschloch. Ich weiß das aus allererster Hand. Mein Vater hat es mir gesagt. Der soll ruhig wissen, hat er zu seiner Frau, meiner Mutter gesagt, dass er ein Arschloch ist. Er hat auf meiner Couch gesessen, in meinem Wohnzimmer, neben meiner Frau. Er hat mich angeschaut, als hätte er bloß festgestellt, dass das Wetter auch schon mal besser war. Er hat nicht gelächelt, er hat sich nicht entschuldigt, er hat nichts weiter gesagt. Ich habe auch nichts gesagt. Ich habe gedacht: Ja, du auch.
Dann hab ich noch einen Schluck Weißwein genommen. Von demselben Weißwein, von dem mein Vater ein paar Schlucke zu viel genommen hat. Der Weißwein stammt von ihm, einmal im Jahr, kurz vor Weihnachten, kommt eine Direktlieferung vom Lieblingswinzer meines Vaters. Jetzt aber ist es Spätsommer, meine Eltern sind zu Besuch. Sie sind 400 Kilometer mit dem Auto gefahren, sie haben Leckereien mitgebracht, sie haben Gastgeschenke verteilt, dann haben sie sich zum Abendessen hingesetzt, und mein Vater hat das erste Glas Wein getrunken. Nach dem Essen sind alle auf die Couch umgezogen, um weiter Wein zu trinken. Irgendwann war die erste Flasche leer, und ich habe eine zweite aus dem Keller geholt. Als die zweite Flasche leer war, hat mein Vater gesagt, ich soll noch eine dritte holen.
Also bin ich in den Keller gegangen, und dort im Keller war ein Moment Zeit, um nachzudenken. Es war kühl, und es war ruhig, und ich wusste, dass nun bald der kritische Pegel erreicht sein würde, bei dem mein Vater nicht mehr kühl und ruhig sein würde. Dass bald der Augenblick kommen musste, in dem ihn das Gefühl übermannen würde, nicht laut, aber sehr selbstgewiss ein paar Wahrheiten verkünden zu müssen.
Ich wusste noch nicht genau, welche Wahrheiten. Ob eine über Menschen mit einer anderen Hautfarbe als er, ob eine über die Juden, ob über gierige Banker oder grüne Politiker oder irgendwelche andere Idioten aus einer Welt, in der alle Idioten waren außer meinem Vater. Vielleicht würde er auch eine Wahrheit verkünden über jemanden, den ich gut kannte, vielleicht eine über mich. Ich wusste nicht, was kommen würde. Aber ich wusste nur zu gut, dass etwas kommen würde. Ich wusste auch, ich würde es nicht verhindern können.
Trotzdem wusste ich, was zu tun war. Ich besitze Erfahrung aus unzähligen Scharmützeln und Schlachten. Ich bin ein Veteran des Krieges zwischen mir und meinem Vater.
Im Keller pustete ich den Staub von der Weinflasche und nahm mir vor, das zu tun, was ich immer tat, wenn der Waffenstillstand gebrochen zu werden drohte: ignorieren und den Abend möglichst schnell beenden.
Denn so schnell wird aus dem kalten Krieg gewöhnlich kein heißer mehr. Nicht mehr. Nach all den Jahren, all den offenen Feldschlachten, den demütigenden Niederlagen und den demoralisierenden Pyrrhussiegen sind die Kombattanten müde. Ab und an startet Nordkorea mal wieder eine Testrakete, der Süden reagiert mit einem halbherzigen Manöver oder schickt die Diplomaten in die Spur. Eines ist klar: Diese Teilung wird niemals überwunden werden, aber trotzdem bleiben die beiden Länder auf ewig miteinander verbunden, auf ewig dazu verdammt, immer mal wieder einen Abend zusammengepfercht auf einer Couch zu verbringen.
Zurück auf der Couch aber versagte die bewährte Strategie. An diesem Abend brach an der schwerbewachten Grenze wieder einmal eines der selten gewordenen Gefechte aus. Die dritte Flasche war geleert, die Hemmungen gefallen, die Munition lag bereit. Diesmal waren die Enkeltöchter dran. Mein Vater meinte, meine große Tochter, seine Enkelin, solle sich doch gefälligst regelmäßiger bei ihm telefonisch melden. Die Enkelin war nicht da, sie besitzt längst ein eigenes Leben in einer anderen Stadt, also verteidigte ich meine Tochter. Wie alle in diesem Alter sei sie halt nicht allzu verlässlich, sagte ich, auch bei uns, ihren Eltern, würde sie sich nur selten melden. Was alte Säcke wie wir so treiben, sagte ich, das würde sie im Moment eher weniger interessieren. Ansonsten sei sie doch ein wundervolles, wohlgeratenes Mädchen, das gerade beginne auf eigenen Beinen zu stehen.
Doch mein Vater wollte das nicht hören. Er wollte überhaupt nichts hören, zuhören war noch nie seine Stärke. Mein Vater wollte bloß etwas loswerden, denn poltern und meckern und andere zurechtweisen, das sind seine großen Stärken.
Anrufen solle die Enkeltochter, sagte mein Vater, und die Stimme schleifte schon ein wenig vom Alkohol, mindestens einmal wöchentlich solle sie anrufen, alles andere interessiere ihn nicht. Was er denn mit ihr zu besprechen habe, wollte ich wissen. Nichts, sagte mein Vater, aber sie solle sich gefälligst melden. Ich sagte, dann solle er sich doch bei ihr melden, wenn er etwas mit ihr zu besprechen habe, was immer das auch sei. Das war der Moment, in dem ich zum Arschloch wurde.
Nicht, dass mich das überrascht hätte. Es war ja nicht das erste Mal.
Ein Arschloch genannt zu werden, das ist zwar nicht gerade Alltag, aber es kommt doch immer wieder vor. Mein Vater hält mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Wird er doch noch mal sagen dürfen. Nur seine Meinung. Und da mein Vater auch der Meinung ist, dass er immer recht hat, gibt es auch keinen Anlass, sich für irgendetwas zu entschuldigen.
Deswegen verletzt es mich schon lange nicht mehr, ein Arschloch genannt zu werden. Ich bin es ja gewohnt. Und außerdem, das habe ich im Laufe der Jahrzehnte gelernt, bin ich in ausnehmend guter Gesellschaft. Denn die Welt meines Vaters ist bevölkert von Arschlöchern und Idioten. Die Kollegen, die er hatte, bevor er Rentner wurde. Die Freunde, die er seltsamerweise immer noch hat. Politiker sowieso, Künstler, Sportler und Manager, die im Fernsehen generell, und überhaupt die da oben, aber auch die, die gerade im Weg rumstehen, die, die ihre Millionen nicht verdienen, und die, die arm sind, weil sie es nicht besser verdienen. Alles Arschlöcher.
Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater mal über jemanden gesagt hätte: Das ist ein toller Typ. Den kann ich gut leiden. Der ist interessant, schlau oder wenigstens nicht ganz verkehrt. Mehr als friedliche Koexistenz scheint ihm grundsätzlich verdächtig. Jemand, der ihm ein gutes Essen hinstellt, wird dafür nicht gelobt. Über Künstler sagt er, das könne er auch. Ins Theater geht er nicht, weil, was soll er denn da. In der Oper, in die er gehen muss, weil seine Frau da hinwill, schläft er ein. Schwarze sind faul, Juden sind geldgierig, Flüchtlinge wollen nur sein Geld.
Solch ein Weltbild macht auch vor der engsten Verwandtschaft nicht halt. Die eigene Frau hält er für unterbelichtet. Die eigenen Enkelkinder sind ihm zu fett und zu undankbar. Den einen Sohn findet er faul und dumm. Und der andere Sohn, also ich, erhält den Ritterschlag: Der ist ein Arschloch.
Ich bin es also gewohnt. An diesem Abend allerdings traf der altbekannte Vorwurf wieder ins Ziel. Vielleicht weil ich ihn schon länger nicht mehr gehört hatte, vielleicht weil der Wein mich dünnhäutiger gemacht hatte. Also stand das Arschloch auf von der Couch und ging erst einmal raus aus dem Wohnzimmer, raus aus der Situation. Sonst sagt das Arschloch noch etwas, was es später bereuen würde. Was womöglich beweisen könnte, dass das Arschloch tatsächlich ein Arschloch ist.
Ich öffnete die Haustür, trat hinaus, schloss die Tür und setzte mich auf die Stufen. Einen kurzen Moment dachte ich, vielleicht sollte ich wieder mit dem Rauchen anfangen. Jetzt eine Zigarette, das wäre schön. Was anderes zu tun haben. Nicht nachdenken müssen. Dem Rauch nachsehen, die Wärme in der Lunge spüren. Aber nach der einen Zigarette wäre ich ein gewesener Exraucher und mein Vater trotzdem immer noch da.
Ich sah hinaus ins Dunkel. Hinterm Haus standen die Bäume still. Am liebsten wäre ich davongerannt. So lange um den Block gelaufen, bis mein Vater weg war. Aber er wäre nicht weg, wenn ich zurückkäme, er würde immer noch auf der Couch sitzen. Und wenn er nicht mehr auf der Couch säße, wenn er heimgefahren wäre in das Kaff, das auch ich einmal mein Zuhause genannt habe, auch dann wäre er nicht wirklich weg. Mein Vater wird immer bei mir sein, ob ich will oder nicht. Doch, so eine Zigarette wäre jetzt schön.
So als Arschloch fragt man sich natürlich: Muss das sein? Warum tut man sich das noch an? Könnte man so einen Vater nicht einfach zum Teufel jagen? Geht das überhaupt: Kann man sich nicht scheiden lassen von seinen Eltern?
Es sind Fragen, die ich mir schon lange stelle. Sehr lange.
Nicht, dass mein Vater sich selbst großartig finden würde. Ich weiß nicht, wie mein Vater sich selbst findet. Vielleicht hält er sich insgeheim auch für ein Arschloch. Dass er sich selbst hasst, das würde immerhin erklären, warum er den Rest der Welt so hasst. Warum er andere erniedrigen muss, um sich selbst zu erhöhen. Warum mein Vater so ist, wie er ist.
Das Licht über der Haustür ging aus. Solange ich mich nicht rührte und den Bewegungsmelder auslöste, würde es auch nicht wieder angehen. Ich saß im Dunkeln, keiner konnte mich sehen, ich hoffte zu verschwinden und fragte mich: Warum tut man sich das an? Warum verbringt man Zeit mit Menschen, die man am liebsten von hinten sieht? Kann man seine Eltern nicht abschaffen? Dem eigenen Erzeuger kündigen? Die Gefühle, die guten und die schlechten, einfach entsorgen? Endlich Auf Nimmerwiedersehen sagen?
Die Luft war feucht, es hatte geregnet an diesem Abend. Ich wollte nicht wieder zurück. Ich wusste, ich muss. Dieser Mann ist mein Vater. Aber ist er mein Vater? Was ist ein Vater? Ich bin ein Vater. Ich weiß, wie das geht. Ich weiß, mein Vater weiß es nicht.
Ich wusste, ich muss da wieder rein. Ich...
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