Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Singe, o Göttin, den Groll. Ich lächle, mein Junge, während ich das hier aufschreibe. Es ist hirnverbrannt. Unsere gesamte Literatur ist aus diesem ersten Vers von Homers Ilias hervorgegangen, aber wir haben nach mehr als 2800 Jahren immer noch nicht begriffen, dass wir so nicht weiterkommen. In unseren Köpfen marschieren Helden, wir glauben an großen Mut auf trojanischen Schlachtfeldern und wissen manch Vages vom Zehnjährigen Krieg. Bevor wir die Literatur entsprechend würdigen, denken wir zuerst: Was für ein Kitsch; das ist wie ein Reflex. Nichtsdestotrotz wurde der Grundstein aller wichtigen literarischen Werke in einem Zelt gelegt, in dem ein Held, genannt Achill, vor sich hin schmollte, weil er als der Größte anscheinend doch diese eine schöne Maid nicht bekommen hat, die er sich als Preis auserkoren hatte. Doch diese Ehre gebührt seinem Chef Agamemnon, der nach allem grapscht, ohne Gespür für das, was sich ziemt. Es beginnt mit dem Groll, mit dem Schmollen angesichts eines himmelschreienden Unrechts, das ihm angetan wurde und das von keinem, außer ihm selbst, als so niederschmetternd empfunden wird. Zu alledem weiß keiner von Achills Groll, weil er sich selbst darüber ausschweigt. Spätestens da sollte es uns eigentlich wie Schuppen von den Augen fallen, wie engstirnig das alles ist. Es ist was faul im Staate Griechenland. Das ist kein Bericht über das soundsovielte Schlachtfeld, hier wird nicht einfach nur ein Held besungen. Dieser erste Vers hält uns den Spiegel vor. Mehr noch: Möglicherweise erteilt uns Homer hier direkt eine Warnung. Hütet euch vor dem Groll, hütet euch vor dem Kleingeistigen, das in jedem von uns steckt. Aber nein, alle wollen lieber erfahren, wie es denn weitergeht mit diesem dummen Holzpferd, mit dem die Griechen Troja narren, übrigens eine Szene, die du in der Ilias nicht wiederfinden wirst. Alle ziehen es vor, den Groll zu vergessen, die Banalität; sie quengelt und zieht dir am Hosenbein wie ein nervtötendes Kind. Der persönliche Groll des Einzelnen ist viel mächtiger, viel stärker als wahre Größe, und um einiges tragischer. Eben weil kein Schwein das jemals zugibt und es jeder überspielt, selbst wenn die Fakten offen vor einem auf dem Tisch liegen, dass Groll das Einzige ist, was die Seele einer Person oder einer Stadt oder eines ganzen Land auffressen kann. Am schlimmsten finde ich eigentlich diese ganze Heuchelei. Groll? Den wird keiner je wieder los. Zu viele Warnungen werden in den Wind geschlagen, allzu viel Blindheit wird zugelassen, zu viel üble Machenschaften werden zu lange geduldet, um ihn noch bannen zu können. Diese Heuchelei hat in jedem Land eine andere Färbung, bringt eine spezifische, nicht abgegoltene Schuld mit sich, schleust eine eigene Doppeldeutigkeit mit in die Muttersprache hinein. Und hinterher - falls man davon ausgeht, dass es ein Hinterher gibt - schweigt ein jeder auf seine höchst persönliche, kulturelle und regionale Weise. Erzähl mir also mehr, Muse, vom Groll in dieser Stadt und darüber, wie er gewütet hat und bis zum heutigen Tage wütet. Erzähl mir, wie die Stadt sich manchmal davon freigekauft hat, fügt Angelo hinzu.
In mein Tagebuch aus der Kriegszeit schrieb ich Gedichte, notierte ich ein paar Rachefantasien, führte ich Buch über mein Gewichtheben und andere körperliche Ertüchtigungen und hielt ein paar Witze fest, die ich auswendig lernte, um meine Kollegen ein wenig zu unterhalten. Manchmal entdecke ich darunter etwas, es ist nicht allzu viel, was vom Krieg selbst handelt. Gegen Ende 1941 steht da plötzlich »Weiße Brigade«, dahinter ein Fragezeichen. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich diese Bezeichnung damals irgendwo zum ersten Mal gehört habe. Es war der Name einer Widerstandsbewegung, die zu diesem Zeitpunkt auch in unserer Stadt aktiv gewesen ist. In meinem Notizbuch klebt ein kleiner Ausschnitt aus einem Zeitungsartikel aus Volk und Staat, einem Blatt, das mein Vater manchmal las. Ich schreibe es hier für dich ab: »Wir stellen der >Weißen Brigade< unsere mannhaften Kameraden der >Schwarzen Brigade< entgegen. Täglich flattern Bewerbungen für unsere Miliz herein. Sollte das Blut einer unserer Kameraden die Pflastersteine rot färben, dann wehe den Verantwortlichen, gleich welchen Ranges.« Wehe auch dem Groll.
Täglich flattern anonyme Briefe herein. Kaum ist der Name »Weiße Brigade« in der Öffentlichkeit bekannt, da hagelt es schon die ersten Anschuldigungen. »Oben genannter X, seinerseits Nachbar meiner Schwiegerfamilie, ist gewiss ein Mitglied der Weißen Brigade. Zwielichtige Figuren gehen ständig bei ihm ein und aus. Darüber hinaus züchtet er heimlich Kaninchen, die er offenbar auf dem Schwarzmarkt verkauft. Der Gestank dieser Viecher ist kaum auszuhalten! Ich bitte, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Eine Kopie dieses Briefes geht auch an die Feldkommandantur. Hochachtungsvoll und mit größter Diskretion .«
Manche Beschuldigungen müssen wir wohl oder übel ernst nehmen, andere lässt unser Vorgesetzter links liegen, auf eine Initiative von deutscher Seite her wartend, insbesondere der Geheimen Feldpolizei, deren Aufgabe es ist, jedwede Form des Widerstands, der Sabotage oder anderer Machenschaften zu unterbinden. Das Gefängnis in der Begijnenstraat platzt inzwischen aus allen Nähten. Man setzt viel zu viele Leute wegen viel zu vieler Banalitäten fest. Manche Kollegen lachen sich einen Ast, wenn die Begijnenstraat zur Sprache kommt.
»Das ist da das reinste Bordell, Kumpel, unglaublich! Früher war's schon schlimm, aber heutzutage ist es wesentlich schlimmer.« Meine Schicht ist zu Ende, ich will nach Hause gehen, aber mein Kollege Jean will noch ein wenig weiterplaudern. »Einer meiner Kumpel arbeitet dort. Das ist ein korrupter Haufen, Wilfried, das geht auf keine Kuhhaut. Obwohl alle immer denken, die Deutschen seien so überkorrekt. Da traust du deinen Ohren nicht! Wie ich gehört habe, lassen sich die Deutschen da von Gefangenen dafür bezahlen, dass sie ihnen einen angeblichen Zahnarzttermin besorgen. Aber tatsächlich gehen die Insassen dann mal eben rasch zu ihren Frauen. Unter Begleitung versteht sich! Da geht's zu wie im Taubenschlag. Wer genug Geld in der Tasche hat, kommt dort als Besucher ohne Zugangsgenehmigung rein, gar kein Problem. Die Leute sitzen sich in den Zellen fast auf dem Schoß und die Wachen machen sie regelmäßig rund, wenn sie nicht genug Kleingeld zugesteckt bekommen haben und mehr solcher Geschichten. Zu Befehl? Nichts da. Zu Befehl, wenn es denen in den Kram passt, sonst scheren die sich einen feuchten Dreck drum.« Mit Geld läuft alles wie geschmiert. Da kennt Jean sich aus. Ich schaue verwundert, und er lacht mir ungeniert ins Gesicht.
In derselben Nacht erwischen wir zwei dieser Wichtigtuer auf frischer Tat, die mit weißer Farbe »V« wie »Victory« und den Ausruf »Hoch lebe England« auf den Bürgersteig der Provinciestraat hinter dem Zoo gepinselt haben.
»Beschädigung öffentlichen Eigentums!«, ruft Jean und packt einen der Flegel am Schlafittchen.
Der andere Möchtegernheld winselt: »Unser Vater wollte, dass wir das tun!« Er ringt flehentlich die Hände. Wehe uns! Gnade!
»Na sauber! Den eigenen Vater ans Messer liefern.«
Jean verpasst dem Jungen eine Ohrfeige.
Sie zittern. Das Volk murrt, wie man so sagt. Der Winter ist wieder strenger, das Essen ist knapp geworden, und nur noch wenige können ihre Wohnung ordentlich heizen. Der Besatzer warnt: Es ist verboten, Feindsender zu hören. Aber hinter geschlossenen Vorhängen wähnen sich die Leute noch immer in Sicherheit. Am Vortag hat es eine Demonstration für mehr Brot gegeben, angeführt von Hausfrauen. Lange hat das natürlich nicht gedauert, aber immerhin .
Jean ruckt sein Koppel gerade und schaut mich an: »Was sollen wir jetzt mit diesen Flegeln tun?«
»Normalerweise müssten wir sie in die Begijnenstraat .«, antworte ich, die Rolle spielend, die Jean mir zugeteilt hat.
»Mein Gedanke.«
»Unser Vater wird toben, Herr Polizist.« Das Kerlchen gerät völlig außer sich, sein Bruder, den Jean immer noch am Kragen hat, bleibt eiskalt.
»Da er euch anscheinend beide hierzu angestiftet hat, sollten wir ihm vielleicht auch mal einen Besuch abstatten.«
Derjenige, der ruhig geblieben ist, schaut Jean an und sagt dann: »Wir sind Patrioten. Ihr etwa nicht?«
Jean packt den Jungen am Nacken, drückt zu, bis er blau anläuft: »Vandalen trifft es wohl eher, was?«
»Achten Sie nicht auf meinen Bruder! Der tickt nicht ganz richtig, schon seit der Geburt!«
»Ach tatsächlich?«
»Lassen Sie uns gehen . Wir tun's nie wieder.«
Der andere zuckt die Schultern: »Mir egal. Wir werden euch schon finden, wenn der Krieg vorbei ist.«
»Hast du das gehört .?« Jean schüttelt den Jungen durch.
Sein Bruder rauft sich verzweifelt die Haare: »Nein, bitte nicht . bitte nicht!«
Ich frage ihn nach ihrer Adresse.
»Tolstraat«, bibbert er.
»Das ist verdammt noch mal am anderen Ende der Stadt. Schert euch weg! Macht in eurem eigenen Viertel Ärger!« Jean verpasst beiden Jungen einen kräftigen Stoß. Dem Widerspenstigen gibt er obendrein noch einen Tritt in den Allerwertesten mit auf den Weg.
»Faschistenschweine!«, ruft der Getretene uns hinterher, während die beiden Brüder die Beine in die Hand nehmen.
Jean schaut ihnen hinterher. »Sag mal, kommst du da noch mit? Ich nicht. Und es wird immer schlimmer werden, immer schlimmer. Mach dich auf was gefasst .«
Fünf Wochen später wird es noch schlimmer.
»Wie bitte?«, fragt Jean unseren Vorgesetzten. »Bitte wiederhol das noch...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.