Schweitzer Fachinformationen
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Vor dem Leben mag man davonlaufen können, vor seinem Schicksal jedoch nicht.
Das waren Omas letzte Worte an mich gewesen. Am Tag, an dem sie uns verließ, hatte die Sonne geschienen. Sogar der Tod betrauerte ihr einfaches, stilles Leben, indem er zu Sonnenstrahlen wurde, die auf uns herabfielen. An diesem Frühlingstag, an dem die Gräser so ungewöhnlich schön aussahen, vergoss ich keine Tränen.
Ich staunte nicht schlecht, was mein siebenundzwanzigjähriges Ich selbst jetzt, da Oma fort war, in einem Monat so alles schaffen konnte. Ich kochte mir Essen, ließ mir die Haare schneiden und tauschte endlich die Batterien in meiner stehengebliebenen Uhr aus. Solange ich nur vorgab, voller Leben zu stecken, verging die Zeit ohne Probleme. Ich hatte schon vor einer ganzen Weile lernen müssen, dass aus gestern heute und aus heute morgen werden würde, ganz egal, ob nun jemand gestorben war oder nicht.
Selbst in ihrem letzten Moment, als sie sanft einschlief, hatte sie die Arme sorgsam gefaltet auf ihrer Körpermitte gehalten. Oma war schon immer eine sehr ordentliche Frau gewesen, was es mir leicht machte, die letzten Spuren ihres Lebens zu sortieren.
»Yeonhwa! Wie fühlst du dich?«
»Gut. Ich denke, ich habe inzwischen alles so weit im Griff.«
»Du sagst immer, dass es dir gut geht. Da mache ich mir nur noch mehr Sorgen.«
Yiryeong, die mir beim Umziehen half, streckte mir ein Feuchttuch entgegen. Ich hatte Glück, dass ich mich nicht damit abkämpfen musste, meine Tränen zurückzuhalten. Es gab schlichtweg keine. Natürlich lag es nicht daran, dass ich nicht traurig war. Omas Tod vor einem Monat war wie ein plötzlicher Donnerschlag durch mein Leben gehallt und machte mir durchaus zu schaffen. Ich wollte aber nicht weinen. Schon als Kind hatte ich meine Eltern bei einem Autounfall verloren und Abschieden gegenüber seitdem eine gewisse Toleranz entwickelt.
Als inzwischen erwachsene Frau, die einfach alles durchstehen konnte, was das Leben ihr so entgegenwarf, fühlte ich mich dennoch weitaus weniger glücklich, als man denken mochte.
»Yiryeong, zur Feier des Tages gebe ich heute eine Runde Jjajangmyeon aus!«
»Oh ja, Nudeln sind super!«
»Wäre dir dazu Tangsuyuk lieber? Oder Kkanpunggi?«
»Die teurere Variante.«
»Da mache ich aber auch nur heute eine Ausnahme.«
Dass meine ganz eigenen vier Wände endlich mit Leben erfüllt waren, wollte ich unbedingt mit einem guten Essen feiern. Als Oma noch lebte, bestellte ich zu Jjajangmyeon meistens nicht das Schweinefleisch in süßsaurer Soße, damit es nicht zu teuer wurde. Heute aber würden wir es uns mit dem noch teureren Fried Chicken in scharfer Soße und viel Knoblauch gut gehen lassen. Ich wollte in Zukunft nur noch glücklich sein und Spaß haben, und damit würden wir gleich anfangen!
Unter der Woche am späten Nachmittag etwas beim Chinesen zu bestellen war eine ausgezeichnete Wahl gewesen. Es dauerte keine halbe Stunde, bis das Essen ankam und Yiryeong dem Lieferdienst freudig die Tür öffnete.
Eine Portion würziges, süßlich duftendes Kkanpunggi-Hähnchen und zwei schimmernde Schüsseln mit Jjajangmyeon. Von der dunklen Sojabohnensauce, die die gelblichen Weizennudeln sorgfältig umschloss, ging ein deftiger, öliger Geruch aus. Auch das Ei mit seinem kross gebratenen Rand konnte sich durchaus sehen lassen. Es erschien mir ein wenig zu schade, um es pur zu essen, daher träufelte ich noch ein paar Tropfen Sesamöl darauf und streute etwas Chilipulver darüber. Als ich Yiryeongs Ei derselben Prozedur unterzog, schluckte sie wie ein Welpe, dem vor lauter Warten auf sein Fressen das Wasser im Mund zusammenlief. Sie sah so niedlich aus, dass ich absichtlich für einen Moment die Hand über ihrem Ei schweben ließ.
»Jetzt streu es schon drüber.«
»Wie wäre es mit einem >Bitte<?«
»Ach, mach bitte hin!«
»Hehe, dann lass es dir schmecken.«
Wir stürzten uns so tief in die Schüsseln, dass unsere Nasen an den Rand stießen. Für eine Weile hörte man nichts außer den Schlürfgeräuschen, mit denen wir die Nudeln praktisch inhalierten. Der Laden war wirklich gut. Ich nahm mir vor, in Zukunft öfter dort zu bestellen. Die Nudeln in Kombination mit der süßsauren Soße des scharfen Hähnchens schmeckten einfach hervorragend.
Heute war ein Tag, an dem ich mir keine Gedanken darüber machte, ob ich von dem Essen zunehmen würde oder die Bestellung mein Budget gesprengt hatte. Ich genoss einfach nur jeden Moment, wie er auf mich zukam, ganz frei von Sorgen. Hoffentlich würde mir dies auch in Zukunft noch so gelingen. Ein Leben ganz ohne Kummer und Sehnsucht.
»Was wirst du mit dem Hwawoldang machen?«
»Morgen treffe ich mich wegen Omas Nachlass mit dem Anwalt. Mit ihm soll sie schon vor langer Zeit alles festgelegt haben.«
»Und du willst den Laden echt nicht selbst übernehmen? So wie du ihr immer über die Schulter geschaut hast, beherrschst du die ganzen Backtechniken doch auch.«
»Ich will absolut kein eigenes Geschäft führen. Sobald ich mich ausreichend vorbereitet habe, bewerbe ich mich bei irgendwelchen großen Unternehmen. Oma, Mama und Papa beten da oben im Himmel gerade sicher schon, dass ich in irgendeiner guten Firma unterkomme.«
Bereits seit Generationen betrieb unsere Familie die Konditorei Hwawoldang. Schon meine Ururgroßmutter hatte sie vor langer Zeit an ihre Tochter vererbt und diese wiederum an Oma. Mit jeder Übergabe wurde sie nach den ganz eigenen Vorstellungen ihrer neuen Besitzerin eingerichtet und geführt.
Ursprünglich wäre dann meine Mutter an der Reihe gewesen, das Geschäft zu übernehmen, allerdings blieb Oma nach ihrem Tod, als ich zehn Jahre alt war, nichts anderes übrig, als die Konditorei selbst weiterzuführen.
Ich wuchs also bei meinen Großeltern auf und verbrachte bis zu meinem Grundschulabschluss entsprechend viel Zeit mit Oma im Hwawoldang. Seit Beginn der Mittelschule war ich allerdings kaum dort gewesen.
Kurz gesagt, war mir das aktuelle Hwawoldang fremd. In einer Zeit, in der man nicht einmal mehr den Namen seiner Nachbarn kannte, hatten auch Familienbetriebe ihre einstige Bedeutung verloren, und ich interessierte mich einfach nicht dafür. Außerdem hatte Oma mir immer nur eins gesagt:
»Du musst ein gutes Leben führen, Yeonhwa.«
Ein gutes Leben. Letztendlich war damit doch nur gemeint, dass ich mir als Erwachsene einen anständigen Job suchen sollte, um ein Leben in Saus und Braus führen zu können. Seit die alten Wohnungen in der Nähe der Konditorei abgerissen worden waren, war die Zahl der Kunden allerdings drastisch gefallen. Zumal heutzutage ohnehin nicht mehr viele Menschen auf der Suche nach traditionellem Gebäck waren. Die Leute wollten Macarons und Madeleines, wodurch unsere einzigen Besucher inzwischen nur noch die Fliegen waren, die im Laden ihre Kreise zogen.
Nach den Nudeln erfrischte sich Yiryeong an einem kleinen Stück süß eingelegten Rettich.
»Die Stammgäste werden darüber sicher sehr traurig sein.«
»Da wird es überhaupt keine geben. Oma war eine Nachteule, entsprechend hatte der Laden auch immer nur spät am Abend geöffnet. Vermutlich lief das Geschäft deshalb noch schlechter als sowieso schon.«
»Aber das ist doch total cool! Wie so ein Late-Night-Restaurant!«
»Die richtigen Late-Night-Restaurants machen allerdings auch Umsatz .«
»Wieso genau hat sie die Konditorei denn unbedingt nur abends öffnen wollen?«
Wenn ich an Oma zurückdachte, sah ich sie immer bis weit in die Nacht Teig kneten. Sie stand erst am späten Mittag auf, weshalb ich mich morgens meistens selbst um mein Frühstück kümmern musste. Entsprechend wenig Zeit verbrachten wir damit, uns zu unterhalten. Wenn die Sonne dann unterging, glasierte Oma die Reiskuchen an manchen Tagen mit Sojasoße, während sie den Teig an anderen Tagen in fünf Farben einfärbte. Weshalb sie dies tat und warum ausgerechnet so spät am Abend, hatte sie mir nie erklärt. Für mich war ihr Schweigen immer schwierig und unangenehm gewesen, was auch für eine gewisse Distanz zwischen uns gesorgt hatte.
Aus Sorge, ich könnte ihr auf die Nerven gehen, wagte ich es deshalb nie, ihr Fragen zu stellen.
»Du kanntest deine Oma nicht wirklich, oder?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Dann ist das jetzt doch deine Chance, mehr über sie herauszufinden.«
Ich lächelte schwach über Yiryeongs Worte und schüttelte den Kopf. Es war eine tolle Sache, einen Menschen besser kennenlernen zu können, aber dafür war es entscheidend, dass die Person auch noch unter uns weilte. Wie sollte man jemandem näherkommen, der längst gestorben war?
»Du hast wohl noch nie davon gehört, dass Erinnerungen dafür da sind, die Leere in uns zu füllen.«
»Ist das so?«
Ob ich wohl ein glücklicheres Leben führen würde, nachdem ich die Wissenslücken, die mir zu Omas Leben noch geblieben waren, gefüllt hätte? Ich wollte mit ihrem Tod abschließen, so dass kein Funken Traurigkeit zurückbleiben würde - und wie könnte ich ihr besser gedenken, als mich um das Hwawoldang zu kümmern und dabei nach und nach ihre Schritte zurückzuverfolgen?
»Na gut! Es kann ja nicht schaden, es wenigstens mal zu versuchen!«
Yiryeong strahlte übers ganze Gesicht, als hätte ich sie mit dem Elan in meiner Stimme angesteckt. Mit einer Freundin wie ihr, die mich bei allem unterstützte, konnte ich mich gar nicht einsam fühlen. Ich würde das hier schaffen, ganz sicher sogar. Und so fasste ich mit geballten...
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