Schweitzer Fachinformationen
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Eins
Nicht Nacht, nicht Tag; nicht dunkel, nicht hell. Mit schwarzen Konturen und grauen Bäuchen wölbten sich ein paar Regenwolken über dem Währinger Schubertpark, im Laternenlicht tanzten Blätter und Zweige als Schatten. Aber das interessierte Gradoneg nicht, Matthias Frerk Gradoneg. Naturerscheinungen waren ihm wurscht, erst recht das Wetter. Bücher, die so begannen, klappte er rasch wieder zu. Stellte sie verkehrt ins Regal. Aus Protest gegen solch ein romantisches Wald-und-Wiesen-Geschwafel, als Warnung für andere Naturmuffel. Und an diesem Freitag, dem 30. Juni 2017, kurz vor vier Uhr morgens, hätte sogar der Mond vom Himmel fallen und durch den Schubertpark rollen können; die Drehgiraffe auf dem Spielplatz hätte nach Gradoneg ausschlagen können, das abgeblätterte Holzkrokodil sich auf ihn stürzen oder die Parkwege zu Pythons erwachen - sein Blick und vor allem seine Gedanken wären nicht von der Babyschaukel gewichen.
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Tote hatte Gradoneg schon öfters gesehen. Mutmaßlich Verstorbene. Tote, deren Tod noch nicht amtlich bescheinigt war. Leichen, denen der offizielle Stempel fehlte. Die Arschkarte ziehen, hieß das damals beim Zivildienst. Ein letztes Spielchen mit Menschen an der Grenze zwischen Leben und Tod. Wenn Krankenhäuser und Seniorenheime verdächtig erschöpfte Omas oder Opas mit dem Rot-Kreuz-Wagen hin und her schickten, niemand eine Leiche und schon gar nicht den Papierkram im Haus haben wollte. Dann wurden halb starre Greise zum Sterben ins Seniorenheim geliefert oder umgekehrt zur Auferstehung ins Krankenhaus. Gradoneg saß hinten im Krankentransporter, füllte die Scheine für die Fahrtabrechnung aus, während sich neben ihm so manches Leben verflüchtigte. Wer dann die Nerven verlor, so verrückt war, den Puls zu kontrollieren - der zog die Arschkarte, den Schwarzen Peter für jede Menge Papierkram und Scherereien mit Verwandten. Für die Fahrtenabrechnung vom Roten Kreuz war das freilich egal. Die Versicherungsnummer musste stimmen und die Bestätigung der jeweiligen Abholstation gut leserlich sein; was zählte, war immer die Fuhr, selbst wenn es genau genommen eine Überfuhr war. Solche Toten oder Halbtoten hatte Gradoneg mehrmals erlebt. Ein erster Schreck, der im Laufe des Zivildienstes in Routine übergegangen war. Alle hatten sie ihre Jahre auf dem Buckel, die Runzeln einer fremden Lebensgeschichte im Gesicht. Diese Art von Sterben und Tod berührte ihn nicht mehr.
Jetzt aber auf dem Spielplatz im Schubertpark erschrak er vor dem Tod. Sogar die beiden Polizisten übersah er in seinem Schock. Zwanzig, höchstens fünfundzwanzig Meter entfernt, standen sie mit dem Rücken zu ihm vor der Babyschaukel. Versteinert, als hätten sie einen Blick auf Sodom und Gomorrha gewagt. Völlig erstarrt und schockiert und hatten ebenfalls Gradoneg nicht bemerkt. Obwohl er fürchterlich keuchte.
So schnell war er noch nie durch die Kreuzgasse zur Teschnergasse gerannt, runter in den Schubertpark auf den Spielplatz gehetzt. Auch als seine Kinder auf Fahrräder umsattelten und seinem Schatten immer weiter davonstrampelten.
Eile mit Weile wäre dabei angebrachter gewesen. Gab ja eigentlich keinen Anlass, wie ein Notfallchirurg durch die Nacht zu sprinten: "Nichts Wichtiges. Bitte im Schubert Park/Spielplatz nachsehen, falls du wach bist" - las sich die SMS keineswegs wie ein Weltuntergang. Noch dazu stammte sie von einer unterdrückten Nummer, ohne Absender. Selbst ein Kürzel fehlte. Kein Hinz und Kunz offenbarte sich hinter dieser nächtlichen Ruhestörung. Kryptischer und anonymer konnte sich niemand melden; entspannter und gelassener hätte Gradoneg diesen Irrläufer oder üblen Scherz nicht übergehen können. Falls du wach bist . die Ausrede wurde praktisch mitgeschickt. "Schubert Park" war obendrein auseinander, also genau genommen falsch, zumindest antiquiert, geschrieben. Wirklich! Von einem anonymen, antiquierten Witzbold sollte sich niemand in die Nacht jagen lassen!
Blöderweise kam Gradoneg diese seltsame SMS bei einem Pinkelausflug in die Quere. Kaffee und Wein und dann noch ein Bier, mehr braucht es nicht, um ein paar Ehrenrunden durch die Wohnung zu drehen. - Und noch eine andere, blöde Angewohnheit war daran schuld: sein Handywahnsinn.
Was hat dein strahlenverseuchtes Ding neben dem Kopfpolster verloren?, hatte sich seine Ursula schon öfter beschwert, als es Geschichten in Tausendundeiner Nacht gibt. - Muss Google auch noch in unserem Schlafzimmer herumschnüffeln?! - Wenn's für dich schon keine andere Ausstrahlung mehr gibt, dann schau' gefälligst in die Sterne! War Gradonegs Ursula zwar noch nicht in den Wechseljahren, wechselten aber ihre Stimmungslagen in letzter Zeit immer häufiger. Vor allem Gradoneg gegenüber. Ein Alarmzeichen, das er in Freudscher Manier verdrängte, und beim Handy war er sowieso ein Pawlowscher Hund: Kaum gab es einen Piepser von sich oder blinkte auf, schon tippte und wischte seine Neugierde darauf herum. Besessen, als würde er eine Wahrsagerkugel in der Hoffnung auf ein besseres Leben streicheln. Dabei leuchtete auf seinem Gerät schon länger nichts Weltbewegendes mehr auf. Mit dem selbstständigen Anzeigenverkäufer ging es wie mit den Printmedien bergab. Die Magazine wurden immer dünner, die Anzeigenkunden immer weniger - und Gradonegs Leben immer erbärmlicher. "Akquise Manager", was für eine hochtrabende Berufsbezeichnung! Eher war er ein vergessener Hufschmied im 21. Jahrhundert, ein Naivling, der beruflich aufs falsche Pferd gesetzt hatte und nun von den vielen, neuen digitalen Medienkanälen zertrampelt wurde. Selbst die übelsten Marketingfuzzis verzichteten nun auf ihre Sadomaso-Spielchen mit ihm, hetzten ihn nicht mehr für eine Anzeigenschaltung kreuz und quer durch Wien.
Tag und Nacht, bei Regen und Hagel, damit sie vor ihren Geliebten mit einem Anzeigenknecht rumprahlen konnten. Oft noch in Unterhosen, Spermaflecken an den Oberschenkeln und einen zufriedenen, präpotenten Testosteronblick in den Augen. Gut, der ewig notgeile Franz Schnitzer missbrauchte ihn noch manchmal als Kindermädchen für seine ständig überzuckerte, hysterische Göre. Aber selbst das war schon seit Monaten nicht mehr der Fall. Wahrscheinlich hatte auch der so einen jungen Social-Media-Deppen für seine Schaltaufträge und Kinderdienste engagiert.
Von Berufs wegen wurde also Gradoneg an diesem Freitag nicht raus in die Nacht, in den Schubertpark, getrieben. Sein schlechtes Gewissen machte ihm Beine. Die Sauferei war es, dieses fürchterliche Alkoholgelage vom letzten Dienstag in einem Wettcafé, dem "Café Carambole" in der Kreuzgasse. Vertrottelter konnte man nicht auf seine Gesundheit eindreschen und den Gedächtnisstecker im Gehirn ziehen. Gradonegs Schweiß wäre nach dieser Nacht eine ideale Flüssigkeit gewesen, um Steaks zu flambieren. Ganze argentinische Rinderherden wären sich damit ausgegangen. Was für ein Gestank aus seinen Poren triefte! Ursula ließ bei offenem Fenster den Sommerregen über die Wand rinnen; seine beiden Kinder, Hemma und Josef, gingen ihm mit den UNO-Karten aus dem Weg, fragten sogar kein einziges Mal nach Süßigkeiten. Bloß Ursulas verächtliche Blicke besuchten ihn in seinem Exil auf der Wohnzimmercouch.
Den ganzen Mittwoch und Donnerstag quälte er sich damit ab, eine Brücke über seine Gedächtnislücke zu bauen, runter in den Krater seiner besinnungslosen Sauferei zu schauen. Dort gab es allerdings nur die brennheiße, zischende Lava des Vergessens und des schlechten Gewissens. Was hatte er nur im Suff angestellt? In diesem glücklosen Wettcafé, keine hundert Meter von seiner Wohnung entfernt? Zumindest wollte er wissen, wie und warum dieser zerknüllte 500-Euro-Schein in seine Brieftasche gekommen war. Sein erster im Leben, und er hatte keine Ahnung! Keinen blassen Schimmer von diesem Geldsegen! Ob der Schein überhaupt echt war, musste er noch herausfinden, sobald sich sein Magen und vor allem seine Frau beruhigen würden.
Was hatte er für dieses Geld nur getan - oder was sollte er noch dafür tun? Das waren die Fragen, mit denen er ständig von der Wohnzimmercouch auf die Toilette und zurück torkelte; verzweifelt in der Lava des Vergessens nach einer noch nicht ganz verkohlten Erinnerung stocherte. Nichts! Absolut nichts fand er darin. Auf den zerkratzten CDs der Städtischen Wiener Bücherei tat sich mehr als in seinem Gedächtnis. Eine ewige Schwarzblende ohne das geringste Flimmern und Surren.
Ursula? Hatte ihm Ursula das Geld wegen seines beruflichen Desasters zugesteckt? Unwahrscheinlich. Sehr sogar. Nach all den Streitereien und seinen politischen Ausrastern in letzter Zeit hätte sie das Geld wohl lieber gespendet. Der Kirche, den Mormonen, der Währinger Faschingsgilde . allen, sogar Bayern München und dem Debütantinnenverein des Wiener Opernballs . doch niemals Gradoneg. Ihr liebevolles "Frerkibääääär" war definitiv nach seiner Sauferei verstummt. Und es sah so aus, als ob für immer - ihr kuscheliges "Frerkibääääär" würden wohl nur noch Außerirdische in ein paar Hundert Jahren als Schallwellen hören. Leider. Ursulas Verständnis schien so erloschen zu sein wie Gradonegs Gedächtnis. Und dafür gab es keine 500 Euro.
Natürlich hatte sich Gradoneg gleich am nächsten Tag im Wettcafé über sein besoffenes Alter Ego informiert. Das schaffte er gerade noch mit seinem kaputten Magen, die paar Meter durch die Kreuzgasse. Eine völlig sinnlose Hochseetour: Der Kellner - ein Kroate, dessen tätowierten Bizeps und Geduld man nicht überspannen sollte - fühlte sich augenblicklich in seiner Ehre gekränkt, missverstand Gradonegs Gekrächze von einem...
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