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Emma, 2013, Herbst
Emma Schmidt war mit einem Surfer ins Bett gegangen und neben einem Soldaten aufgewacht. So kam es am Ende immer, dachte Emma. Sie wollte nicht so denken, sie war um die halbe Welt gereist, um diesen Gedanken zu entfliehen. Ihr Blutdruck war schuld. Es war neun Uhr morgens, ihr Herz schlief noch. Emma sah aus dem Fenster, wo das kalifornische Morgenlicht ihre Einfahrt ausleuchtete wie ein Studioscheinwerfer. Immer das gleiche Wetter, seit fünfeinhalb Monaten. Wolkenlos.
Die Sonne hing wie ein ständiger Vorwurf im Himmel.
Tom trug ein weißes, geripptes Unterhemd, Hosenträger, die seine Schultern breit, aber auch ein wenig brutal aussehen ließen. Seine Haare waren noch nass, in der Stirn lang und weich, im Nacken ausrasiert. Er würde heute sterben. Er war der erste Soldat, der fiel. Sein Name war Hermann, einen Nachnamen hatte er nicht. Er war zu schnell tot. Der Film hieß »Black Dogs« und spielte im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs. In einem deutschen Bunker, den sie in Burbank aufgebaut hatten. Tom hatte ihr Handyfotos vom Bunker gezeigt, ein graues Monster, ein gestrandeter Wal.
Es war so still, wie es in Los Angeles sein konnte. Emma hörte die Flugzeuge, weit oben überm Meer, aber auch das Messer, mit dem sie auf ihrem Toast kratzte. Toms Löffel raschelte im Müsli, als würde er dort nach irgendetwas suchen. Vielleicht nach anständigen Rollenangeboten, dachte Emma. Der verdammte Blutdruck machte sie zu einem Monster. Sie schob ihm die Schale mit dem Obst hin, das sie geschnitten hatte.
»Obst?«, fragte sie. Es war ihr erstes Wort am Frühstückstisch. Sie würgte es aus wie einen Fellball.
Tom sah auf, als erwache er aus einem Traum.
»Leberwurrrrst«, sagte er. Er lachte, seine Zähne waren makellos.
Sie fragte sich, ob er sich auf die Rolle vorbereitete oder zu einem Mann wurde wie ihr Thüringer Großvater. Ein Mann, der stundenlang nichts sagte und dann plötzlich »Gummistiefel« oder »Einigkeit und Recht und Freiheit - dass ich nicht lache«.
»Was?«, fragte sie.
»Ich hätte gern ein bisschen Wurst zum Frühstück«, sagte Tom. Wurrrst, sagte er. Er lachte immer noch, aber es bedeutete nichts. Er war Schauspieler. Gestern Abend war er mit trockenem Schlamm im Gesicht und an den Armen nach Hause gekommen, als habe er auf dem Bau gearbeitet.
»Tut mir leid«, sagte sie. Er war ja nur nervös. Er würde heute sterben.
»Was?«, fragte er.
»Dass ich dir keine Wurst bieten kann.«
»Ach, Quatsch. Es liegt an der Rolle«, sagte er.
»Method acting?«, fragte sie.
Sein Text heute bestand aus zwei Wörtern, seinen letzten Worten. »Mutter.« Und dann noch mal: »Mutter.« Aber warum sollte sie ihn daran erinnern. Ihr Blutdruck war kaum messbar. Sie schlief noch.
»Blutwurst für Bobby de Niro and me«, sagte Tom und schaufelte sich Obst auf sein Müsli.
Das frische Obst sprach für Kalifornien. Das erzählte sie ihren Freundinnen zu Hause und sich selbst. Der Fisch und das Obst. Der wolkenlose Himmel. Und das Meer vor der Tür. Sie dachte an Marlene Dietrich, die spät im Leben, am Ende ihrer ewigen Flucht aus Deutschland, Graubrot und Wurst vermisst hatte. Keine Ahnung, woher Emma das wusste. Sie hätte es erzählen können, jetzt, aber sie würde klingen wie eine der Ehefrauen, die in die Gesänge ihrer Männer einstimmten. Sie war 27 Jahre alt und müde.
Tom strich sich eine lange blonde Haarsträhne zurück, die in seine Müslischale baumelte. Es sah gut aus. Emma stellte sich vor, wie sie die Strähne abschnitt. Er redete von der Szene, der er zum Opfer fallen würde. Er nannte Namen und Orte, die Emma nichts sagten. Sie hatte ihn zweimal zum Set gefahren, einmal waren es Außenaufnahmen gewesen. Sie hatte am Rand gestanden, hinter Absperrungen und Catering-Trucks, am Horizont liefen deutsche und amerikanische Soldaten zwischen Hügeln umher. Aus der Entfernung konnte sie keinen Unterschied ausmachen. Alles eine Armee. Sie nickte, träumte. Es interessierte sie nicht, es erinnerte sie an ihre Tatenlosigkeit. Wie die Sonne. Tom erzählte diese Dinge auch nicht ihr, sondern sich selbst. Gleich würde er aufs Klo verschwinden. Sie würde in der Zeit den Tisch abräumen. Toms Handy summte. Er lächelte.
»Jake würde uns gern kennenlernen«, sagte er.
»Jake«, sagte sie.
»Er findet das alles so faszinierend. Unseren Hintergrund. Deine Geschichte. Ich habe ihm erzählt, dass du aus dem Osten kommst. Von Alex.«
»Du hast ihm von Alex erzählt?«, fragte Emma. Ihr Herz begann zu arbeiten. Sie tauchte aus einem dunklen See auf. Sie schnappte nach Luft.
»Er ist total interessiert. Er ist wirklich so anders, wie sie alle sagen. Er kann zuhören«, sagte Tom und streichelte sein Handy wie eine Katze.
»Was hast du ihm denn erzählt?«
»Nichts von euch, keine Angst. Die alten Geschichten«, sagte Tom. Er lachte. Das makellose Gebiss, das schöne Gesicht. Ein Schauspieler. Er guckte ahnungslos und väterlich zugleich.
Sie fühlte sich, als habe Tom ein altes Spielzeug von ihr an ein Nachbarskind verschenkt, ohne sie zu fragen. Eine Spieldose, die ihrer Großmutter gehört hatte. Sie hätte ihm das ins Gesicht schreien können, aber sie fühlte sich zu dumm für einen Streit, der sich um Alex drehte und um die Band ihres Vaters. Sie hatte nie wirklich verstanden, was damals eigentlich passiert war, und bezweifelte, dass Tom es verstand. Nicht mal Alex hatte es erklären können. Sie hatte nur die Narben gespürt, alte Narben, die schmerzten, wenn sich das Wetter änderte. Sie kannte das von ihren Narben. Alex und sie hatten nicht miteinander reden müssen, was sie nach all dem Therapeutengewäsch genosssen hatte. Sie sah sich in Alex' altem Jungengesicht wie in einem Spiegel.
Tom hatte die verschlungene Geschichte ihres Freundes an einen Hollywoodschauspieler verkauft, dachte sie. An einen dieser Kerle, die als unangepasst galten, weil sie zwanzig Kilo für eine Rolle abnahmen und in Interviews nachdenklich schwiegen. Wahrscheinlich hatte Tom Alex in einer Rauchpause verraten, um einen Eindruck zu hinterlassen. Tom wurde gleich am Anfang der Schlacht erschossen, sollte aber in den Albträumen des Helden auftauchen, der ihn erschoss. Das hatten sie angedeutet. Jake spielte den Helden. Er entschied, wer in seinen Träumen erschien.
»Ich dachte, der Film spielt im Zweiten Weltkrieg«, sagte sie.
»Verrat ist zeitlos«, sagte Tom.
Er schaute ernst. Er war von seinem Satz beeindruckt, dachte sie. Ein Spruch aus dem Poesiealbum. Sein Handy schnurrte wieder. Er sah es an, lächelte.
»Das ist ja das Problem«, sagte sie.
»Es hört nicht auf«, sagte sie. »Der Verrat geht immer weiter.«
»Genau das meine ich ja, Engel«, sagte er, nahm das Telefon, tippte.
Emma hatte nicht mehr die Kraft, ihm zu widersprechen. Es lag nicht am Blutdruck, dachte sie.
Sie schaute auf die Obstreste in der weißen Schale, die bereits ihre Farbe und ihre Form verloren. Zuerst die Bananen und die Pfirsiche, sie verdarben vor ihren Augen. Es ging alles so schnell. Sie hatte die Schale bei Crate and Barrel gekauft, in West Hollywood. Vor sechs Monaten, als sie sich einrichteten. Ein paar Handtücher, ein bisschen Geschirr, Korkenzieher. Sie hatte nicht gewusst, was sie brauchten, wie lange dieses Leben halten würde. Sie hatte West Hollywood gemocht, den kühlen Laden, in dem es gut roch, aber auch das Gefühl, in die Wärme zurückzukehren. Sie hatte die Leute auf den Bürgersteigen gemocht, denen es egal zu sein schien, was man von ihnen hielt. Tom hatte eine Rolle in einem Sandalenfilm, aus dem er später herausgeschnitten worden war, und die Aussicht, in einem Film über den ostdeutschen Cowboy Dean Reed mitzumachen. Sie hatte die Sachen in dem großen, leeren Papphaus verteilt, und es hatte ihr gefallen, die Leere, das Unverbindliche. Das Haus hatte vier Zimmer, eine große offene Küche und eine riesige Garage, in der Ecke lehnte ein altes Surfbrett. Das Haus stand in Huntington Beach, keine besonders spektakuläre Gegend, aber es waren nur drei Straßen bis zum Strand.
In den ersten Tagen war sie mit Tom zum Meer gelaufen, so oft, wie es ging. Die Welt war weit und offen. Klar war nur, dass Tom nie einen deutschen Soldaten spielen würde.
Er sprach Englisch ohne deutschen Akzent, weil er seine Kindheit in New York verbracht hatte. Sein Vater hatte damals einen Job bei den Vereinten Nationen gehabt, Tom war in die UN-Schule gegangen. Sie hatten Schulsport am East River gemacht. Sie dachte, dass sie sich deswegen in ihn verliebt hatte. Ein Prinz, der sie aus ihrem Dornröschenschloss befreien würde.
»Kommt er zu uns, oder gehen wir zu ihm?«, fragte sie.
»Was?«, fragte Tom.
»Mal sehn«, sagte Tom.
Sie hatten keine Freunde hier, sie kannte niemanden, auch nicht die Nachbarn. Sie vermisste das nicht, glaubte sie, aber sie merkte, wie sie in den Gesprächen mit ihren Berliner Freundinnen verlorenging. Das Einzige, was sie in Los Angeles festhielt, war die Angst vor zu Hause. Sie hatte keine Ahnung, was sie noch machen sollte. Sie hatte aufgehört zu rauchen, dabei war Los Angeles die perfekte Stadt zum Rauchen. Es gab so viel Zeit und so wenig Gelegenheit zum Reden. Sie ging immer noch zum Meer, aber oft hatte sie das Gefühl, auf eine tapezierte Wand zu starren.
Toms Telefon summte. Er sah es an. Grinste.
»Was ist denn das die ganze Zeit?«, fragte sie.
»Alles wird gut, Baby«, sagte Tom, er tippte.
Emma war jetzt richtig wach. Ihr Herz pumpte, aber ihr...
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