Schweitzer Fachinformationen
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La vie est brève, das Leben ist kurz, mürbe Chansonweisheit, nächtlich gesungen im Salon der Señora Mami in Buenos Aires. Juan María Brausen, illusionsloser Texter in einer Werbeagentur, möchte heraustreten aus seinem Leben, ein anderer sein. Nach einer schweren Operation seiner Frau macht er die Erfahrung, dass er nicht zu einer einzigen Existenz verurteilt ist. Hinter der dünnen Wand der Nachbarwohnung hört er die Lebensäußerungen der Prostituierten Queca, und in Gedanken wird er zu Juan María Arce, ihrem brutalen Geliebten. Zugleich phantasiert er sich in die Gestalt des Arztes Díaz Grey, Hauptfigur eines Drehbuchs, an dem er schreibt. Als Queca von ihrem Zuhälter ermordet wird, identifiziert Brausen sich mit dem Mörder und flieht, als Juan María Arce, nach Santa María, in die von ihm selbst entworfene Stadt, wo sich sein Weg mit dem von Díaz Grey kreuzt.
Der Roman, der 1950 erschien, als Onetti in Buenos Aires Redakteur einer Nachrichtenagentur war, bildet den Grundstein seines Ruhms. Er hat bis heute nichts von seiner Faszinationskraft eingebüßt; in ihm tritt der Leser zum ersten Mal in die Welt von Santa María ein.
Die vierzehn Tage blieben hinter mir und verloren sich vermutlich mit meiner gezwungenen, hartnäckigen Haltung im Bett; doch irgendwo überdauert das, was Queca damals hinter der Wand tat und sagte. Und der Sinn dieser vierzehn Tage verbleibt und offenbart sich in der Verwirrung, in der kreisenden Erinnerung, in der Möglichkeit, die Erinnerung könnte ein Anfang oder ein Ende in irgendeinem der sie bildenden Elemente haben. Eine Tür schlug, und eine Frau lachte, während das Brutzeln in der Küche kurz von der Stimme eines Mannes übertönt wurde, der den Text eines Tangos zitierte. Die drei Äpfel in der Fruchtschale rollten ein paar Zentimeter, zerquetscht, verwundet, übelriechend. Betrunken wiederholte der Mann für sich die Verse des Tangos, die Hände auf den Hüften, und suchte zu erraten, ob er noch ein Glas trinken könne, ohne die Haltung zu verlieren. »Nicht zu fassen, du hast ja Angst«, schrie die Frau. Ein weniger Betrunkener griff nach dem Mieder aus Seide und Gummi und warf es aufs Bett. »Sie sind doch alle gleich«, sagte verächtlich und müde die Dicke. Jemand schlug an die Schranktür, näherte sich barfuß, um aufs Bett zu springen, und trat mit beiden Füßen auf das ausgebreitete Mieder. Von einem fernen Ende, als hätte die Wohnung drei oder vier Räume und als befänden sie sich in dem hintersten, sagten vier Männer abwechselnd Pokersätze auf. Queca hob die goldene Uhr ohne Zeiger vom Tisch und küßte sie ab, während der barfuß auf dem Bett Stehende den Körper schaukelte und die Hosenträger klatschen ließ. Der erste Betrunkene schüttelte den Kopf und überlegte angestrengt, ob er die fünfzig Pesos verleihen solle oder nicht; wobei er sich nicht um das Risiko sorgte, den Betrag nicht zurückzuerhalten. »Du hast ja Angst, nicht zu fassen!« wiederholte Queca. Sie legte die Uhr wieder auf den Tisch und streifte mühsam die pelzgefütterten Handschuhe über. »Für Freunde hat man immer was da«, versicherte der Mann, der das Mieder aufgehoben hatte. Das Telefon läutete, und eine Frauenstimme, frischer als alle anderen, laut über dem Geräusch ihrer Schritte, verkündete von der Tür: »Ein Bote für dich. Blumen oder Bonbons.« Der erste Betrunkene kippte die Chiantiflasche, bis er auf der Zunge einen einzigen sauren Tropfen spürte. »Es ist eine Handtasche«, sagte die Dicke. »Er hätte ihr ein paar Scheine hineinlegen können.« Um die Stille, die sich über raschelndem Seidenpapier und einer auf den Fußboden fallenden und vibrierenden Stahlklinge ausbreitete, zu beenden, sagte die frische Stimme: »Den hat es wohl ziemlich erwischt.« Scheinbar zerstreut, hatte Queca es gehört und konterte bitter: »Und du hast Angst!« Sie wiederholte es dreimal, aber leiser, verzweifelter, dann streckte sie sich, neigte den Körper nach rechts und schlug sich überraschend mit der flachen Hand auf eine Gesäßbacke. Alle umringten sie, die Frauen gedrängt und in Unterröcken, die Betrunkenen mit einem Lächeln, das ihren Wunsch bekundete, sich nicht festzulegen, die schlecht rasierten, schläfrigen Pokerspieler, die ihre Spielmarken zählten. Queca begann ihre Rede und hielt nach jeden drei Silben, nach jeden neun, nach jeden siebenundzwanzig, nach jeden einundachtzig Silben inne, um zu lachen. Aber es war kein fröhliches Lachen: es verhieß schwierige Zeiten, in ihm erklang ein unmißverständlicher Tonfall von Warnung und Alarm. »Was ist das für eine Jugend!« sagte Queca. »Zu meiner Zeit hatten wir nicht soviel Angst. Schließlich und endlich mußte es einmal sein. Oder nicht? Und warum nicht sagen, daß wir ziemliche Lust hatten, daß es so bald wie möglich passierte? Das sag ich auch dir, du Unschuldslamm, wo du mehr Lust als Angst hast. Reine Mache, die Angst. Wir kennen das. Heul nicht, du. Wenn der Unglücksrabe drauf reinfällt, na schön, wir nicht. Was, Dicke? Ich war das Geschrei bereits leid, und schließlich haben wir sie ja nicht mit Gewalt hergebracht. Sie ist von ganz allein gekommen, und sogar gebadet und mit mehr Spitzen als eine Prinzessin. Alle gleich, alle gleich, alle gleich! Es interessiert sie nur eines, das, was alle interessiert. Schaust auf den Boden, als hättest du etwas verloren. Ich schwöre dir, hätte ich dir helfen können, sie zu suchen . Ich hatte es mir schon so vorgestellt; drum habe ich Roberto neulich abends gesagt, daß möglicherweise, im letzten Moment . Aber eine Sache ist es, ihn zu hintergehen, eine andere, mich. Trink was, dann fühlst du dich besser.« Die Weinflasche verlor ihre Strohhülle und rollte nackt unter den Tisch, stieß leise klirrend an die andere und blieb liegen. »Gib zu, daß er ungehobelt war«, sagte die Dicke. »Ich kann verzeihen.« Nachdem die Frau mit der frischen Stimme den abgelöst hatte, der auf der Matratze herumgesprungen war, erzählte sie die Geschichte von dem impotenten Rekruten. Vier tanzten, zwei arbeiteten in der Küche; aus dem Badezimmer riet Queca: »Behandle ihn richtig, und mach dir keine Sorgen, ich werde die Sache schon schaukeln. Ich geb dir ein Zeichen, du läßt mich allein, und ich rede mit ihm.« Als der Mann aufgehört hatte zu stöhnen, sagte, in der Mitte des Raumes stehend, Queca: »Ich werde bald sterben, keiner kann mich vom Gegenteil überzeugen. Ein Leben voller Opfer. Der Lump von Ricardo will mich besudeln. Schlag mich tot, es rührt mich nicht: du bist einzig, einzig, göttliches Geschöpf.« Beim Ö des letzten Wortes brach sie in Schluchzen aus, und alle verschwanden, ohne die Tür zuzuschlagen. Allein saß sie auf dem Bett, weinend, oder lief auf Zehenspitzen durch die leere Wohnung, die Hände ausgestreckt, um Leiber anzurufen und die kleinen verlorenen Glückseligkeiten; um den Kopf des nachdenklichen Betrunkenen zu streicheln, um das geliehene Geld aufzusammeln, das sie erbeten hatte, um sich an die Wand zu lehnen, um sich Mut zu machen und barfuß loszurennen, einen Satz zu machen und halb erstickt in die Luft zu lachen. Dann hüpfte sie auf die Matratze, wälzte sich herum, als klebe sie endgültig an der Notwendigkeit des Mannes, bis der Bote an die Tür klopfte und in der Küche die Eier in Öl brutzelten.
Mitte der zweiten Woche verbrachte ich zwischen zwei Zügen eine halbe Stunde mit Gertrudis in Temperley. Ich hatte das Gefühl, ich sei tot oder sei noch nicht für sie geboren und sie habe soeben in ihrem Rückwärtsgang auch die Zeit der heimlichen Verabredungen in Montevideo hinter sich gelassen. Geleitet von dem früheren frischen Ausdruck ihrer Augen, von der leichten Sprödigkeit und Erwartung in ihren Bewegungen, dachte ich sie mir etwa in die Zeit, zu der sie Stein bei Parteiveranstaltungen traf; vielleicht ein paar Wochen vor Steins Erscheinen, als sie voller Ungeduld lebte, aber ohne sich zu übereilen, so gewiß der Fülle und des Ungewöhnlichen all dessen, was sie noch kennenlernen sollte.
Genau am letzten der vierzehn Tage, als Gertrudis' Tag der Rückkehr bereits beschlossen war, ließ Queca nach einem Schweigen, nach einer halben Stunde der Stille ein weiches Lachen vernehmen. Es war an einem Sonntagabend. Ich hörte sie mit der gepreßten Stimme einer Frau lachen und sprechen, die sich über einen Mann im Bett beugt. Ich war sicher, daß ihre Fäuste in den Laken versanken, daß ihr herabhängendes Haar das andere Gesicht kitzelte; sicher, daß ihr Lachausbruch ein dichtes Lächeln auf ihren Zügen hinterlassen hatte, mit dem sie ihre Vergangenheit liebkoste und zugleich geringschätzte, ein Lächeln, das losgelöst war von der kurzen eifersüchtigen Glut des x-beliebigen Mannes, der unter ihr lag.
»Wozu soll ich weinen, sag mir das!« rief sie. »Einer geht, und der nächste kommt. Ich müßte tot sein, um keinen Mann zu haben. Schon als Kind, ich erinnere mich genau, kaum zu glauben, wußte ich, daß es so sein würde. Ich werde nicht weinen. Eher wird mir der Atem ausgehen als die Männer.«
Ich sprang aus dem Bett, plötzlich in Schweiß gebadet, zitternd vor Haß und dem Bedürfnis zu weinen. Es war, als sei ich endlich aus einem vierzehn Tage währenden Albtraum erwacht; als habe der Satz der Frau genau in dem Augenblick die Wirrnis der vierzehn Tage beendet, die Summe der Stunden, in denen ich regungslos, in der Nähe des Tohuwabohus, ...
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