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Nach Kriegsende wird der vierzehnjährige Nathaniel mit seiner Schwester Rachel von den Eltern in London zurückgelassen. Der geheimnisvolle "Falter", der sie in Obhut genommen hat, und dessen exzentrische Freunde kümmern sich fürsorglich um sie. Wer aber sind diese Menschen wirklich? Und was hat es zu bedeuten, dass die Mutter nach langem Schweigen aus dem Nichts wieder zurückkehrt? "Meine Sünden sind vielfältig", wiederholt sie, mehr gibt sie nicht preis.
Als er erwachsen ist, beginnt Nathaniel die geheime Vergangenheit seiner Mutter als Spionin im Kalten Krieg aufzuspüren. Fünfundzwanzig Jahre nach dem "Englischen Patienten" hat Michael Ondaatje ein neues Meisterwerk geschrieben.
"Michael Ondaatje fühlt sich als Autor wohl im Dunkel, dort wo unter der Oberfläche des für alle Sichtbaren eine zweite Welt existiert, in der sich seine Figuren bewegen. Wir haben es mit Agenten zu tun. Mit Menschen, die verschlüsselte Botschaften senden . Wenn Ondaatje loserzählt, wachsen seinem Roman Flügel." Verena Lueken, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.08.18
Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren. Wir wohnten in London, in einer Straße namens Ruvigny Gardens, und eines Morgens meinte unsere Mutter, oder vielleicht war es auch der Vater, wir sollten uns nach dem Frühstück unterhalten, und sie teilten uns mit, sie würden uns verlassen und für ein Jahr nach Singapur gehen. Also nicht für allzu lange Zeit, sagten sie, aber doch für eine ganze Weile. Natürlich werde man in ihrer Abwesenheit gut für uns sorgen. Ich weiß noch, dass mein Vater auf einem der unbequemen eisernen Gartenstühle saß, als er uns die Mitteilung machte, während meine Mutter, die in einem Sommerkleid hinter seiner Schulter stand, beobachtete, wie wir darauf reagierten. Nach einer Weile nahm sie die Hand meiner Schwester Rachel und hielt sie sich an die Taille, als ob sie sie wärmen könnte.
Weder Rachel noch ich sagten ein Wort. Wir starrten unseren Vater an, der sich über die Details ihres Flugs auf dem neuen Avro Tudor I ausließ, einem Nachfolger des Lancaster-Bombers, der eine Geschwindigkeit von mehr als 300 Meilen pro Stunde erreichte. Sie würden mindestens zweimal zwischenlanden müssen. Er erklärte, er werde die Zentrale von Unilever in Asien übernehmen, ein Karriereschritt. Es werde gut für uns alle sein. Er sprach eindringlich, und irgendwann wandte sich meine Mutter ab und blickte auf ihren August-Garten. Als sie merkte, dass ich verstört war, kam sie zu mir herüber, nachdem mein Vater zu Ende geredet hatte, und fuhr mir mit den Fingern wie mit einem Kamm durchs Haar.
Ich war vierzehn damals, Rachel beinahe sechzehn, und sie versicherten, ein Betreuer, wie meine Mutter ihn nannte, werde sich in den Ferien um uns kümmern. Meine Eltern bezeichneten ihn als Kollegen. Wir kannten ihn bereits - wir nannten ihn »den Falter«, den Namen hatten wir erfunden. In unserer Familie gebrauchte man gern Spitznamen, was bedeutete, dass man sich in unserer Familie auch gern verkleidete. Rachel hatte mir schon gesagt, dass sie ihn im Verdacht hatte, ein Krimineller zu sein.
Das Arrangement wirkte merkwürdig, doch hatte das ganze Leben in der Zeit nach dem Krieg noch immer etwas Zufälliges und Verwirrendes, also kam uns der Vorschlag nicht falsch vor. Wir nahmen jedenfalls die Entscheidung hin, wie Kinder es eben tun, und der Falter, der vor kurzem als Mieter bei uns in den dritten Stock gezogen war, ein bescheidener Mann, groß, aber mit seinen scheuen Bewegungen einem Falter ähnlich, sollte die Lösung sein. Unsere Eltern hatten gewiss angenommen, auf ihn sei Verlass. Ob sie ahnten, dass der Falter ein Krimineller war, wussten wir nicht recht.
Früher hatte es vermutlich Versuche gegeben, uns als Familie zusammenzuschmieden. Hin und wieder nahm mich mein Vater an Wochenenden oder Feiertagen in die verwaisten Büros von Unilever mit, und während er beschäftigt war, wanderte ich durch die Räume im zwölften Stock des Gebäudes. Ich stellte fest, dass alle Schubladen abgeschlossen waren. Es gab nichts in den Papierkörben, keine Bilder, nur an einer Wand seines Büros hing eine große Reliefkarte, auf der die ausländischen Niederlassungen der Firma eingetragen waren: Mombasa, die Kokosinseln, Indonesien. Und, näher bei uns, Triest, Heliopolis, Bengasi, Alexandria, Orte, die das Mittelmeer begrenzten, Gebiete, die, wie ich glaubte, meinem Vater unterstanden. Von hier wurde Fracht auf Hunderten von Schiffen verschickt, die in den Fernen Osten und wieder zurück fuhren. Die Lämpchen auf der Karte, die diese Städte und Häfen markierten, waren am Wochenende nicht eingeschaltet, ebenso im Dunkeln wie jene fernen Außenposten.
Im letzten Augenblick wurde beschlossen, dass unsere Mutter die wenigen Wochen bis zum Ende des Sommers noch dableiben würde, um mit dem Mieter alles Notwendige zu besprechen und uns für den Schulbeginn in einem neuen Internat vorzubereiten. An dem Samstag, bevor mein Vater allein in jene ferne Welt flog, begleitete ich ihn noch einmal in das Büro in der Nähe der Curzon Street. Er hatte einen langen Spaziergang vorgeschlagen, weil er die nächsten Tage, sagte er, in ein Flugzeug gequetscht verbringen müsse. Also nahmen wir einen Bus bis zum Natural History Museum und gingen dann durch den Hyde Park nach Mayfair. Er war ungewöhnlich aufgeräumt und fröhlich und sang vor sich hin: Homespun collars, homespun hearts, Wear to rags in foreign parts. Er wiederholte die Verse beinahe übermütig, als bedeuteten sie eine wichtige Lebensregel. Was war damit gemeint, fragte ich mich. Ich weiß noch, dass wir mehrere Schlüssel benötigten, um in das Gebäude zu gelangen, wo sein Büro das ganze oberste Stockwerk einnahm. Ich stand vor der unbeleuchteten Karte und merkte mir die Städte, über die er in den nächsten Nächten fliegen würde. Schon damals liebte ich Landkarten. Er stellte sich hinter mich und knipste die Lämpchen an, sodass die Berge auf der Reliefkarte Schatten warfen, doch nun fielen mir nicht so sehr die Lämpchen auf, sondern vielmehr die blassblau aufleuchtenden Häfen und die riesigen Flächen unbeleuchteter Erde. Man sah nun nicht mehr das große Ganze, und ich vermute, dass Rachel und ich die Ehe unserer Eltern ganz ähnlich lückenhaft sahen. Sie hatten selten mit uns über ihr Leben gesprochen. Wir kannten nur Bruchstücke von Geschichten. Unser Vater hatte in den letzten Phasen des vorangegangenen Krieges eine Rolle gespielt, und ich glaube nicht, dass er das Gefühl hatte, er gehöre wirklich zu uns.
Was die Abreise anbetraf, so war klar, dass sie mit ihm gehen musste: Es war undenkbar, so fanden wir, dass sie von ihm getrennt leben konnte - sie war seine Frau. Es wäre ein geringeres Unglück, und die Familie würde nicht vollkommen zerbrechen, wenn wir allein zurückblieben, als wenn unsere Mutter sich die nächsten anderthalb Jahre in Ruvigny Gardens um uns kümmern würde. Und wir konnten ja auch nicht Hals über Kopf unsere Schulen verlassen, erklärten sie uns, in die wir nur unter Mühen aufgenommen worden waren. Vor der Abreise unseres Vaters umarmten wir ihn alle, dicht an ihn gedrängt; der Falter war diskreterweise über das Wochenende verreist.
So begannen wir ein neues Leben. Damals glaubte ich es nicht so recht. Und ich frage mich immer noch, ob die Zeit danach mein Leben beeinträchtigte oder mit Energie auflud. In jenen Jahren kamen mir die Gewohnheiten und Zwänge des familiären Lebens abhanden, und als Folge davon verhielt ich mich später unentschlossen, als hätte ich zu schnell meine Freiheiten verausgabt. Jedenfalls bin ich nun in einem Alter, in dem ich darüber reden kann, wie wir aufwuchsen, beschützt von fremden Menschen. Und es ist, als würde man eine Fabel erläutern, die von unseren Eltern handelt, von Rachel und mir und dem Falter und auch den anderen, die später dazukamen. Vermutlich gibt es in solchen Geschichten typische Merkmale und Muster. Jemand muss eine Prüfung bestehen. Niemand weiß, wer der Künder der Wahrheit ist. Menschen sind nicht die, für die wir sie halten, und sie sind auch nicht dort, wo wir sie vermuten. Und es gibt jemanden, der von einem unbekannten Ort aus zusieht. Ich erinnere mich, dass meine Mutter gern von jenen widersprüchlichen Bewährungsproben sprach, auf die in Artus-Legenden getreue Ritter gestellt wurden, und dass sie uns diese Geschichten neu erzählte und sie manchmal in einem kleinen Dorf auf dem Balkan oder in Italien ansiedelte, Orten, an denen sie angeblich gewesen war und die sie uns dann auf der Landkarte zeigte.
Nach der Abreise unseres Vaters kam unsere Mutter uns näher. In den Gesprächen zwischen unseren Eltern, die wir mitgehört hatten, ging es immer um die Angelegenheiten von Erwachsenen. Nun aber begann sie, uns Geschichten über sich selbst zu erzählen und wie sie auf dem Land in Suffolk aufgewachsen war. Besonders gefiel uns die Geschichte von der »Familie auf dem Dach«. Die Eltern meiner Mutter hatten in einer Gegend namens The Saints gelebt, und da gab es nicht viel, was sie störte, nur das Geräusch des Flusses und hin und wieder das Läuten einer Kirchenglocke aus einem nahen Dorf. Doch einmal lebte eine Familie einen Monat lang auf ihrem Dach; sie warfen Dinge durch die Gegend und riefen sich alles Mögliche zu, so laut, dass der Krach durch die Decke und in ihr eigenes Leben drang. Es handelte sich um einen bärtigen Mann mit seinen drei Söhnen. Der jüngste war der Stillste von ihnen, meist trug er Eimer mit Wasser die Leiter hinauf aufs Dach. Doch wann immer meine Mutter das Haus verließ, um im Hühnerstall Eier einzusammeln oder ins Auto zu steigen, sah sie, wie er zuschaute. Sie waren Dachdecker und den ganzen Tag beschäftigt. Um die Abendessenszeit stiegen sie geräuschvoll die Leiter hinunter und gingen nach Hause. Doch dann wurde eines Tages der jüngste Sohn von einer Bö erfasst, verlor das Gleichgewicht und fiel vom Dach; er stürzte durch die Lindenlaube und landete auf den Pflastersteinen vor der Küche. Seine Brüder trugen ihn ins Haus. Der Junge, er hieß Marsh, hatte sich die Hüfte gebrochen, und der Arzt, der ihm einen Gipsverband anlegte, sagte, er dürfe nicht weggebracht werden. Er würde auf einer Bettcouch hinten in der Küche bleiben müssen, bis die Arbeit auf dem Dach beendet war. Unsere Mutter, damals acht Jahre alt, musste ihm sein Essen bringen. Hin und wieder brachte sie ihm auch ein Buch, aber er bekam vor Schüchternheit kaum den Mund auf. Jene zwei Wochen mussten ihm wie eine Ewigkeit vorgekommen sein, erzählte sie uns. Als die Dachdeckerfamilie dann mit der Arbeit fertig war, holte sie den Jungen ab und verschwand.
Wann immer meine Schwester und ich uns diese Geschichte in Erinnerung riefen, kam sie uns vor wie ein Stück aus einem Märchen, das wir...
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