Schweitzer Fachinformationen
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Die moderne Gesellschaft lädt Laien in vielen Bereichen zum Mitmachen ein. Als Wähler, Konsumentin, Mediennutzer, Patientin oder Studierender darf und soll man Expertinnen und Experten mit Wünschen, Sorgen oder Beschwerden konfrontieren. Aber um mit diesen auf Augenhöhe zu kommunizieren, scheinen sich Laien auch engagieren und informieren, ja selbst ein stückweit zu Experten werden zu müssen. Fran Osrecki stellt solche Annahmen in seinem Buch auf den Kopf: Laien sind in der modernen Gesellschaft dann stark, wenn sie uninformiert, sprunghaft, inkonsistent und unberechenbar agieren. Das Nichtwissen ist ihre wichtigste Ressource. Laien bilden ein unbekanntes Publikum und spielen gerade als solches eine wichtige Rolle in unserer funktional differenzierten Gegenwartsgesellschaft.
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Ich beginne mit einer sehr allgemeinen Feststellung: Menschen in der modernen Gesellschaft sind sehr oft Laien und sehr selten Spezialisten. Man ist in der Regel Spezialist für einen kleinen Ausschnitt an Tätigkeiten und in allen anderen Belangen ist man Laie, Amateur, Dilettant oder, in einer etwas aus der Mode gekommenen Diktion, »Alltagsmensch«. Insofern handelt es sich bei Laienrollen[1] um, soziologisch gesprochen, sozial sehr inklusive Rollenzusammenhänge, die im Grunde allen Gesellschaftsmitgliedern offenstehen. Deutlich wird dies im Vergleich mit verberuflichten Rollen. So ist zum Beispiel die Ausübung von Professionen (Ärztinnen, Juristen, Ingenieure usw.) an formale Bildungsabschlüsse gebunden, rechtlich streng reguliert und durch eine Vielzahl anderer institutioneller Hürden nur ausgewählten Personengruppen exklusiv zugänglich. Und auch weniger »exklusive« Berufe sind zumindest in der Hinsicht ausschließend, dass die meisten Personen in der Regel nur einem oder, im Gesamtverlauf ihres Lebens, nur einigen wenigen Berufen nachgehen und also alle anderen möglichen Berufe nie ergreifen. Hingegen waren die meisten Personen in der modernen Gesellschaft, unabhängig von sonstigen sozialen Merkmalen, zumindest einmal in ihrem Leben Wählerin, Konsumentin, Schülerin, Zuschauerin, Klientin oder Patientin.[2] Für das Einnehmen dieser Rollen sind kaum formale Hürden vorhanden, sehr viele dieser Rollen können von derselben Person, bisweilen sogar gleichzeitig, eingenommen werden und manche von ihnen sind, wie die Rolle der Konsumentin, sogar mehrmals täglich problemlos ausführbar.
An dieser rein kursorischen Auflistung ist ferner abzulesen, dass es für sehr viele Bereiche in der modernen Gesellschaft Laienrollen gibt. Die Laienrolle ist also auch sachlich stark generalisiert, kommt also in sehr vielen unterschiedlichen Kontexten vor. Es verhält sich 17nicht etwa so, dass es einige wenige Bereiche der Gesellschaft gibt, in denen Laienrollen vorhanden sind, während in vielen anderen ausschließlich Spezialisten das Sagen haben. Die ältere Begriffsverwendung, in der mit »Laie« im Grunde immer der religiöse Laie im Unterschied zum Kleriker gemeint war, ist in diesem Sinne zu interpretieren als Sinnartefakt aus einer Zeit, als die Laienrolle tatsächlich lediglich im Religionssystem ausdifferenziert und institutionalisiert war und in anderen Teilen der Gesellschaft (zum Beispiel in der Politik oder der Kunst) gar keine Entsprechung hatte, da es sich um Tätigkeiten handelte, für die kundige Oberschichten alleine zuständig waren. Für eine ähnliche Konstellation, in der ausschließlich »Eingeweihte« untereinander kommunizieren, gibt es mittlerweile nur noch einen Fall, nämlich die modernen Wissenschaften, auf die ich später zurückkommen werde.
Auch gibt es lediglich einen Fall sozialer Systeme, nämlich Intimbeziehungen wie zum Beispiel familiäre oder Liebesbeziehungen, wo es nicht gelungen ist, systemintern Spezialistenrollen langfristig zu etablieren und trennscharf von Laienrollen zu unterscheiden. Hier gibt es gar keine Spezialisten im engeren Sinne und dementsprechend keine verberuflichten Rollen. Zwar gibt es Spezialisten für die Probleme dieser sozialen Systeme, man denke hier zum Beispiel an Familien- oder Paartherapeuten. Aber gerade die moderne, auf Egalität gebaute Semantik der Intimbeziehungen erlaubt es nicht, etwa Frauen, einfach nur weil sie Frauen sind, als aktive und verantwortungsvolle Spezialistinnen für Familienangelegenheiten oder Sexualität in die Pflicht zu nehmen und Männer, bloß weil sie Männer sind, als legitimerweise passive und tendenziell desinteressierte Laien in diesen Belangen zu behandeln. Eine solche Rollenaufteilung ist faktisch möglich und auch sehr oft beobachtbar, verlangt aber nach Legitimationsstrategien; man(n) muss sich dafür gute Ausreden einfallen lassen, zum Beispiel die bei sehr vielen Männern beliebte, dass man durch die eigene berufliche Tätigkeit, von der das finanzielle Überleben der Familie abhänge, zu sehr vereinnahmt sei. Dass aktive und passive Parts, also Fordern und Folgen, innerhalb solcher Sozialsysteme nichtsdestotrotz allen Mitgliedern gleichzeitig aufgebürdet werden und somit alle Beteiligten (auch Kinder!)[3] 18als Spezialisten und Laien fungieren können und müssen, macht diesen Komplex ebenfalls zu einem interessanten Sonderfall.
Gerade an solchen Sonderfällen zeigt sich nun, dass die Rolle des Laien weitaus mehr beinhaltet, als bloß »kein Spezialist« zu sein oder »keine Ahnung« zu haben. In diesem Minimalverständnis wären Laien einfach »leere Gefäße«, sie wären all das, was Spezialisten nicht sind. Ihre Rolle wäre eine Nicht-Rolle, ohne inhaltliche oder strukturelle Bestimmung und somit soziologisch irrelevant. Es wird sich im Laufe der vorliegenden Untersuchung jedoch zeigen, dass überall dort, wo Laien und Spezialisten in der modernen Gesellschaft aufeinandertreffen, Laien sehr spezielle Teilnahmechancen, -rechte und -pflichten haben, die vergleichbar sind und strukturelle Ähnlichkeiten besitzen.
Stellt man nun unterschiedliche Laienrollen nebeneinander, fällt neben der sozialen Inklusivität und der sachlichen Generalisierbarkeit auch die große Vielfalt zeitlicher Arrangements auf, in die Laienrollen eingewebt sind. Dies merkt man bereits an der Breite des Alltagsbegriffs des Laien, der Tätigkeiten zeitlich sehr unterschiedlicher Intensitätsgrade umfasst: das zeitweilige Beobachten (passive Mediennutzung), die unregelmäßige Interaktion mit Professionellen (Arztbesuche), das regelmäßige Aktivwerden (Stimmabgabe bei politischen Wahlen), das interessierte und auf Dauer gestellte Engagement informeller Gruppen oder Einzelpersonen (Sammler, Enthusiasten, Connaisseurs) sowie Fälle formal organisierter Betätigung in Sportvereinen, politischen Parteien und sozialen Bewegungen, Religionsgemeinschaften, Interessenvertretungen, Gewerkschaften, Selbsthilfegruppen oder Konsumgenossenschaften.
Es ist gerade diese Ubiquität und diese extrem große Bandbreite an mit der Laienrolle assoziierbaren Tätigkeiten, welche die Herausbildung einer eigenständigen Soziologie der Laien bislang verhindert haben. Laien sind überall in der Gesellschaft sichtbar, aber als Rolle nirgends in der Soziologie verankert. Deutlich ist hier insbesondere der Kontrast zur Soziologie der Professionen, die eine lange, mindestens bis auf Talcott Parsons zurückgehende Geschichte aufweist und über Konzepte verfügt, die eigens in 19dieser Spezialsoziologie entstanden sind und sie als eigenständige Subdisziplin konstituieren. In Anlehnung daran ist immer wieder die Etablierung einer Spezialsoziologie des Laien beziehungsweise des Amateurs oder des nichtspezialisierten Publikums gefordert worden (Karstein und Zahner 2014). Dazu ist es bislang noch nicht gekommen und in der Regel sind Laien noch immer ein Spezialthema innerhalb bereits etablierter Bindestrichsoziologien. So gibt es innerhalb der Wirtschaftssoziologie neben anderen Themen auch eine Soziologie der Konsumenten (Hellmann 2013; Ritzer und Jurgenson 2010; Volkmann 2010); innerhalb der Kunstsoziologie auch eine Soziologie der Museumsbesucherinnen (Hanquinet 2013), innerhalb der Medizinsoziologie eine Soziologie der Patienten (Goffman 1961; Marent, Forster, und Nowak 2015; Parsons 1975), innerhalb der politischen Soziologie eine Soziologie der Wählerinnen (Inglehart 1977; Lazarsfeld, Berelson, und Gaudet 1944) oder innerhalb der Militärsoziologie soziologische Untersuchungen über Wehrpflichtige (Treiber 1973).
Der Laiensoziologie ist eine Ausdifferenzierung aus diesen Feldern nicht gelungen, weil Laien als soziales System schlicht zu schwer abgrenzbar sind. Laienrollen bilden also nicht insgesamt, und oft nicht einmal für sich genommen (»die« Konsumentinnen), abgrenzbare und aufeinander bezogene Kommunikationszusammenhänge. Auch hier ist der Vergleich zu Professionen instruktiv. Professionelle Berufsgruppen sind nicht nur analytische Konstrukte, die an soziologischen Schreibtischen ersonnen wurden. Vielmehr verstehen sie sich selbst als in irgendeinem Sinne »besondere« Berufe: als kognitiv besonders voraussetzungsvoll, verantwortungsvoll, selbstregulierend, exklusiv, kollegial, gemeinwohlorientiert und vieles mehr. Nicht alle Aspekte dieser Selbstbeschreibungen...
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