Schweitzer Fachinformationen
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Welche Farbe soll unser Tisch haben?
Elternsein ohne Montageanleitung
Wenn ein Kind in die Familie kommt, wenn Erwachsene zu Eltern werden, ist erst mal jede Menge los. Die Welt wird klein und groß zugleich, sie zurrt sich zusammen aufs Private, das gleichzeitig zentral wird. Eltern sind so beschäftigt mit Überanstrengung und Glücklichsein, dass über Gewohnheiten nicht groß reflektiert wird. Sie wollen den neuen Menschen irgendwie ankommen lassen, sich selbst und den Partner als Mama und Papa kennenlernen, einen Rhythmus als Familie finden. Und irgendwann - es ist immer noch jede Menge los - sitzt das Kind mit am Tisch: Der Esstisch wird zum Familientisch. Dieses Buch rückt ihn ins Rampenlicht.
Eltern wünschen sich heutzutage, dass ihr Kind ein entspanntes Verhältnis zum Essen bekommt. Es soll die Fülle dessen kennenlernen, was es alles gibt, es soll genießen lernen und können. Es soll auch mal einfach essen, was auf dem Tisch steht. Es soll das ganze Nebenher-Geschehen schätzen, das Zusammenkommen, den Austausch und gern auch gutes Essen. Eltern wollen ihrem Kind gute Eltern sein. In ihrem Job sind sie genauso gefordert wie noch ohne Kind, die Nächte sind unruhig. Und wo bleibt eigentlich die Partnerschaft? Alles soll und muss irgendwie reingepfercht werden in jeden einzelnen Tag, das Zusammensein beim Essen könnte da doch ein erholsamer Ort sein. Könnte, ist es aber nicht. Eltern wechseln dann oft in einen Präventivmodus. Sicherheitshalber stellen sie genau das auf den Tisch, was das Kind gern isst. Proteste und Tränen wollen sie vermeiden, Ärger vorausschauend wegpuffern. Nach einem anstrengenden Tag oder einer anstrengenden Woche fühlen sie sich dem nicht gewachsen. Und dann - das kennen alle - passiert genau das, was man so dringend vermeiden wollte. Die Kinderhand taucht ins Saftglas, die Fusilli kullern über die Tischkante, der Löffel wird hinterher gepfeffert. Der Käse, der gestern noch der Lieblingskäse war, geht heute gar nicht. Ältere Kinder schaffen es kaum, Legolandschaft oder Bastelprojekt zu verlassen. Essen wird ihnen zur lästigen Nebensächlichkeit.
Was in anderen Familien scheinbar mühelos gelingt - das gemeinsame Essen -, wird in der eigenen zum täglichen Kraftakt. Die Kinder mäkeln, Geschwister fechten ihre Kämpfe aus. Eltern sind angestrengt, ihre Gelassenheit verlässt sie immer öfter, ihre Zündschnur wird nach und nach kürzer.
Gleichzeitig sind Eltern nirgendwo sonst den eigenen Automatismen derart ausgeliefert wie am Esstisch. Das sind oft kleine Dos und Don'ts: der Marmeladenlöffel etwa oder die Küchenrolle, die auf keinen Fall fehlen dürfen. Kann Käse im Papier auf den Tisch? Darf es Abendbrot vom Teller geben oder müssen es Brettchen sein? Wie laut ist es am Tisch? Kann man aufstehen und sich was holen oder muss man es sich geben lassen? Was passiert, wenn einer rülpst? Nimmt man sich Brot oder gehört es sich, erst den Tischnachbarn zu bedienen? Darf man gleichzeitig reden, sich ins Wort fallen, mit vollem Mund sprechen? Darf das Flugzeug rechts neben dem Teller parken, zwischendurch aufgetankt werden?
Dabei rutschen wir immer wieder in uralte Reflexe. Spielzeuge haben am Esstisch nichts verloren! Mit vollem Mund spricht man nicht! Können wir nicht einmal ein friedliches Essen haben? Vielleicht gut zu wissen, dass wir nur maximal zwanzig Prozent unseres Verhaltens und Sprechens bewusst steuern, manche sprechen sogar nur von fünf Prozent. Mimik, Gestik, Tonlage, Blick, Haltung ... - wir transportieren sehr vieles, was uns nicht bewusst ist.
Es sind ungeschriebene Gesetze, oft vererbt, oft unreflektiert, die Eltern am Tisch abspulen: »Zumindest probieren könntest du.« »Hauptsache, gesund!« »Du kannst doch nicht immer das Gleiche essen.« Anderes verfestigt sich bis zum Sprichwort - oft mit beißendem Beigeschmack: Da sind Menschen, die den Hals nicht vollkriegen oder die Suppe auslöffeln müssen. Da wird jemand in die Pfanne gehauen oder über den Tisch gezogen, ein anderer lässt sich unterbuttern oder nimmt den Mund zu voll. Eltern begegnen am Esstisch ihrer eigenen Kindheit. Es ist der Ort, an dem alte Erlebnisse unerwartet auftauchen, an dem Eltern dem ausgesetzt sind, was sie selbst erlebt haben, und eingebrannte Muster und Reflexe ungewollt reproduzieren.
Der gängigste blinde Fleck von Eltern am Tisch ist, keinen zu bemerken. Ich bin überzeugt: Würde man bei einem x-beliebigen Essen in der eigenen Familie ein Aufnahmegerät mitlaufen lassen, alles mitschneiden - die vielen guten Ratschläge und die Belehrungen, die Nachbohrereien, die Kommentare und auch die Zurechtweisungen - die allermeisten Eltern könnten die Aufnahme nicht mal bis zum Ende abhören. Das soll ich sein? Warum rede ich da ständig rein? Kann mal bitte jemand meine Kinder in Ruhe essen lassen?
Wenn das Baby zum Kleinkind wird und mit am Tisch sitzt, ist ein guter Moment gekommen, um innezuhalten, um die vielen offenen Fragen einzufangen, die sich im Windschatten des Trubels weggeduckt haben. Es ist ein guter Moment für dieses Buch: Was für eine Familie sind wir da am Familientisch? Was ist uns hier, an diesen zwei, drei Quadratmetern, wichtig? Wer sitzt da alles und wie? Dürfen Gäste spontan dazukommen? Wie geht's den Geschwistern miteinander? Hat jeder seinen festen Platz? Wer kocht? Wer deckt ab? Worauf legen wir beim Essen wert? Von Beikost bis Feinkost, von Rosmarinkartoffeln mit Bio-Kalb im Gläschen bis zu Sushi, Shiitake, Seitan, von Immer-Pfannkuchen bis Wann-lernst-du-endlich-für-Mathe. Wie erleben alle die gemeinsamen Essen, die Ruhe, die Hektik, das Miteinander? Im Alltag rumpelt das romantische Ideal der immer gut gelaunten, harmonischen Familie frontal mit Einkaufen-Putzen-Steuermachen-immer-ich aufeinander. Am Familientisch wird gestritten - mal mehr, mal weniger. Das ist eine Tatsache, kein Problem. Das verwechseln Eltern oft. Das Gemeine: Je dringender wir Konflikte loshaben wollen, desto mehr und lästiger werden sie. Der Familientisch ist ein guter Ort für Streit. Jeder Erwachsene bringt eigene Erfahrungen mit diesem besonderen Ort mit. Es ist gut, sich genau darüber zu unterhalten: Wie war es bei dir am Esstisch und wie war es bei mir? Und wie wollen wir es miteinander haben?
Solche Gespräche haben ein Problem. Sie finden nicht statt. Und wenn doch, dann zu selten. Familie ist immer neu, da steckt immer Entwicklung drin. Sie ist die Beziehung in unserem Leben, in der am meisten in Bewegung ist. Der Esstisch ist der Ort, an dem sich das alles spiegelt: gute Vorsätze und tägliches Scheitern, Lachen, Streiten, Es-nicht-Hinkriegen, Neuprobieren.
Die Fragen rund um Familie am Tisch werden oft auf später verschoben oder vielleicht auch gar nicht richtig ernst genommen. Viel wichtiger sei doch - das höre ich ganz oft von Eltern -, sich mal ein Wochenende zu zweit frei zu boxen. Eine Auszeit vom Elternsein, richtig ausspannen, tüchtig durchschnaufen. Das gönne ich allen, wenn es machbar ist. Aber es hilft einem nicht im Alltag. Das Signal dahinter: Man braucht endlich mal Erholung von dieser ganzen Belastung. Ist es das, wie wir als Familie eigentlich sein wollten? Neu ist für Eltern heutzutage eine dichte Gleichzeitigkeit von vielen Rollen. Aus der Work-Life-Balance ist längst eine Kids-Life-Work-Partnership-und-wann-gehen-wir-endlich-mal-wieder-tanzen-Balance geworden.
Ungefähr ab dem Zeitpunkt, wenn ein Kind mit am Tisch sitzt, haben Eltern die Chance, und ich würde sagen, auch die Aufgabe, sich wieder um ihr eigenes Leben zu kümmern, und zwar im Zusammensein mit ihrem Kind oder ihren Kindern. Sie haben jeden Tag zu viel auf dem Teller. Sie sind erschöpft, sie wollen allem nicht nur gerecht werden, sondern es auch gut machen. Für das Zusammenleben halte ich es für überlebensnotwendig, dass die Erwachsenen im Miteinander mit ihrer Familie sich auch um sich selbst kümmern. Ein Lernfeld, das am Familientisch ins Zentrum gehört.
Manchmal schleicht sich bei Eltern etwas ein, was ich gern »Ufo-Vorstellung« nenne: Der ganze irdische Alltag mit den Sorgen, Problemen und Angespanntheiten soll dann Pause haben, man sitzt auf extraterrestrischem Raum, »endlich ein Essen in Ruhe und Frieden«. Mit diesem - oft unbewussten - und immer gut gemeinten Wunsch stehen wir uns selbst im Weg. Denn das Großwerden am Esstisch, dieses kindliche Orientieren, das Sich-Umschauen und Ausprobieren, braucht natürlich Zeit und Raum, auch für Fehlversuche und Krisen. Da wird erzählt, diskutiert, nachtarockt. Alles, was in der Luft liegt, kommt auf den Tisch. Familie, auch der Familientisch ist nicht immer das Gelbe vom Ei - wie wunderbar! Essen am Familientisch ist Familienleben. Es gibt kein Abheben, kein Ufo, keine große Pausentaste. Der Alltag geht weiter. Der Schulstress und der eingestürzte Bauklotzturm, der Zoff mit der Freundin, der Bürostress der Eltern, das schwierige Personalgespräch. Alles und jeder sitzt mit am Tisch. Und Kinder nehmen die Gestimmtheit der Eltern mit allen Poren auf.
Jede Familie ist und isst dabei auf ihre eigene Weise. Frühstücken im Stehen etwa geht für manche überhaupt nicht. Und in anderen Familien ist es das Beste, was man am Morgen an Begegnung bekommen kann. Ich kann für mich überlegen: Ist mir wichtig, was auf den Tisch kommt, welche Qualität das Essen hat, oder liegt für mich der Schwerpunkt darauf, dass wir überhaupt zusammensitzen? Dürfen die Kinder schlecht gelaunt zum Essen kommen oder ist da Eitelsonnenschein? Vielleicht muss sich gerade auch etwas ganz grundsätzlich verändern, bis hin zum Möbelstück: Unser Tisch...
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