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Ich mag Tiere.
GEORGE ORWELL
Es gibt nur eine Möglichkeit, wirklich sinnvoll über dieses Buch zu schreiben: indem man mit einem Zeitzeugen spricht. Das ist nicht einfach, denn Animal Farm ist 1945 erschienen, vor drei Menschengenerationen, und die darin beschriebenen Ereignisse liegen noch weiter zurück. Aber es ist mir gelungen, einen Ururenkel Benjamins auf einer abgelegenen Farm in Schottland ausfindig zu machen, einen alten Hausesel, der sich nur noch von Heu und Erinnerungen ernährt. Benjamin, das wissen jene, die dieses Buch schon gelesen haben, ist ein aufmerksamer Beobachter und Kommentator der dramatischen Ereignisse. Insofern durfte ich mir einigen Aufschluss erwarten von den Erzählungen seines Ururenkels, der mir als Historiker der Familie angepriesen wurde, als nachdenklicher und eigenwilliger Kopf.
Die Farm befindet sich auf einer schroffen Insel namens Jura. Kaum angekommen, flüchtete ich vor dem peitschenden Wind in den örtlichen Pub. Drei Farmer saßen in einer Ecke und ereiferten sich über irgendetwas. An der Wand lehnten ein paar Sensen und Schrotflinten.
»Sind Sie wegen dem Whisky hier?«, fragte die Frau hinter den Tresen.
»Nein. Wegen George Orwell.«
»Orwell?« Eine lange Pause. Und dann, an einen der Farmer gerichtet: »Calum, dein Vater, der kannte doch diesen Schreiberling, oder?«
»Ja, hat mit seinem Pudel gespielt, der hieß Marx, das weiß ich noch, George lief mit Marx an seiner Seite herum.«
Die drei Farmer schüttelten den Kopf. Offensichtlich galt es auf dieser Insel nicht als angemessen, seinen Pudel Marx zu nennen.
»Hier lebt keiner mehr, der irgendwas über Orwell weiß«, sagte der Farmer mit fester Stimme und finaler Geste. Das Gespräch war beendet.
»Doch«, sagte ich zu mir selbst, »der Ururenkel von Benjamin.«
Nach zwei Flaschen Cuillin Beast fühlte ich mich ausreichend gestärkt.
Schon von Weitem sah ich den einsamen Esel auf weiter Flur, in Sichtweite des Sunds. Ich näherte mich vorsichtig, denn ich war ohne Voranmeldung gekommen. Es war Sympathie auf den ersten Blick. Zur Begrüßung stupste er mich mit aufgerichteten Ohren und vorgestrecktem Hals an. Dann stellte er sich vor.
»Napoleon!«
Ich war entgeistert.
Ein Esel, der einen schweinischen Namen trug! Wie war das möglich?
»Mein Großvater, dessen Großvater wiederum Benjamin war, wollte ein Signal setzen. Wir müssen, so sagte er, uns jeden Namen aneignen können und ihn so von seinen Schandflecken befreien.«
Offenkundig war ich an den richtigen Esel geraten. Ich setzte mich auf einen mitgebrachten Klappstuhl und stellte meine Fragen. Nur antwortete Napoleon nicht, sondern folgte einer eigenen narrativen Logik, die sich um die Prioritäten meiner Neugier keinen Deut scherte.
»Weißt du« (offenkundig duzen Esel grundsätzlich), »Scheiße riecht recht unterschiedlich. Ihr Menschen habt ja nicht so gut funktionierende Nasenlöcher, deswegen muss es euch erklärt werden. Kuhmist, Hühnermist, Pferdemist, Schweinemist, das sind völlig unterschiedliche Gerüche. Pferdemist, das ist guter Dünger, das wusste der Orwell, der hat täglich die Qualität der Exkremente aufgeschrieben. Pferdemist mochte er, Ölgerüche hasste er. Schweinescheiße hingegen, die taugt nichts, weil das Schwein alles frisst. Deswegen muss das Oberschwein Napoleon mit einer aromatisch besonders penetranten Zigarre herumstolzieren. Um den nutzlosen Gestank des eigenen Mists zu überdecken.«
»Orwell kannte sich also auf einem Bauernhof aus«, gelang es mir einzustreuen.
»Und wie und wie und wie. Ironie der Geschichte. Du weißt, was Ironie ist, oder? Die Einnahmen von Animal Farm haben es ihm erst ermöglicht, eine eigene Farm zu betreiben. Er sehnte sich nach dem einfachen Bauernleben. Das bewunderte mein Ururgroßvater an ihm. Er habe gewusst, wovon er schrieb, nicht wie die meisten Menschen, die sich anmaßen, Tiere zu beschreiben. Im Herzen war er ein Bauer. Bevor er hierherkam, hielt er in Hertfordshire Hühner und Ziegen. Eine der Ziegen hieß Muriel. Muriel - wäre das nicht ein schöner Name für ein Maultier?«
»Unbedingt.«
»Sogar im Krieg hielt er Hühner, in der Stadt, im Hinterhof. Während der Bombardierungen. Wer macht denn so was?«
Ich wollte zu einer weiteren Frage ansetzen, aber Napoleon redete einfach weiter.
»Die Bomben haben fast alles ausgelöscht. So was kannst du nicht erfinden, weder als Esel noch als Mensch. Zuerst schrieb der Orwell ein Büchlein mit dem Titel Der Löwe und das Einhorn, eine Geschichte über zwei Tiere, die es hierzulande nicht gibt. Was soll das denn? Derweil zuckten nachts Scheinwerfer über den Himmel.«
»Während ich schreibe, fliegen hochzivilisierte Menschen über mich hinweg und versuchen, mich zu töten.«
»Sehr gut«, lobte mich der Esel und machte einen Luftsprung. »Das gelang ihnen nicht, aber eine der Bomben zerstörte das Haus, in dem die Orwells lebten. Glücklicherweise waren sie gerade bei ihren Hühnern und Ziegen auf dem Land, und der Orwell hatte das einzige Exemplar seines Manuskripts mitgenommen. Sonst hätte es mich nie gegeben. Das Leben ist ein einziger Zufall, das sage ich dir.«
»Ein unglaublicher Zufall.«
»Durch und durch glaublich. Wir Tiere glauben das, was ist. Ihr Menschen nur das, was euch in den Kram passt.«
»Wie fühlt es sich für dich an, Animal Farm zu lesen?«
»Keine Ahnung«, antwortete Napoleon kurz angebunden.
»Es muss dich doch .«
»Keine Ahnung. Ich habe es nie gelesen. Die Geschichte ist mir unzählige Male erzählt worden, was muss ich sie da noch lesen. Zu anstrengend.«
»Ein animalisches Problem.«
»Wie meinen?«
»Na ja, so wie es im Buch dargestellt wird, sind die anderen Tiere inkompetente Leser der hinterhältigen Schweine-Texte. Die Hunde interessieren sich nur für die Sieben Gebote, die Ziege Muriel liest gelegentlich ein wenig in einer weggeworfenen alten Zeitung. Das Pferd Clover lernt das Alphabet auswendig, ohne ein Wort zusammensetzen zu können. Und Benjamin, dein Vorfahre, der kann zwar lesen, so gut wie jedes Schwein, aber er nutzt diese Fähigkeit nicht. Er behauptet, es gebe nichts Lesenswertes.«
»Sag ich doch.«
»So bleibt ihr ohnmächtig!«
»Mir geht es gut«, erwiderte Napoleon und begann mit angespannten Muskeln zu fressen. Unser Gespräch war in eine Sackgasse geraten.
Woran er dachte, konnte ich seiner nächsten Äußerung nach einigen Minuten des Schweigens entnehmen.
»Menschen und Tiere sind nicht so unterschiedlich, wie ihr meint. Wir leiden an ähnlichen Krankheiten. Es gibt Geflügelpest, es gibt Hühnercholera. Nimm mal die Schweinegrippe: dieselben Symptome wie bei eurer Grippe, wir können euch sogar anstecken. Wenn das kein Ausdruck von Verwandtschaft ist.«
»Nennt man Zoonose.«
»Wie gut, dass du so viel gelesen hast.« Napoleon hatte offensichtlich einen bissigen Witz. »Weißt du, was wir über Epidemien sagen? >Morgens krank, abends tot. Abends krank, morgens tot<. So viel zu deiner Zoo-Nase.«
Ich musste dringend das Gespräch auf eine einvernehmlichere Ebene bringen, weswegen ich ihn fragte, wie in seiner Familie die Erfahrungen von Animal Farm nachträglich beurteilt würden.
»Nicht so negativ, wie es Urvater Benjamin getan hat. Diese Erfahrung endete böse. Keine Frage. Aber vor dem Aufstand waren wir Eigentum eines sogenannten Gentleman Farmers, mit anderen Worten eines brutalen Trunkenbolds. Dann geschah, was geschehen ist, und danach waren wir Eigentum eines agrarindustriellen Betriebs, mit anderen Worten eines brutalen Unternehmens. Dazwischen gab es einen Aufstand, und der ist unser ganzer Stolz, trotz des schlechten Ausgangs.«
Er streckte seinen Kopf nach oben, angespannt, alles an ihm wirkte verschlossen. Es schien, als wollte er den Geruch des Kommenden erhaschen. Ich fühlte mich genötigt, etwas zu sagen.
»Das hat Orwell im Spanischen Bürgerkrieg ähnlich erlebt. Später hat er geschrieben: Vor allen Dingen aber glaubten wir an die Revolution und die Zukunft. Wir hatten das Gefühl, plötzlich in einer Ära der Gleichheit und Freiheit aufgetaucht zu sein. Menschliche Wesen versuchten, sich wie menschliche Wesen zu benehmen und nicht wie ein Rädchen in der kapitalistischen Maschine.«
Napoleon richtete seine Ohren in meine Richtung, sein Blick fokussiert, sein Kopf stolz erhoben. Ich hatte es geschafft, sein Interesse zu wecken. Auch wenn er es nicht zugab. Ich nutzte den günstigen Augenblick.
»Ich habe versucht, die Theorien von Marx aus der Sicht der Tiere zu bedenken. Für euch, vermute ich, muss das Konzept eines Klassenkampfes zwischen Menschen als reine Illusion erscheinen, denn stets werden die Tiere ausgebeutet, egal, wie die machtpolitischen Verhältnisse unter den Menschen sind. Erst wenn diese Ausbeutung grundsätzlich und radikal angegangen wird, kann von einer wirklichen Befreiung gesprochen werden.«
»Ich habe die Nüstern voll von Märchen«, unterbrach mich Napoleon. »So erbärmlich humanoid, dieses Denken und Reden in Fabeln.«
»Aber Animal Farm ist kein Märchen«, rief ich aus, entschlossen, mich nicht niedereseln zu lassen. »Das ist eine bis ins letzte Detail präzise und genau beobachtete Realsatire, eine scharfe Attacke gegen das sowjetische System, vor allem während der Herrschaft Stalins. Nur wer diese Epoche und dieses System erlebt hat, kann das nachvollziehen.«
Napoleon gähnte mit geschlossenen Augen. Ich fuhr fort.
»Wie sollen Nachgeborene Animal Farm verstehen,...
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