Schweitzer Fachinformationen
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ZWISCHEN DER KÜCHE und der zerstörten Kapelle führte eine Tür in eine Bibliothek von ovalem Grundriß. Der Innenraum schien sicher, nur daß da ein großes Loch in Bildhöhe an der hintersten Wand war, entstanden bei einem Granatfeuerangriff auf die Villa zwei Monate zuvor. Das Zimmer hatte sich dieser Wunde angepaßt, nahm die Gewohnheiten des Wetters hin, den Abendstern, Vogellaute. Es gab darin ein Sofa, ein Klavier, von grauem Leintuch verhüllt, einen ausgestopften Bärenkopf und hohe Buchwände. Die Regale neben der zerrissenen Wand waren vom Regen verzogen, der das Gewicht der Bücher verdoppelt hatte. Auch Blitze drangen in den Raum, immer wieder, warfen ihr Licht über das verhüllte Klavier und den Teppich.
Am hinteren Ende war eine Glastür, mit Brettern vernagelt. Sonst hätte sie durch diese Tür von der Bibliothek bis zur Loggia gehen können, dann die sechsunddreißig Büßerstufen hinunter an der Kapelle vorbei bis zu dem, was einst eine Wiese war, jetzt aber durch Phosphorbomben und Granateinschläge verunstaltet. Das deutsche Heer hatte viele der Häuser, aus denen es sich zurückzog, vermint, so daß die meisten nicht gebrauchten Räume, wie dieser hier, zur Sicherheit versiegelt waren, die Türen verbarrikadiert.
Sie wußte um diese Gefahren, als sie in den Raum schlüpfte, in sein Nachmittagsdunkel. Sie blieb stehen, war sich plötzlich ihres Körpergewichts auf dem Holzboden bewußt und dachte, daß es wahrscheinlich ausreichen würde, jeden Mechanismus auszulösen, den es darin geben mochte. Ihre Füße im Staub. Das einzige Licht ergoß sich durch das ausgezackte Granatloch, das sich gegen den Himmel öffnete.
Mit einem knackenden Trennlaut, als würde er aus einer ungeteilten Einheit gebrochen, zerrte sie den Letzten Mohikaner heraus, und selbst in diesem Halblicht munterten der aquamarinblaue Himmel und der See des Umschlagbildes sie auf, der Indianer im Vordergrund. Und dann, als wäre jemand im Raum, der nicht gestört werden durfte, ging sie rückwärts, in ihren eigenen Spuren, zur Sicherheit, doch auch als Teil eines privaten Spiels, so würde es von den Fußabdrücken her den Anschein haben, als hätte sie den Raum zwar betreten, als hätte ihr Körper sich dann aber aufgelöst. Sie schloß die Tür und brachte das warnende Siegel wieder an.
Sie setzte sich im Zimmer des englischen Patienten in die Fensternische, die bemalten Wände an der einen Seite, das Tal an der anderen. Sie öffnete das Buch. Die Seiten waren in einer steifen Welle aneinandergefügt. Sie kam sich wie Crusoe vor, der ein untergegangenes Buch findet, das ans Ufer geschwemmt und schon getrocknet ist. Ein Bericht über das Jahr 1757. Illustriert von N. C. Wyeth. Wie bei allen kostbaren Büchern war da die wichtige Seite mit der Liste der Illustrationen, jeweils eine Textzeile.
Sie trat in die Geschichte ein, im Bewußtsein, daraus mit einem Gefühl hervorzukommen, als wäre sie in das Leben anderer eingetaucht, in Handlungen, die zwanzig Jahre zurückreichten, ihr ganzer Körper von Sätzen und Augenblicken erfüllt, als erwachte sie aus einem Schlaf mit der Schwere vergessener Träume.
Ihr italienisches Bergstädtchen, Wachtposten für die Nordwest-Route, war über einen Monat lang belagert gewesen, wobei sich das Sperrfeuer auf die beiden Villen und das von Apfel- und Pflaumengärten umgebene Kloster konzentriert hatte. Da war die Villa Medici, in der die Generäle wohnten. Direkt oberhalb die Villa San Girolamo, ein ehemaliges Nonnenkloster, dessen burgähnliche Zinnen es zur letzten Festung des deutschen Heers gemacht hatten. Hundertschaften hatte man dort einquartiert. Als das Bergstädtchen wie ein Schlachtschiff auf See von Brandbomben auseinandergerissen zu werden drohte, zogen die Trupps aus den Militärzelten im Obstgarten in die nun überfüllten Dormitorien des alten Nonnenklosters. Teile der Kapelle wurden gesprengt. Partien der obersten Etage der Villa zerfielen bei Detonationen. Als die Alliierten schließlich das Gebäude einnahmen und es zum Lazarett machten, wurde die Treppe zur dritten Ebene abgesperrt, obwohl ein Teil des Schornsteins und des Daches standgehalten hatten.
Sie und der Engländer hatten darauf bestanden zurückzubleiben, als die anderen Krankenschwestern und Patienten sich zu einem sicheren Standort weiter südlich begaben. In dieser Zeit hatten sie bitter gefroren, keine Elektrizität. Einige Räume öffneten sich zum Tal, ohne eine einzige Wand. Es konnte geschehen, daß sie eine Tür aufstieß und ein aufgeweichtes Bett sah, in eine Ecke geschmiegt, von Laub bedeckt. Oder die Landschaft. Einige Räume waren zu offenen Vogelhäusern geworden.
Die Treppe hatte im Feuer, das die Soldaten vor ihrem Abzug legten, die unteren Stufen verloren. Sie war in die Bibliothek gegangen, hatte sich zwanzig Bücher genommen und auf den Fußboden genagelt, dann eines aufs andere, und so die beiden untersten Stufen ersetzt. Die Stühle waren fast alle zum Verfeuern gebraucht worden. Der Sessel in der Bibliothek war dort geblieben, weil er ständig feucht war, durchnäßt von den abendlichen Gewitterschauern, die durch das Granatloch drangen. Was feucht war, entkam in jenem April 1945 dem Verbrennen.
Nur wenige Betten waren noch übrig. Sie selbst zog lieber mit ihrer Schlafdecke oder Hängematte im Haus herum, schlief manchmal im Zimmer des englischen Patienten, manchmal in der Halle, je nach Temperatur, Wind und Licht. Am Morgen rollte sie ihre Schlafdecke zusammen und verschnürte sie zu einem Rad. Jetzt war es wärmer, und sie machte weitere Räume auf, ließ frische Luft in dunkle Bereiche ein und Sonnenlicht die Feuchtigkeit auftrocknen. In manchen Nächten öffnete sie Türen und schlief in Räumen, denen Wände fehlten. Sie legte sich am äußersten Ende auf die Schlafdecke, mit Blick auf die wandernde Landschaft der Sterne und ziehenden Wolken, erwachte von Donnergrollen und Blitzen. Sie war zwanzig Jahre alt und verrückt und dachte in dieser Zeit nicht an Sicherheit, kümmerte sich nicht um die Gefährlichkeit der vielleicht verminten Bibliothek oder des Unwetters, das sie nachts überraschte. Sie war unruhig nach den kalten Monaten, in denen sie sich auf dunkle, geschützte Plätze beschränken mußte. Sie betrat Zimmer, von Soldaten verdreckt, Zimmer, deren Mobiliar verfeuert war. Sie entfernte Laub und Kot und Urin und verkohlte Tische. Sie lebte wie eine Landstreicherin, während der englische Patient königlich in seinem Bett ruhte.
Von außen sah das Anwesen vollständig verwüstet aus. Eine Treppe im Freien endete irgendwo in der Luft, das Geländer abgebrochen. Das Leben hier war Herumstöbern und tastende Sicherheit. Nachts hatten sie nur das unbedingt erforderliche Kerzenlicht wegen der Banditen, die alles zerstörten, was ihnen in die Finger geriet. Geschützt waren sie durch die simple Tatsache, daß die Villa ein Trümmerhaufen schien. Aber sie fühlte sich sicher hier, halb Erwachsene, halb Kind. Nach dem, was ihr während des Krieges widerfahren war, gab sie sich selbst einige wenige Regeln. Sie würde sich nicht wieder herumkommandieren lassen oder Aufgaben zu einem höheren Wohl erledigen. Sie würde sich nur um den verbrannten Patienten kümmern. Sie würde ihm vorlesen und ihn waschen und ihm seine Dosis Morphium geben – nur mit ihm gab es eine Verbindung.
Sie arbeitete im Garten und bei den Obstbäumen. Sie trug das fast zwei Meter große Kruzifix aus der zerbombten Kapelle und benutzte es als Vogelscheuche über ihrem Saatbeet, befestigte leere Sardinenbüchsen daran, die klapperten und rasselten, sobald Wind aufkam. Drinnen in der Villa war es für sie ein Schritt aus Trümmern zu einer kerzenerleuchteten Nische, wo ihr ordentlich gepackter Koffer stand, der außer einigen Briefen kaum etwas enthielt, ein paar zusammengerollte Kleidungsstücke, einen Metallbehälter mit medizinischem Bedarf. Sie hatte nur einige wenige Winkel in der Villa gesäubert, und all das konnte sie, wenn sie wollte, niederbrennen.
Sie zündet ein Streichholz in der dunklen Halle an und hält es an den Docht der Kerze. Licht hebt sich zu ihren Schultern. Sie ist auf den Knien. Sie legt die Hände auf ihre Schenkel und atmet den Schwefelgeruch ein. Sie stellt sich vor, sie könne auch das Licht einatmen.
Sie rückt ein paar Zentimeter zurück und zeichnet mit einem Stück weißer Kreide ein Rechteck auf den Holzboden. Dann noch etwas zurück, sie zeichnet weitere Rechtecke, so daß eine Stufenpyramide entsteht, einfach, dann doppelt, dann einfach, ihre linke Hand ist flach auf den Boden abgestützt, der Kopf gesenkt, ernst. Sie rückt immer mehr vom Licht weg. Bis sie sich auf die Fersen zurücklehnt und in der Hocke dasitzt.
Sie steckt die Kreide in ihre Rocktasche. Sie steht auf und nimmt den locker sitzenden Rock hoch und macht ihn an der Taille fest. Sie holt aus einer zweiten Tasche ein Metallstück und wirft es vor sich hin, so daß es genau hinter das entfernteste Viereck fällt.
Sie springt nach vorn, landet mit Wucht, ihr Schatten rollt sich hinter ihr in der Tiefe der Halle zusammen. Sie ist sehr schnell, ihre Tennisschuhe rutschen auf den Zahlen, die sie in jedes Rechteck gezeichnet hat, erst mit dem einen Fuß aufkommend, dann mit beiden Füßen, dann wieder mit dem einen, bis sie das letzte Viereck erreicht.
Sie bückt sich und hebt das Metallstück auf, verharrt in dieser Stellung, bewegungslos, den Rock noch immer oberhalb der Schenkel geschürzt, die Hände hängen locker herab, sie atmet heftig. Sie holt tief Luft und bläst die Kerze aus.
Jetzt ist sie im Dunkeln. Nur eine Ahnung von Rauch.
Sie springt hoch und dreht sich in der Luft, so daß sie beim Aufkommen in die entgegengesetzte Richtung blickt, hüpft dann noch unbändiger in die...
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