Bindungsangst verstehen
Was ist Bindungsangst?
Laut der Techniker Krankenkasse leiden schätzungsweise 40 Prozent der Erwachsenen an unsicherer Bindung oder an Ängsten, die durch Bindung ausgelöst werden. Der Begriff "Bindungsangst" ruft oft Bilder aus Filmen wie "Die Braut, die sich nicht traut" (1999) hervor, in dem Julia Roberts kurz vor dem Ja-Wort vor dem Altar flüchtet, oder "A Family Affair" (2024), wo Zac Efron als gut aussehender Filmstar jede Beziehung beendet, sobald sie ihm zu eng wird. Doch Bindungsangst geht tiefer und ist weit mehr als nur die Angst vor Nähe, auch wenn dies auf den ersten Blick so erscheinen mag. Im Kern handelt es sich um eine tief sitzende Angst vor dem Verlust des Partners - sei es durch den Entzug von Liebe oder durch eine tatsächliche Trennung.
Weil Angst als äußerst unangenehm empfunden wird, versuchen Betroffene, den damit verbundenen Schmerz des Liebesverlusts um jeden Preis zu vermeiden. Dies führt oft dazu, dass emotional tiefgehende Beziehungen gemieden werden. Diese Angst äußert sich häufig darin, dass Nähe nicht zugelassen wird, bindende Verpflichtungen vermieden werden und enge Kontakte zu Freunden und Familie ausbleiben. Sobald die schützende Distanzgrenze überschritten wird, entsteht ein starker Impuls, wieder Abstand zu schaffen - sei es durch das Flüchten aus der Beziehung oder durch eine gefühlte Teilnahmslosigkeit. Dieses Verhalten ist kein bewusster Versuch, den Partner zu verletzen, sondern ein unbewusst aktivierter Selbstschutz.
Die Persönlichkeits- und Beziehungscoachin Claudia Bechert-Möckel aus Dresden erklärt in ihrem Podcast "Leben Lieben Lassen", dass Menschen sich in Beziehungen nur zu 10 % rational verhalten, während 90 % des Verhaltens unbewusst ablaufen, geprägt durch bisherige Erfahrungen - insbesondere aus der Kindheit. Diese alten Muster wiederholen sich unbewusst, weil es evolutionär sicherer erscheint, auf bekannten Erfahrungen aufzubauen.
Stellen Sie sich die Bindungsangst wie ein Schutzschild vor. Sobald jemand versucht, diesen Schutzschild zu durchdringen und die Gefahr droht, verletzt zu werden, entsteht das Bedürfnis, den "Gegner" - in diesem Fall den Partner - zurückzustoßen und für mehr Abstand zu sorgen. Doch warum hat der Verstand so wenig Einfluss auf diesen Schutzmechanismus? Angst ist eine evolutionär verankerte Emotion, die vor lebensbedrohlichen Situationen bewahren soll. Das Gehirn speichert angsterfüllte Erfahrungen - viel schneller und tiefer als positive Erlebnisse - in der Amygdala, einem Teil des limbischen Systems, ab.
Unser Gehirn ist darauf ausgelegt, uns vor gefährlichen Situationen zu schützen. Es reagiert auf Bedrohungen mit urzeitlichen Überlebensinstinkten: Flucht, Kampf oder Erstarrung. Dabei kann das Gehirn jedoch nicht immer unterscheiden, ob tatsächlich eine Gefahr vorliegt - etwa der Atem eines Säbelzahntigers in unserem Nacken - oder ob wir nur befürchten, dass hinter dem nächsten Gebüsch eine Bedrohung lauern könnte. Bei Bindungsangst verhält es sich ähnlich. Oft gibt es keinen akuten Anlass, der unser Leben bedroht, aber wir befürchten, dass unser Partner uns betrügen, anschreien, verlassen, mit Liebesentzug bestrafen, verachten oder von sich stoßen könnte. Diese Überlebensinstinkte sind in einer Paarbeziehung natürlich alles andere als hilfreich, weil sie die Distanz zum Partner nur vergrößern.
"Mein Herz schlägt schneller als deins,
sie schlagen nicht mehr wie eins (.)
Vielleicht muss es so sein."
Zitat von Andreas Bourani, "Auf anderen Wegen"
Doch muss es wirklich so sein?
Laut dem Paartherapeuten und Autor Eric Hermann aus Hamburg liegt die Ursache dieses Verhaltens darin, dass frühere Trennungs- oder Verlusterfahrungen noch nicht verarbeitet wurden. Um diese Vergangenheit zu bewältigen, ist es wichtig, sich dieser schmerzhaften Erlebnisse zunächst bewusst zu werden. Dazu gehört, zu verstehen, welche Arten von Erfahrungen sich negativ auf unser Bindungssystem auswirken können. Werfen Sie mit mir einen Blick auf mögliche Erlebnisse aus früheren Beziehungen, die auch Ihnen vielleicht bereits widerfahren sind, und lassen Sie uns auch Ihre Kindheit betrachten, die - laut Claudia Bechert-Möckel - maßgeblich unsere Bindungserfahrungen prägt.
Die Psychologie der Bindungsangst
Auf unserer Zeitreise werden wir Stationen mit möglichen prägenden Einflüssen auf das Bindungsverhalten betrachten. Dabei gehen wir gedanklich sämtliche Faktoren durch, die sich schmerzlich verankert haben könnten.
Vor der Geburt
Laut Claudia Bechert-Möckel belegen Forschungsergebnisse aus dem Bereich der pränatalen Prägungen, dass sich Angst- und Stresserfahrungen, ja sogar starke Hungergefühle in der Schwangerschaft auf das ungeborene Kind im Mutterleib auswirken. Dies belegen auch neueste Erkenntnisse aus der Bindungsforschung, sowie die US-amerikanische Studie "Contextualized Stress, global stress and depression in well-educated, pregnant, African-American women" von Fleda Mask Jackson (anerkannte Expertin für mentale Geburtsgesundheit in den USA), Diane L. Rowley (Pädiatrie und Präventiv-Medizin) und Tracy Curry Owens im "Jacobs Institute of Women's Health". Bereits 2012 untersuchten sie die Auswirkungen von Stress auf die Gesundheit von Mutter und Kind.
Wenn wir die Symbiose aus Mutter und Kind während der Schwangerschaft genauer betrachten, erkennen wir eine unmittelbare Verbindung zwischen Mutter und Kind, die sich nicht nur auf ihre Stimme, ihren Herzschlag, die Nabelschnur und das Schwimmen in ihrem Fruchtwasser beschränkt. Der im Mutterleib heranwachsende Embryo spürt durch Hormonausschüttungen auch unmittelbar, wie sich die Mutter fühlt.
Können Ihre Mutter und Ihr Vater ihre eigenen traumatischen Erlebnisse an Sie vererbt haben? In ihrem Buch "Wir können unsere Gene steuern", erläutert die französische Professorin für Neuroepigenetik der Universität Zürich, Isabelle Mansuy, gemeinsam mit Psychotherapeut Jean-Michel Gurret und der Journalistin Alix Lefief-Delcourt im Jahr 2020, wie die Epigenetik funktioniert. Sogar Erlebnisse unserer weiter zurückliegenden Vorfahren wirken sich auf unser Verhalten aus (bspw. Kriegs-/Nachkriegserfahrungen). Unsere Lebenserfahrung wirkt sich über die mRNA auf die zellulären Prozesse aus, die die Aktivität von Genen beeinflussen. Das Forscherteam kann dies anhand von Experimenten an Mäusen nachweisen. Die Mäusekinder wurden beispielsweise in einem der Experimente abrupt von ihrer Mutter getrennt und in ihrer Bewegung eingeschränkt. Anschließend wurde ihr Verhalten im Vergleich zu den nicht traumatisierten Mäusen beobachtet und festgehalten. Erstaunlich war, dass die normal aufwachsenden Kinder und Enkelkinder dieser traumatisierten Mäuse trotzdem dieselben Verhaltensveränderungen der traumatisierten Mäuse aufwiesen. Genauso wie negative Erfahrungen wirkten sich auch positive Erlebnisse auf die mRNA und das Verhalten der Nachkommen aus.
Bei der "Vererbbarkeit" spielt auch emotionale Ansteckung eine Rolle, wenn die Begegnung mit bestimmten Menschen oder Situationen Angst in unseren Eltern auslöst, die von uns spürbar ist.
Frühe unbewusste Kindheit (0 - 4 Jahre)
Laut Claudia Bechert-Möckel sprechen wir bei Kindheitserfahrungen oft über bewusst aus unserem Gedächtnis abrufbare Informationen aus der Vergangenheit. Dabei vergessen wir oft, dass es noch eine Phase in unserem Leben gab, in der wir keine Worte für Erlebtes kannten und uns noch nicht einmal unserer Selbst bewusst waren. Unsere Identität entwickele sich laut dem Psychologen Dr. med. Gerhard Gutscher (Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie) und Pro-KiTa-Verband erst zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr. In dieser frühen Kindheit waren wir extrem abhängig von unseren Bezugspersonen. Bindungs- und Traumatherapeuten sind sich darüber einig, dass traumatische und schmerzhafte Erfahrungen aus dieser Zeit einen besonders prägenden Einfluss auf unser späteres (Beziehungs-)leben haben. Prägend für diese Untersuchungen waren die Längsschnittstudien von Klaus Grossmann in Bielefeld und Regensburg, welche die Bedeutung von Bindung und elterlicher Fürsorge in Bezug auf die psychische Entwicklung im Lebenslauf untersuchten.
Uns können in dieser unbewussten Zeit traumatische Erfahrungen während der Geburt geprägt haben. So können wir spontan, durch einen Kaiserschnitt oder mit diversen Komplikationen auf die Welt gekommen sein. Manchmal kann die im Mutterleib entstandene Bindung zu unserer Mutter nicht fortbestehen, da wir nach der Geburt von ihr getrennt wurden.
Ob sich nun unsere Mutter oder eine andere Person hauptsächlich um uns kümmert: Diese Person wird zu unserer primären Bindungsperson.
Es ist von Bedeutung, wie prompt unsere primäre Bindungsperson auf unsere Bedürfnisse reagiert hat. Als Kleinkind sind dies vor allem die körperliche und emotionale Nähe, das Stillen von Hunger und Durst, unser Ausscheidungsbedürfnis sowie das Begleiten in den Schlaf bei Müdigkeit. Neben der möglichst zeitnahen Bedürfnisbefriedigung ist es von Bedeutung, wie liebevoll mit uns umgegangen wurde.
Schädlich auf unser Bindungsverhalten wirken sich in diesem frühen Entwicklungsstadium das "Schreien lassen" à la "Weinen stärkt die Lungen" aus, das Füttern zu bestimmten Uhrzeiten unabhängig vom tatsächlichen Hungergefühl des Babys und die emotionale Abwesenheit, bei der nicht auf ein Lächeln oder den Blickkontakt eingegangen wird. Grobes Verhalten als Reaktion auf den Ausdruck unserer Bedürfnisse oder Unwohlsein durch Weinen oder Schreien kann für sehr schmerzhafte...