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Unsere Demokratie braucht den produktiven Streit, die Gegenrede und die öffentliche Debatte.
Es geht um verdrängte deutsche Vergangenheit und kontaminierte Gegenwart, um religiöse Anmaßung und säkulare Verteidigung, um populistische Politik und Demokratie- Verachtung. Um Autonomie und Konformismus. Kurzum: Es geht um unsere Demokratie.
Wir brauchen den produktiven Streit, die Gegenrede und die öffentliche Debatte. Demokratie, sagt Helmut Ortner, ist nicht unbedingt Gemeinschaft, Demokratie ist vor allem Gesellschaft, also das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Interessen, Sichtweisen und Meinungen. Seine Essays verstehen sich als Plädoyers für eine offene, reflektierte Streitkultur.
» Denken im Gleichschritt - nichts ist schlimmer und demokratie- feindlicher « Helmut Ortner
Eine Eskalation mit Ansage: Es war im März 2020, da hatte eine Initiative »Querdenken 351« in Dresden zu einer Demonstration aufgerufen, und obwohl die Behörden aus Infektionsschutzgründen alle Kundgebungen untersagten, waren mehr als tausend Menschen gekommen. In Pulks liefen jeweils mehrere hundert Leute, die keinen Mund-Nasen-Schutz trugen und keinerlei Abstand einhielten, durch die Innenstadt. Sie schwenkten unterschiedlichste Fahnen, sangen und bildeten Polonaise-Schlangen. Der Polizei, die mit Unterstützung aus anderen Bundesländern sowie schwerem Gerät, darunter mehreren Wasserwerfern, angerückt war, gelang es nicht, das Treiben zu verhindern. Es blieb nicht bei verbalem Radau. Es kam zu Handgreiflichkeiten, Verletzungen, Verhaftungen. Und das nicht nur in Dresden, auch in anderen Städten gingen damals Menschen auf die Straße: »gegen Corona für die Freiheit«.
Acht Monate später, am 7. November, versammelten sich über 30.000 selbsternannte Querdenker aus der gesamten Republik in Leipzig, um das Ende der Pandemie auszurufen oder vielmehr zu fordern. Esoteriker marschieren neben Hooligans, Regenbogenfahnen flattern neben Reichkriegsflaggen. Ohne Maske, ohne Abstand, weder zum Nachbarn noch zu den Hunderten Nazis des rechtsextremen Netzwerks »Blood and Honour«. Hier trifft sich eine neue deutsche Volksgemeinschaft, die sonst kein Elend und keine Armut auf der Welt auf die Straße treibt, die sich aber nun unterdrückt fühlt und zum Widerstand aufruft. Gegen die »Merkel-Diktatur«, gegen Bill Gates, George Soros und die »Verschwörungen reicher Pädophiler«, die im Hintergrund angeblich die Fäden zögen. Neben rechtsradikalen Plakaten und antisemitischen Spruchbändern sind Leute zu sehen, die sich als KZ-Häftlinge kostümieren, um sich als die wahren Erben, als Kämpfer der Freiheit gegen »Diktatur und Faschismus« auszugeben. Sie skandieren: »Nie wieder!« und »Wehret den Anfängen!« So zieht die bunte Querfront-Polonaise, vollends von jeder Rationalität befreit, unter den Rufen von »Wir sind frei, Corona ist vorbei!« durch das Zentrum der Stadt. Ein Volksfest des kollektiven Wahns.
Eine Woche später treibt es die verqueren Freiheitskämpfer wieder auf die Straße, diesmal in Hannover. Eine junge, ebenso naive wie narzisstische Jana aus Kassel vergleicht sich auf der Bühne mit der von den Nazis ermordeten Sophie Scholl. »Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten hier aktiv im Widerstand bin, Reden halte, auf Demos gehe, Flyer verteile und auch seit gestern Versammlungen anmelde«, ruft sie mit brüchiger Stimme. Sie will niemals aufgeben, sich für »Freiheit, Frieden, Liebe und Gerechtigkeit« einzusetzen. Beifall und Jubel aus dem Publikum. Der New York Times ist das sogar einen Beitrag wert. Im Artikel heißt es, ihre Rede sei das »jüngste Beispiel« von Anti-Corona-Demonstranten und Verschwörungserzählern, die ihren Protest mit der Unterdrückung und Ermordung der Juden durch die Nazis gleichsetzten. Erwähnung findet auch eine Elfjährige, die sich bei einer Querdenker-Sause am Mikrophon mit Anne Frank verglich, weil sie ihren Geburtstag aus Angst vor den Nachbarn angeblich hatte geheim halten müssen. Man fühlt sich in Zeiten zurückversetzt, als sich der nazikontaminierte Hitler-Durchschnittsdeutsche selbst gern als Nazigegner und Widerstandskämpfer eingestuft sehen wollte. Es scheint, dass in Pandemie-Zeiten viele Menschen sich selbst den Status eines Widerstandkämpfers wie einen Orden anheften. Die Folge davon: »Außer in Zeiten der Entnazifizierungs-Verhöre gab es noch niemals so viel Widerstandskämpfer wie in den letzten Jahren«, wie Karl-Markus Gauß in der Süddeutschen Zeitung konstatiert.
Eine bizarre Wahrnehmung der Wirklichkeit. Bislang galt Geschichtsklitterung in der bundesrepublikanischen Nachkriegsrealität als Terrain rechtsradikaler Wirrköpfe und Ewig-Gestriger. Dann kam die AfD. Mit ihrem Einzug in Landesparlamente und den Bundestag bekam das Rechts-Milieu eine parlamentarische, öffentlichkeitswirksame Bühne. Was folgte, waren kalkulierte Tabubrüche und gezielte Provokationen, etwa Björn Höckes Gerede von einer »erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad« oder Alexanders Gaulands »Vogelschiss«-Verharmlosung der Nazidiktatur. Historische Demenz, Ignoranz oder böse Absicht? In jedem Fall eine trübe Melange aus allem. Die AfD findet nicht nur ihre Wähler - vor allem im Osten der Republik -, sondern kann sich auch über flächendeckende Zustimmung jenseits von Wahlen freuen. Auch wenn der Verfassungsschutz Teile der Partei mittlerweile unter Beobachtung stellt, finden viele Deutsche diese Partei nicht gefährlich und unappetitlich, sondern fühlen sich von deren »Lautsprechern« politisch angemessen vertreten. Ein irritierender Befund.
Was geht da vor, wenn sich ältere Ewig-Gestrige und Verblödet-Heutige - beide frei von historischer Bildung - als Retter der Demokratie aufspielen? Natürlich verharmlosen sie alle auf grässliche und beschämende den Nationalsozialismus. Sie heften sich Judensterne an ihre modischen Anoraks auf denen »Ungeimpft« oder »Jesund« steht. Dauerempörte »Kämpfer der Freiheit« beanspruchen, Opfer zu sein. Sie fühlen sich vom Staat getäuscht, reglementiert, verfolgt. Dabei haben sie mit keinerlei staatlicher Repression zu rechnen. Die einzige, schwer erträgliche Gängelung: Den genehmigten Demonstrationsweg durch die Innenstadt müssen sie einhalten, Ein-Meter-Abstand plus Masken. Ächtung droht in allenfalls in milder Dosierung. Tuchfühlung mit der Staatsmacht gibt es lediglich, wenn ein Mob im Kampf gegen die Corona-Diktatur am Rande einer Demonstration versucht, ins Berliner Reichstagsgebäude einzudringen. Doch das gelang nur bis zur Aufgangstreppe, dann drängten Polizisten die militanten Wirrköpfe zurück. Der Wutmensch ist der politische Phänotyp der Stunde. Seine politische Chiffre reicht von links bis rechts, von esoterisch bis vollends wirr. So wie der Fußball-Hooligan sich nicht primär für das Fußballmatch interessiert, so interessiert den Polit-Hooligan nicht so sehr die politische Debatte. Seine Wut speist sich aus einer Wirklichkeitsverleugnung, konserviert und aktiviert in kollektiven Echoräumen.
In den düsteren Zeiten der Pandemie scheint bei vielen Demonstranten einiges verloren gegangen zu sein: erst die Vorsicht, dann die Vernunft - schließlich auch das Vertrauen in die Politik. Sie misstrauen einem Staat, von dem sie behaupten, er werde als Nächstes eine »Corona-Diktatur« errichten, angeführt von der »Putschistin« Angela Merkel und dem »Obristen« Olaf Scholz. Wo Misstrauen im Überfluss produziert wird, grassiert rasch der Verdacht, die ganze Existenz staatlicher Institutionen könne am Ende vielleicht nur eine gigantische Täuschung sein, hinter der sich finstere Eliten verbergen. Eine extreme Ausformung, die in den psychopathologischen Bereich geht, erleben wir in »Bewegungen« wie dem durchgeknallten »Q-Anon«-Glauben, wonach gewaltige und geheime Drahtzieher unter der Oberfläche der Gesellschaft ein verbrecherisches Regime führen. Das wiederum treibt Verwirrte, die alle möglichen Beschwernisse und Unglücke des Lebens stets irgendwelchen organisierten Mächten zuschreiben möchten, auf die Straße. Sie wähnen sich moralisch absolut »auf der richtigen Seite«.
In der Mehrheit seien die Demonstranten, so wird verkündet, zwar empörte, aber alles in allem doch friedliche Bürgerinnen und Bürger. Herr Biedermann und Frau Demeter seien eben besorgt und dies wollten sie auch öffentlich sichtbar machen. Niemand sollte dagegen Einwände haben. Demokratie lebt vom Widerspruch. Keine Frage: Das Virus hat viele Menschen in schwierige Situationen gebracht, wirtschaftlich und mental. Und je länger die Pandemie andauert, umso existentieller die Folgen. Aber muss es gleich dazu führen, dass es auch die objektive Faktenlage samt Bewusstsein vernebelt?
Als das neuartige Corona-Virus im Dezember 2019 erstmals in Wuhan (China) auftauchte, hätten selbst die erfahrensten internationalen Gesundheitsexperten nicht damit gerechnet, dass es die schlimmste globale Gesundheitskrise seit über hundert Jahren verursachen würde. Immerhin gibt es Hoffnung: neue Erkenntnisse, neue Strategien, neue Impfstoffe. Davon wollen Querdenker nichts wissen. Sie bleiben dabei: Geheime Netzwerke, böse Drahtzieher, komplexe Komplotte beherrschen die Welt. Belege liefern düstere »Wahrheiten« aus den Echokammern des Bösen. Verschwörungserzählungen haben eine lange Laufzeit, sie sind Bestseller im Internet. Die Inhalte: ein buntes Sammelsurium aus Bildern, Videos, Screenshots, Sprachnachrichten und wüsten Textnachrichten, die allesamt eines beweisen sollen: Corona ist eine einzige universelle Verschwörung.
Man muss kein Anhänger der Verschwörungsbewegungen sein, um zu erkennen, dass sich die Balance zwischen...
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