Schweitzer Fachinformationen
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Das Grab rührt sich nicht vom Fleck. Der mächtige Stein ähnelt einer Truhe. Still und in sich gekehrt. Noch fehlt das Moos. Es ist ein fröhlicher Friedhof: Wärme liegt auf den Wegen, überall tschilpt es, Büsche und Bäume stehen in Blüte, ein frühes Blatt segelt zu Boden und Pollen tanzen im Licht.
Etwas nähert sich, ein feinleises, wehendes Zetern, das lauter wird, ein Säugling schreit, auf dem Arm eines Mannes, der sich, schwarz gekleidet, durch Äste schiebt, wohl abgekommen vom Weg. Der Mann bleibt stehen, schaut zum Stein, will sprechen, kann es nicht. Seine Tränensäcke sind geschwollen, und in den Augen stecken Splitter einer Fassungslosigkeit. Die ausgehobene Erde ist getrocknet und staubig, auf dem Grabhügel türmen sich Kränze und Blumen in Hülle und Fülle, bereits im Welken begriffen. Das Kind hört nicht auf zu schreien. Ein Arm des Mannes zuckt, will hoch zum Hut, doch weiß er nicht, wie man einen Säugling trägt mit nur einer Hand. Er schwitzt. Das Kind auch. Die Sonne steht hoch über ihnen. »Mary«, sagt der Mann. »Ich wollte dir nur zeigen, wo sie liegt.« Der Säugling schreit und windet sich. Es hat keinen Zweck. Der Mann deutet eine Verbeugung an, murmelt ein paar Worte, entfernt sich, wählt jetzt den Kiesweg, es wird ruhiger, das Geschrei verweht, und frische Stille zieht ein.
Blätter fallen. Bald ist die Erde bedeckt vom Schnee, der eilig schmilzt. Schon stehlen sich erste Stängel ins Freie, werden wieder gerupft. Eine Mütze Moos wächst in die Zeit: So wird dem Grabstein nicht kalt am Kopf.
Stimmen, noch leise. Der Vater erscheint, auf dem Kiesweg diesmal, er trägt einen braunen Anzug, junge Falten im Gesicht. Seine Tochter an der Hand ist inzwischen ein stilles Mädchen, vier oder fünf Jahre alt, die Haare schimmern rötlich unter der Haube, hie und da wachsen Sommersprossen im blassen Gesicht, zart ist das Kind, ernst und nachdenklich, ein beständiges Grübeln auf der Stirn. Jetzt sind sie da. Das Mädchen streichelt kurz das Moos auf dem Grabstein. Das tut sie jedes Mal. Der Vater darf das Moos auf keinen Fall entfernen lassen. Jetzt nimmt er seinen Hut ab und schweigt eine Weile.
»Deine Mutter«, sagt der Vater, »war eine besondere Frau.«
»Das weiß ich, Papa.«
»Als du zum ersten Mal hier warst, Mary, hast du geschrien. Und frag nicht, wie. Überhaupt, du hast ständig geschrien, noch Wochen, Monate nach der Geburt. Lies mal vor, was da steht.«
Mary streckt ihre Hand aus. Mit den Fingerkuppen tastet sie die Inschrift ab. »MARY«, liest sie. »WOLL-STONE-CRAFT. Papa? Hat Mama Wolle gemacht? Oder Steine?«
Der Vater streicht Mary über den Kopf. »So«, sagt er, »habe ich das noch nie betrachtet. Aber vielleicht hast du recht: Mama wollte aus Steinen Wolle machen. Wollte Hartes aufbrechen zu etwas Weichem. Das ist gut, Mary. Mama hätte sich gefreut. Ich sehe sie lächeln. Aber merk dir: Ihren Namen schreibt man mit zwei >lWool< dagegen mit zwei >o<. Lies weiter, bitte.«
»GODWIN«, sagt Mary, denkt eine Weile nach und sagt dann: »Gewinnt Gott eigentlich immer? Oder kann der Mensch auch mal gegen ihn gewinnen?«
Der Vater kniet sich zu Mary, legt ihr die Hände an die Schultern, sieht sie an. Eine Weile geschieht nichts. Mary weicht dem Blick nicht aus. Dann fragt sie: »Hast du Mama sehr geliebt?«
»Das habe ich, Mary.«
»Mehr als meine Stiefmutter?«
»Du sollst sie so nicht nennen, Mary«, sagt der Vater und steht wieder auf.
»Wie soll ich sie denn dann nennen?«
»Weißt du doch. Nenn sie >Mama<. Sie würde sich freuen.«
Mary zieht die Nase hoch: »Meine Mama liegt hier.«
»Dann sag wenigstens >Mary Jane<.«
»Alle heißen Mary. Ich heiße Mary. Mama heißt Mary. Meine Stiefmutter heißt Mary, gut, Mary Jane, aber trotzdem. Alle heißen Mary. Ist das nicht komisch?«
Mit einem spektakulären Auftritt hat Mary Jane Clairmont William Godwins Leben geentert, kurz nach ihrem Einzug ins Polygon, jenem halbkreisförmigen Block neu gebauter hoher Häuser in Somers Town bei London. Mary Jane wusste genau, was sie wollte: einen Mann und eine sichere Bank für ihre Tochter. Und Mary Jane wusste auch: Bei Schriftstellern aller Art herrscht meist die blanke Eitelkeit. Als sie William Godwin zum ersten Mal sah, strahlte Mary Jane, legte die flache Hand an die Stirn und rief ihm zu: »O Gott! Ist das die Möglichkeit! Sie sind doch nicht etwa William Godwin? Der unsterbliche William Godwin! Dessen Bücher ich bewundere wie sonst nichts auf der Welt!«
William Godwin schaute überrumpelt drein. Er wusste nicht: War das jetzt Ernst oder Ironie? Er hoffte auf: Ernst. Denn nach dem Tod seiner Frau Mary Wollstonecraft hatte William Godwin - wenn auch erfolglos - verschiedenen Frauen Heiratsanträge gemacht, einfach weil er glaubte, Kinder bräuchten die zarte Hand einer Mutter. Daher winkte William jetzt der neuen Nachbarin zurück, nickte geschmeichelt, und ein paar Monate später malte William ein großes »X« in sein Tagebuch, zum Zeichen dafür, dass er mit Mary Jane Clairmont erstmalig den Beischlaf vollzogen hatte. Für seine Tagebücher hatte Godwin - nach einem langen Vormittag intensiven Schreibens - nicht mehr viele Wörter im Köcher und beschränkte sich aufs Wesentliche. Beispielsweise hatte William nur »Panc« ins Tagebuch gekritzelt, an dem Tag, da er Mary Wollstonecraft heiratete: in Saint Pancras. Und an ihrem Todestag hatte William eine ganze Seite durchgestrichen, einfach so, mit langen, vertikalen Strichen. Jetzt also ein »X«, der letzte Buchstabe dieses ominösen Körperwortes: Schon zog Mary Jane bei den Godwins ein, kein langer Weg von nebenan. Und Mary Jane Clairmont kam nicht allein. Auch sie brachte eine Tochter mit. Acht Monate jünger als Mary. Das Mädchen hieß: Clara Mary Jane Clairmont. Noch wurde sie »Jane« genannt. Oder: »die Wilde«.
William geht los, doch Mary folgt ihm nicht. Sie bleibt beim Grab ihrer Mutter, Kopf im Nacken, Füße verwurzelt im Dreck, ruft: »Sag ehrlich: Hast du oder hast du nicht?«
»Was meinst du, Mary?«
»Mama mehr geliebt als Mary Jane?«
»In der Liebe gibt es kein Mehr oder Weniger. Entweder man liebt oder man liebt nicht.«
»Nennt man das Ausrede, Papa?«
»Komm jetzt, Mary! Es ist Zeit!«
William meint es genau so: Es ist Zeit, die Zeit ist, sie entsteht in dem Augenblick, in dem man in sie springt, Zeit ist das Kostbarste für ihn, Zeit bestimmt alles andere. William Godwin ist ein sparsamer Mensch, er hätte die Zeit am liebsten in eine Socke gestopft, unters Kissen geschoben und jeden Morgen nachgezählt, ob noch alle Tage da sind, die ihm zustehen seiner Meinung nach. Es gibt eine Regel im Haus der Godwins: Die Zeit des Schreibens ist heilig. Bis zum Mittagessen haben Ideen Vorrang: William muss Gedanken aus dem Kopf pflücken oder meißeln und anschließend zu Papier bringen. Die Kinder haben sich ruhig zu verhalten. Erst nach dem Mittag liest er ihnen vor, und Mary lauscht mit großen Augen und zuckt kein einziges Mal.
Wind wirbelt die Jahre fort, der Stein verwittert, das Wetter kerbt, in der Tiefe welkt eine Frau zum Skelett. Nacht folgt auf Tag, Tag folgt auf Nacht, immer neue Perlen einer immer gleichen Schnur, es ist das Einzige, was man über die Zeit sagen kann: Sie ist unbestechlich.
Jetzt ein Geräusch. Schnelle Schritte. Ein Rennen, noch ist unklar, aus welcher Richtung, ein Keuchen nähert sich, schon ist sie da, querfeldein gerannt: Mary. Sie hält sich die Seiten, neun Jahre jung, rot im Gesicht, außer Puste, fällt auf die Knie, in die Erde, nah beim Stein, wühlt die Hände ins Schwarze, als wolle sie Mutter begrüßen, lässt die Finger auskühlen, holt endlich zwei Handvoll Erde heraus, zerreibt sie, der Dreck bröselt aufs Grab, unter den Nägeln bleibt Schwarzes. Immer wenn sie hier ist, tunkt sie die Hände in die Mutter. Sie tut es, seitdem sie weiß: Das Schwarze unter den Fingernägeln heißt »Trauerränder«.
»Mama«, keucht Mary, ihr Atem holt sie langsam wieder ein. »Da ist was passiert. Gestern. Ich weiß nicht, wohin mit mir. Samuel war da, der Dichter. Jane & ich, wir haben gewusst: Der wird wieder...
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