Schweitzer Fachinformationen
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Es war Donnerstag, und ich machte Suppe, eine feste Gewohnheit mittlerweile, griechische Fischsuppe diese Woche. Das Gemüse kochte, und der Dampf schlug sich auf dem Fenster über der Spüle nieder. Die Küche bot einen ungehinderten Blick auf den Strand und das endlose Meer, das in diesem Moment nur eine grau verschwommene Fläche hinter der beschlagenen Scheibe war. Ich hatte die Fische ausgenommen, drei kleine Snapper, und bereitete jetzt die Avgolemono zu, eine Ei-Zitronen-Sauce. Die Früchte sahen schrumpelig aus, aber als ich sie aufschnitt, erfüllte ihr Duft den ganzen Raum. Mir kam es so vor, als ob die Zitronen vom Baum hinter dem Haus intensiver schmeckten und rochen als alle, die ich je irgendwo genossen hatte. Ich schlug das Eiweiß, rührte das Eigelb hinein und fügte dann den Zitronensaft hinzu. Ich hackte die Petersilie, und alles war vorbereitet. Jetzt musste nur noch das Gemüse weich gegart, der Fisch hinzugegeben und in letzter Minute Avgolemono und Petersilie untergehoben werden. Mir blieb also noch Zeit, mich für ein Weilchen draußen auf die Türstufe zu setzen. Ich hatte zwar eine Hängematte und ein paar Rattanstühle auf der Terrasse, doch die nutzte ich selten. Ich zog die Stufe vor.
»Marianne«, sagte ich vor mich hin. »Marianne.«
Neuerdings hatte ich ständig das Bedürfnis, mir den Namen auf der Zunge zergehen zu lassen. Ihm zu lauschen. Ihn mir ins Gedächtnis zu rufen. Er klang nach wie vor fremdartig - als gehörte er nicht richtig zu mir. Oder vielleicht doch, war aber einer anderen Zeit, einem fernen, verschlossenen Raum zugeordnet. Ich hatte mir angewöhnt, ihn mehrmals täglich auszuprobieren. Ich konnte mich nicht recht erinnern, wann ich damit angefangen hatte, doch es war schon eine Weile her. Ich fragte mich, wie das wohl auf andere wirken mochte: eine Frau mittleren Alters, die auf der Türstufe ihres Hauses sitzt und sich immer wieder ihren eigenen Namen vorsagt. Aber es war niemand in der Nähe. Nur Kasper, mein rot-brauner Kater; seine träge blinzelnden grünen Augen blickten, als hätten sie alles gesehen, alles akzeptiert. Er setzte sich neben mich, nahe, doch nicht zu nahe, er blieb in seiner eigenen Sphäre. Wie wir es beide gern haben, dachte ich. Seite an Seite, aber jeder für sich. Wie immer saß er ruhig und geduldig da, während ich meine merkwürdigen Übungen absolvierte. Oder wie auch immer man es nennen wollte.
»Marianne«, wiederholte ich. Es war seltsam zu spüren, wie mein Körper auf den Namen reagierte. Nach all den Jahren.
Er fühlte sich heiß an. Seine Farbe war Rot, und er brannte auf meiner Zunge, bevor er wie eine Flamme aus meinem Mund aufstieg.
Marion dagegen perlte hellblau, fast grau von meinen Lippen. Blass und kühl. Und zerfloss sofort.
Marion.
Marianne.
Ich erhob mich und ging über die Terrasse die Treppe hinunter zum Strand. Das trockene Gras in den Dünen raschelte im leichten Wind. Ich drehte mich um und sah einen Moment lang auf mein Haus. Das kleine Gebäude aus Holzschindeln war ein fester Bestandteil meines Lebens geworden, gehörte zu mir wie mein Körper, und ich betrachtete es selten bewusst. Ich trat ein paar Schritte zurück und schaute es an, wie es da so vor mir stand. Im Haus und davor, überall war Sand. Er störte mich nicht mehr, und ich hatte längst alle Versuche aufgegeben, ihn von den Fußböden fernzuhalten. Ich verbrachte den größten Teil meiner Zeit im Freien, und mir gefiel der Gedanke, dass der Unterschied zwischen Drinnen und Draußen zusehends verschwamm. Es war, als ob sich das Haus mit allem, was es enthielt, langsam zersetzte und irgendwann eins werden würde mit der Erde unter ihm. Inzwischen ging ich barfuß hinein, ohne mir die Füße abzuwischen. Ich hatte lange gebraucht, um dieses Stadium zu erreichen.
Ich wusste, die meisten Leute würden sagen, das Haus benötige einen Anstrich. Aber ich mochte es, wie es war, blank poliert vom Wind und Salz der See, von einem sanften Grau, das in manchem Licht silbrig schimmerte, und die Schindeln fühlten sich glatt und weich an.
»Direkt am Strand« hatte es in der Broschüre geheißen, damals ein Verkaufsargument. Heute nicht mehr, nahm ich an. Zumindest nicht an dieser Küste mit den welligen und flachen Dünen, kaum höher als die Oberfläche des Meeres. Der Ausblick war natürlich gleich geblieben. Unmöglich zu ignorieren, auch nach all den Jahren. Das unendliche Meer, dessen Farbe und Charakter sich von einem Moment zum nächsten subtil veränderten. Nie dasselbe und doch immer dasselbe. Schon vor Bekanntwerden des Treibhauseffekts und des Schmelzens der Polarkappen waren die Dünen ein bewegliches, unsicheres Fundament für ein Haus gewesen. Oft schluckten Oktoberstürme große Brocken von ihnen und spülten sie hinaus ins Meer. Mich störte diese Unsicherheit nicht. Diese Bedrohtheit meiner Existenz. Jenes unterschwellige Wissen um die langsam steigende Flut, die mein Haus eines Tages forttragen, oder die gigantische Woge, die es mit einem Donnerschlag mit sich reißen würde. Dieses Szenario gefiel mir sogar noch besser. Und ich würde mich ergeben. Ich hatte mir eingeredet, dafür bereit zu sein.
Aber bis zu diesem Tag wollte ich an Ort und Stelle bleiben. Ich ging jeden Morgen am Strand spazieren. Als ich zurückgekehrt war, um mich hier niederzulassen, hatte ich mit diesen Spaziergängen angefangen, um meinem Leben irgendwie Form und Struktur zu geben. Als etwas, an dem ich mich festhalten konnte. Doch aus den ersten zögerlichen, eher pflichtbewussten Anfängen war irgendwann eine feste Gewohnheit geworden, fast Teil meiner Arbeit, wenn man es überhaupt so nennen konnte, denn auf diesen Wanderungen sammelte ich mein Material. Treibholz. Steine und Muscheln. Nüsse und Samen. Federn und Knochen. Alles blank poliert vom Meer und weich in meinen Händen, jedes Stück auf seine Weise. Das Sammeln diente zunächst keinem bestimmten Zweck. Ich ließ einfach meinen Blick schweifen, bis er irgendwo hängen blieb, auf einem Stück Holz etwa, das von der Gischt am Rande der zurückweichenden Brandung angespült wurde, bückte mich und hob es auf. Behielt es in der Hand, während ich weiterlief. Es konnte auch ein Stein sein, stets viel farbenprächtiger, wenn er im nassen Sand lag, als später, wenn er trocken war, der sich aber immer weich anfühlte. Besänftigend. Dann hatte ich begonnen, einen Korb mitzunehmen, und im Laufe der Zeit war das Sammeln zielstrebig geworden. Natürlich hatte es das Wesen meiner Spaziergänge verändert. Es waren eigentlich keine Spaziergänge mehr, sondern Expeditionen. Beutezüge, die viel von meiner Zeit und meinen Gedanken beanspruchten.
Sie nannten mich »die Künstlerin«. Oder »die Ärztin«. Oder einfach »sie« oder »diese Ausländerin«, um deutlich zu machen, dass ich irgendwie nicht zu ihnen gehörte. Für sie hatte ich keinen Namen, nur eine Bezeichnung. Trotzdem waren die Leute freundlich. Mehr oder weniger unvoreingenommen, vielleicht auch bloß gleichgültig. Bis zu einem gewissen Grad konnte man hier einfach sein, was man wollte. Es war, als zöge dieser Ort einen bestimmten Typ Menschen an. Großzügige und aufgeschlossene. Selbstverständlich waren nicht alle so; es gab auch andere. Wie überall. Solche, die lieber nahmen als gaben. Aber im Großen und Ganzen waren die Menschen hier anständig und von Natur aus geneigt, andere in Ruhe zu lassen.
Ich hatte darüber nachgedacht, über das Geben und Nehmen, und war zu der Ansicht gelangt, dass es zwei Sorten Menschen gibt: diejenigen, die produzieren und kreieren, und die, die von der Arbeit anderer leben. Nicht nur in materieller Hinsicht und nicht nur hier, in meinem Umfeld. Hier, wie gesagt, vielleicht weniger als anderswo. Nein, generell und überall. Ich war mir nicht einmal sicher, ob die eine Sorte besser ist als die andere. Womöglich werden beide gleichermaßen gebraucht. Aber seltsamerweise kam es mir vor, als hätten letztere - die Nehmer - irgendwie die Oberhand gewonnen. Es schien inzwischen lohnender zu sein, die Ergebnisse der Arbeit anderer zu verwalten, als sich selbst schöpferisch zu betätigen. Sicher war es nicht immer so gewesen. Ich fragte mich, wann sich das Gleichgewicht verschoben hatte und ob es wieder hergestellt werden würde.
Da war ich also, mit den Füßen im Sand, und versuchte, mir albernerweise einzureden, dass ich eine Außenstehende war oder vielleicht sogar über den Dingen stand. Dass die Welt keinen Einfluss auf mich und mein Leben hatte. Dabei war es unmöglich, sich ihrer Realität zu entziehen. Schon durch meine bloße physische Präsenz war ich ein Teil von ihr. Auch dieser entlegene Ort hier war mit mir durch Gegebenheiten verbunden, auf die ich nicht einwirken konnte. Selbst wenn ich den Rest der Welt komplett ignorierte, war er doch vorhanden und würde mich und meine Umgebung unabhängig von dem, was ich tat oder dachte, immer beeinflussen.
Hinter dem Haus war mein kleiner Garten. Vielleicht ein wenig hochtrabend für den sandigen Flecken, wo ich Tomaten, Salat, Zwiebeln und Kräuter zog. Und wo mein Zitronenbaum wuchs, beeinträchtigt durch den ständigen Wind und doch großzügig seine unansehnlichen Früchte darbietend. Er musste sehr alt sein, älter als das Haus. Älter als ich vermutlich. Sein kurzer, knorriger Stamm war unten dick und wies Narben auf, wo Äste abgesägt worden waren. Neben ihm standen ein Grapefruitbaum und eine Feijoa, doch sie waren erst seit kurzem seine Gefährten. Anfangs hatte ich erwogen, Kartoffeln und Süßkartoffeln anzupflanzen, um dadurch noch autarker zu werden. Aber die Vorstellung, durch die Anforderungen eines richtigen Nutzgartens eingeschränkt zu sein, hatte mir nicht gefallen. So, wie er jetzt war, schadete es kaum, wenn ich mich...
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