Schweitzer Fachinformationen
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Das gurgelnde Schnauben des Nilpferds, abrupt unterbrochen vom Trompeten zweier Elefanten, dicht gefolgt von unerschrockenem Gebrüll aus tiefster Löwenkehle: Andere haben einen Wecker, ich habe monströse Naturgeräusche. Wenn ich morgens ins Bad gehe, denke ich, dass es schlimmere Arten gibt, geweckt zu werden. Im Spiegel werfe ich einen raschen Blick auf meinen Dreitagebart, eine Rasur halte ich auch heute für unnötig. Den größten Teil des Tages werde ich zu Hause am Küchentisch sitzen und an der Präsentation für den späteren Nachmittag arbeiten.
Die Tage, an denen ich mit dem Rad die Grachten entlanggehetzt bin, von Fördermittelkommission zu privaten Co-Finanziers, von der Bank zum Filmförderfonds, Schnellhefter mit Finanzierungsvorschlägen und Project Proposals im Gepäck, gehören glücklicherweise der Vergangenheit an. Ich lebe nun den perfekten Kindheitstraum, bin als Hauptrolle für den Film gecastet worden, zu dem ich selbst das Drehbuch schreiben durfte. Inzwischen ist es zwei Jahre her, dass ich diesen Schritt gemacht habe, der viele überrascht hat, den ich aber nach wie vor nicht als radikale Kehrtwende betrachte. Ich habe die gierigen Hyänen an der Herengracht gegen die Schabracken-Hyänen im Schleichkatzengehege, die Aasgeier vom Museumplein gegen ihre bleichen Artgenossen in der riesigen Raubvogelvoliere eingetauscht. Die durchtriebene, scharfzüngige Kollegenmeute habe ich noch keine Sekunde vermisst. Wenn ich Menschen aus meinem früheren Leben in der Stadt über den Weg laufe, kommen sie mir vor wie völlig fremde Wesen - was bestimmt auf Gegenseitigkeit beruht. Das obligtorische, oberflächliche Gespräch - wie geht's, danke gut, viel Stress, alles klar - gerät in der Regel schnell ins Stocken, woraufhin sich einer von uns mit einer lahmen Ausrede aus dem Staub macht.
Ich ziehe die Vorhänge auf und werfe einen Blick nach draußen. Wolken am Himmel, sich wiegende Wipfel, Laub auf Grünanlagen und Gehwegen. Es regnet nicht, ist aber offenbar noch kühl, außerdem weht ein heftiger Wind, der ganz schön tückisch sein kann. Aus dem Korb mit der Schmutzwäsche hole ich mein rotes Lieblings-T-Shirt, darüber ziehe ich meine Glücksbringer-Jacke: das zerschlissene Wildlederjackett, das ich vor einer Ewigkeit für fünfundzwanzig Gulden auf dem Waterlooplein erstanden habe. Dieses Jackett trage ich immer, wenn's drauf ankommt: am hektischen letzten Drehtag, beim Pitchen eines neuen Szenarios oder eben jetzt, am Morgen vor der wichtigen Präsentation. Ich setze mich vor den Spiegel und öffne das Jackett. Seitenverkehrt sehe ich das Motto meines Zoos, das in schwarzen Lettern über dem Kopf eines cartoonesken Elefanten angeordnet wurde.
Als die Kaffeemaschine brodelt, öffne ich die Küchentür und gehe nach draußen. Tagesanbruch - die Zeit rund um Sonnenaufgang ist mir heilig. Ich habe eine feste Route, die mich in einer knappen Stunde über meine Lieblingswege führen wird: meine Weltreise im Morgengrauen beziehungsweise mein Aufklärungsfeldzug vor dem Frühstück. Es ist nicht nur ein herrlicher Spaziergang in morgendlicher Stille und Frische, sondern vor allem ein bestimmter Führungsstil, eine Methode, dem Tierpark als Direktor auf den Zahn zu fühlen, damit ich als Erster weiß, wie es um meinen Zoo bestellt ist und wie es den Tieren geht.
Schräg gegenüber der Zoodirektor-Wohnung lebt die kleine Katzenbärin, die wie immer in ihrem einsamen Baum vor sich hin döst. Jeden Morgen klatsche ich im Vorbeigehen in die Hände, woraufhin die Katzenbärin kurz ihren hellbraunen Kopf hebt. Aber an diesem Morgen reagiert sie nicht. Ich klatsche erneut, diesmal lauter, aber nicht einmal der buschige Schwanz bewegt sich. Ein sympathisches Tier, das nur macht, worauf es Lust hat. Schnell gehe ich am Verwaltungsgebäude »Die Hoffnung« vorbei zu den Menschenaffen. Seit ich hier Direktor bin, habe ich ein paar interessante Studien über Schimpansen gelesen. Die meisten Weibchen sind in den letzten Tagen fruchtbar geworden, ihre Hinterteile und Genitalien sind so rosig wie die Glasur eines Cremeschnittchens und so prall wie ein Ballon. Im Affenhaus sehe ich die jungen Männchen herumtollen wie wild gewordene Halbwüchsige, gesteuert von ihren Hormonen. Das Alphamännchen wartet währenddessen geduldig und souverän in seinem Hochnest aus Traktorreifen und Stroh. Das primitive Gebalze seiner jugendlichen Kumpane ignoriert er. Inzwischen kenne ich mich aus und weiß, dass er es sich erlauben kann zu warten, weil sich ihm die Weibchen kurz vor dem Eisprung freiwillig anbieten werden. Für die jungen Männchen ist das Balgen und Balzen nur ein Spiel, die Chance auf Befruchtung ist in der frühen Phase gering. Erst auf dem Höhepunkt ihrer Fruchtbarkeit werden die Weibchen wählerischer. In gewisser Weise kommt mir das Sexualverhalten im Affenhaus viel zivilisierter vor als das unüberlegte Rumgevögel in der großstädtischen Menschenwelt.
Kaum habe ich die Tür des Affenhauses hinter mir geschlossen, höre ich das laute Heulen der Wölfe - was mir stets Gänsehaut beschert. Eine der Fragen beim Vorstellungsgespräch - eine dieser lockeren Einstiegsfragen, um das Eis zu brechen - hatte dann auch gelautet: »Was machen Sie, wenn sich Anwohner über das nächtliche Heulen der Wölfe beschweren?« Ich muss ziemlich verwundert reagiert haben, da ich mir einfach nicht vorstellen konnte, dass es Anwohner gibt, die so etwas tatsächlich tun. Ein Irrtum, denn vor allem in der Plantage Middenlaan wohnen einige fanatische Tierhasser, die sich noch immer nicht damit abgefunden haben, dass es hier seit hundertfünfzig Jahren einen Zoo gibt, bewohnt von Tieren, die bei Sonnenauf- und -untergang Urlaute auszustoßen pflegen. »Ich würde ihnen eine Jahresfreikarte anbieten«, schlug ich vor. »Ich würde sie einladen vorbeizuschauen, die Tiere kennen und ihre Bedeutung schätzen zu lernen. Vielleicht sollten wir demnächst mal eine nette Grillparty für die Nachbarn organisieren. Ein üppiges Fleischbankett für Mensch und Wolf.«
Das Gremium schüttelte nur den Kopf. Das hatte man alles längst ausprobiert - leider ohne jeden Erfolg.
»Auch die Wölfe sind Amsterdamer«, fuhr ich mit ernster Stimme fort. »Und genau das muss man den Leuten klarmachen. Man sollte stets das Gespräch mit den Anwohnern suchen. Ein Tierpark, der mitten in der Stadt liegt, kann sich keine Nachbarschaftsstreitigkeiten erlauben.«
Das Gremium nickte und hakte die Frage wohlwollend ab.
Malaysische Tapire sind seltsame Tiere, an denen rein gar nichts stimmt. Ich betrachte das Jungtier, das gerade seine jugendliche Fellzeichnung verliert und seiner Mutter immer ähnlicher wird. Vorne schwarz und hinten weiß - keine Ahnung, wer sich das ausgedacht hat! Tapire sind der beste Beweis dafür, dass die Evolution ein ebenso übermütiger wie irrationaler Prozess ist. Survival of the Weirdest - darauf scheint es in der Natur oft hinauszulaufen.
Ich gehe weiter zu meinen beeindruckendsten Nachbarn, den Bewohnern des riesigen Gorillahauses aus Beton. Die sieben Westlichen Tieflandgorillas sind nicht etwa irgendwelche Gorillas: Ihrem wissenschaftlichen Namen nach handelt es sich um echte Gorillagorilla-Gorillas - also um die gorillamäßigsten Gorillas aller Gorillas! Für mich ist dieses Tier untrennbar mit dem Kino verbunden. Ich weiß noch, wie mich mein Vater vor fast vierzig Jahren in Gonga: The Giant Jungle Monarch mitgenommen hat, in den Blockbuster mit Dan Shor - ein lustiger Film über einen einsamen Großstadtjungen, der sich mit einem Schauspieler in einem Gorillakostüm anfreunden will. Weil es dem Jungen nicht gelingt, eine Beziehung herzustellen, beschließt er, das Kostüm zu klauen. Anschließend versucht er als Gorilla irgendwelchen Großstadtbewohnern näherzukommen, leider ohne Erfolg. Statt akzeptiert zu werden, jagt er den Menschen erst recht Angst ein. Der Gorillafilm blieb während meiner gesamten Jugend ein heiß geliebtes Genre. Natürlich sah ich auch Mighty Joe Young von Ernest Schoedsack und viele weitere King-Kong-Varianten, von denen mir die Originalversion mit Fay Wray nach wie vor die liebste ist. Als Student des Studiengangs »Produktion« habe ich sie mir in der Mediathek der Filmhochschule alle noch mal angesehen. Mit einem befreundeten Drehbuchautor habe ich damals sogar ein Treatment für den ersten niederländischen Menschenaffenfilm geschrieben. Es ging um einen Gorilla, der aus dem Rotterdamer Zoo flieht, um nach der jungen Frau zu suchen, die ihm in die Augen geschaut hat. Das Projekt hat es bloß bis ins Büro des Filmförderfonds geschafft, wo man fand, der Plot sei zu unglaubwürdig, die Geschichte zu gewollt. Nach diesem tapferen ersten Versuch beschloss ich, mich von nun an auf die Produktion konventionellerer Filme zu konzentrieren: auf bewährte Problemfilme über dysfunktionale Vorstadtfamilien und kaputte Ehen, auf realistische Themen mit lauter lebensnahen Figuren, Menschen aus Fleisch und Blut, mit denen sich der Kinobesucher identifizieren kann. Sie wurden ausnahmslos kommerzielle Erfolge. Es muss an den Filmen meiner Jugend liegen, dass ich mir oft einbilde, in jedem Gorilla verberge sich ein Mensch. Die straffe Gesichtshaut erinnert an billiges Plastik, die monströsen Bewegungen wirken wie inszeniert. Noch heute suche ich an ihrem Rücken nach dem Reißverschluss des Kostüms, hinter ihren Augen nach dem stummen Blick eines Stuntmans. Auch an diesem Morgen liegen die Tiere wieder da wie erschöpfte Filmstars, wie behaarte Puppen an einem verlassenen Set. Sie müssen schwitzen in dieser Montur.
Ich verlasse das angenehm warme Gorillahaus, begrüße die stets scheuen Sumpfantilopen und mache einen großen Bogen um das Insektarium. Käfer und...
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