Schweitzer Fachinformationen
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PROLOG Du spürst ihre Blicke. Du kannst sie nicht sehen, aber du weißt, sie sind da. Es ist, als kitzele ihr Atem dein Ohr. Menschen liegen auf der Wiese, lesend, liebend, gelangweilt. Kinder kreischen, Hunde streiten. Pollen jucken in der Nase. Es ist viel zu hell. Die Alte auf der Parkbank füttert Tauben. Sie weiß nicht, dass es keine Tauben gibt. Du willst schreien, aber das ist sinnlos. Sie kennen dein Flehen, doch sie erhören es nicht. Ihr Experiment würde nicht funktionieren, wenn alle die Wahrheit wüssten. Deine Hand tastet nach den Schläuchen in deinem Hals, den Drähten in deinem Hinterkopf. Doch natürlich spürst du nichts außer dem Schorf der Stellen, die du letzte Nacht blutig gekratzt hast. Tief durchatmen. Ein Ball rollt auf dich zu. Er trägt das verblichene Emblem der vorletzten Fußballweltmeisterschaft. Ein kleiner Junge rennt ihm hinterher. Du hebst den Ball auf, spürst sein Gewicht. Deine Finger ertasten seine aufgeplatzte Oberfläche. Du führst ihn zum Gesicht, riechst Leder, Gras, das bittere Aroma von Hundekot. Dies ist kein Ball. Der Junge bleibt ein paar Schritte vor dir stehen. Er ist höchstens acht. Er wirkt ängstlich. Wahrscheinlich sieht er den gehetzten Blick in deinen Augen. Du versuchst zu lächeln. Wirfst ihm den Ball zu. Er hebt ihn auf und rennt davon, als wärst du ein zähnefletschendes Monster. Die Wahrheit isoliert dich. Die Wahrheit tut weh. Aber die Ungewissheit ist noch weitaus schlimmer. Was, wenn die Träumer doch recht haben? Was, wenn du dein ganzes Leben einer fixen Idee nachgejagt bist wie ein paranoider Irrer? Es sind ihre Zweifel, nicht deine. Sie säen sie in deine Gedanken. Sie wollen nicht, dass du die Wahrheit siehst. Manchmal wünschst du dir, die Zweifel wären so stark, dass du vergisst, was du weißt. Dass du an Tauben und Fußbälle glaubst. Dass du einfach nur durch den Park gehst, die Sonne auf der Stirn spürst, den Sommer riechst, lebst. Doch Vergessen ist unmöglich. Die Wahrheit lässt sich nicht unterdrücken. Du spürst sie einfach, ihre Blicke, ob interessiert, ob mitleidig oder voll perverser Lust an deinem Leid, was ändert das? Wut keimt in dir auf, ziellose Wut. Ein Laut entfährt dir. Die Leute drehen sich um. Du fixierst den Blick auf den Kiesweg. Sie werden dich nicht befreien. Du bist Teil des Experiments. Dein Leid ist kalkuliert. Dein Geist bäumt sich auf. Doch wie könntest du dich je dem Willen der Allmächtigen widersetzen? 1. Hauptkommissar Adam Eisenberg justierte die Optik seines Fernglases. Die Sattelzugmaschine hatte etwa zweihundert Meter entfernt auf einem abgelegenen Freigelände südlich des Hamburger Hafens gehalten, an der erwarteten Stelle. Zwei Männer stiegen aus. Einer von ihnen öffnete den Container. Der zweite sicherte die Szene aus ein paar Schritten Entfernung, die Pistole im Anschlag. »Lotsen, bereit?«, fragte Eisenberg in sein Headset. Er sprach gedämpft, obwohl die Straftäter viel zu weit entfernt waren, um ihn zu hören, noch dazu windwärts. »Lotse 1, bereit.« »Lotse 2, bereit.« »Lotse 3, bereit. Verdächtige Fahrzeuge nähern sich von Westen. Geschätzte Ankunftszeit in etwa sieben Minuten.« »Verstanden. Zugriff auf mein Kommando«, gab Eisenberg zurück, während er seine Augen an die Okulare presste. Das Innere des Containers war dunkel, sein Inhalt nicht erkennbar. Einen Moment lang geschah nichts. Obwohl die angespannte Haltung der beiden Männer das Gegenteil anzeigte, befürchtete Eisenberg, dass der Container leer war. Doch dann trat die erste bleiche Gestalt ins Licht. Es war ein Mädchen, dunkelhaarig, mit olivfarbener Haut, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Sie trug ein schmutziges T-Shirt und eine Jogginghose, die an einer Stelle eingerissen war. Schützend hielt sie einen Arm über die Augen, als blende sie das Licht. Eisenbergs Kehle schnürte sich zu. Er hörte seinen Puls in den Ohren. Seine Hand glitt unwillkürlich zur Dienstwaffe, die gesichert in ihrem Schulterhalfter hing. Er würde sie kaum brauchen - die Bewaffnung der beiden Gruppen des Spezialeinsatzkommandos, die rings um das Gelände bereitlagen, reichte aus, um einen mittleren Bandenkrieg zu entscheiden. Die beiden Mistkerle da vorne taten gerade ihre letzten Atemzüge in Freiheit für einen hoffentlich langen, langen Zeitraum. Für ihre Opfer endete dagegen eine Zeit unvorstellbaren Grauens. Nur noch wenige Minuten. Sie mussten warten, bis die Mädchen in die Fahrzeuge einstiegen, deren Halter Eisenbergs Ermittlungsgruppe bis zu den Drahtziehern dieses perfiden Geschäfts zurückverfolgt hatte. Erst dann besaßen sie genug Beweise, um auch die Hintermänner des Mädchenhändlerrings überführen zu können. Es hatte Monate gedauert, diese Falle vorzubereiten. Ein V-Mann hatte Zeitpunkt und Ort der Übergabe in Erfahrung gebracht. Eisenbergs Leute hatten nicht viel Zeit gehabt, den Einsatzort vorzubereiten. Doch sie hatten ganze Arbeit geleistet. Er selbst und einige SEK-Männer lagen hinter einer mit unauffälligen Gucklöchern präparierten Werbetafel auf der Lauer. »Verdächtige Fahrzeuge nähern sich mit reduzierter Geschwindigkeit. Ankunft in etwa vier Minuten«, teilte Lotse 3 mit. Eigentlich waren solche Bezeichnungen dank der neuen abhörsicheren Kommunikationsgeräte überflüssig, doch die Gewohnheit hatte wieder einmal über die Notwendigkeit triumphiert. Eine nach der anderen kletterten die verängstigten Mädchen aus dem Container. Einige konnten sich kaum auf den Beinen halten. Vermutlich hatten sie tagelang nichts gegessen und kaum etwas getrunken. Es waren mehr als ein Dutzend. Keines der Opfer war älter als siebzehn. Sie stammten aus Mittelamerika, wo sie von professionellen Menschenjägern entführt und in schlecht belüfteten Containern wie Vieh nach Europa verfrachtet worden waren. Eisenberg konnte nur erahnen, welche Odyssee sie hinter sich hatten. Doch was vor ihnen gelegen hatte, war womöglich noch schlimmer. Hier in Deutschland wären sie entweder in einem Bordell gelandet oder, schlimmer noch, als Haussklavinnen an wohlhabende alleinstehende Männer verkauft worden. Eisenberg hatte es nicht für möglich gehalten, dass es so etwas in Deutschland tatsächlich gab, bis er durch einen Hinweis des Sittendezernats auf den Mädchenhändlerring aufmerksam geworden war. Das letzte Mädchen verließ den Container. Sie war die Kleinste von ihnen, vermutlich erst vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Selbst auf die Entfernung konnte Eisenberg ihre angstgeweiteten Augen erkennen. Der eine der beiden Wächter rief etwas. Die Mädchen stellten sich in einer Reihe auf. Nur die Kleine schien sich zu weigern. Sie versuchte, wieder in den Container zu klettern, als hoffe sie, damit auf magische Weise in ihre Heimat zurückzukehren. Der Wächter packte sie am Arm und zog sie zurück. Sie wehrte sich. Eisenberg konnte ihre verzweifelten Schreie trotz der Entfernung deutlich hören. Er schluckte. Nur noch ein paar Minuten, flehte er in Gedanken. Verhalt dich nur noch ein paar Minuten ruhig, dann beenden wir dein Leid! Das Mädchen schien sich endlich zu fügen. Doch als Eisenberg schon erleichtert aufatmete, biss sie plötzlich ihren Peiniger in die Hand. Er schrie auf und ließ sie los. Ein Tumult entstand. Das Mädchen löste sich aus der Menge und rannte den Weg entlang, genau in Eisenbergs Richtung. Die Wächter wollten ihr nachstellen, wurden jedoch durch die anderen Gefangenen daran gehindert, die aufgeregt durcheinander liefen - ob vor Panik oder weil sie der Flüchtenden helfen wollten, war nicht zu erkennen. Der Vorsprung des Mädchens wuchs. Die Mädchenhändler brüllten. Dann hob einer der beiden seine Pistole und legte auf das flüchtende Mädchen an. Eisenberg dachte nicht nach. »Zugriff!«, brüllte er und sprang hinter dem Plakat hervor. Anders als die SEK-Kräfte trug er keine Schutzkleidung - seine Rolle war es eigentlich, im Hintergrund zu bleiben und den Einsatz zu koordinieren. Doch er setzte auf das Überraschungsmoment und darauf, dass die Täter von der Übermacht der Polizei eingeschüchtert sein würden. Die SEK-Männer sprangen aus ihren Verstecken hinter Containern und Büschen. Befehle wurden gebrüllt. Die geschockten Mädchenhändler ließen ihre Waffen fallen und hoben die Hände. Das Mädchen blieb stehen. Erschrocken blickte sie zwischen den auf sie zustürmenden Polizisten und ihren Peinigern hin und her. Dann sank sie auf die Knie und barg das Gesicht in den Händen. Eisenberg lief zu ihr. Er hörte die Stimme von Lotse 3 in seinem Headset: »Die verdächtigen Fahrzeuge verlangsamen ihre Fahrt. Erbitte Anweisungen!« »Fahrzeuge anhalten, Insassen festnehmen wegen Verdachts auf Menschenhandel«, befahl Eisenberg. Er beugte sich über das schluchzende Mädchen. Sie hielt die Hände über den Kopf und neigte ihren Oberkörper nach vorn, wie um sich vor Schlägen zu schützen. »Es bien!«, sagte Eisenberg in bruchstückhaftem Spanisch. »Soy policía! Todo es bien!« Vorsichtig hob sie den Kopf. Ihre großen, dunklen Augen zeigten Verwirrung und Hoffnung. »Policía?« Eisenberg nickte. Er hielt ihr seinen Dienstausweis hin. Vermutlich konnte sie nicht lesen, was darauf stand, aber das Wappen der Hamburger Polizei und das offizielle Dokument schienen sie zu beruhigen. Sie sah sich um, dann stieß sie einen Wortschwall aus, von dem Eisenberg nichts verstand. »Cómo te llamas?«, fragte er, als eine Pause entstand. »Maria«, sagte sie. »Maria Costado Lopez.« Eisenberg reichte ihr die Hand und half ihr auf. »Adam Eisenberg.« Sie lächelte schüchtern. Dann presste sie sich an ihn und umklammerte ihn. Genau wie Emilia, vor vielen Jahren, als er sie zum letzten Mal umarmt hatte. Behutsam löste er sich aus ihrer Umarmung und führte sie zu einem der Mannschaftswagen, die inzwischen bereitstanden, um die Mädchen, die Einsatzkräfte und die Festgenommenen abzutransportieren. Der Gruppenführer des SEK kam auf ihn zu. Er blickte ernst. »Nur noch zwei oder drei Minuten, dann hätten wir sie drangekriegt.« Eisenberg nickte. »Ich weiß. Danke, Ralf. Das war hochprofessionell.« »Viel Glück bei dem Versuch, das deinem Chef zu erklären.« Eisenberg seufzte. Ihm war klar, dass der Einsatz ein Reinfall war. Die Fahrer, die die Mädchen abholen sollten, würden einfach leugnen, etwas mit der Sache zu tun zu haben. Die Beweislage war viel zu dünn, um allein ihre An- wesenheit in der Nähe des Übergabeortes als hinreichenden Schuldbeweis für ihre Auftraggeber zu werten. Monatelange Ermittlungsarbeit war zunichte gemacht worden. Sie hatten das Leid dieser Mädchen beendet, doch wie viele andere würden noch verschleppt werden, weil es ihnen nicht gelungen war, die Hintermänner zu überführen? Eisenberg wusste, er hatte richtig gehandelt. Niemals hätte er tatenlos zusehen können, wie das Mädchen verletzt oder gar getötet worden wäre. Außerdem war er dazu verpflichtet, Schaden von möglichen Opfern abzuwenden. Doch er wusste auch, dass die Umstände des Einsatzes nur allzu leicht anders interpretiert werden konnten. Niemand konnte wissen, was passiert wäre, wenn er nicht den Zugriff befohlen hätte. Vielleicht hätte der Wächter gar nicht geschossen oder das Mädchen verfehlt. Wie so oft wäre es sicherer gewesen, nichts zu tun, einfach abzuwarten und dem vorher ausgearbeiteten Plan zu folgen. Man hätte ihm bestenfalls milde Vorwürfe gemacht, wenn das Mädchen tatsächlich zu Schaden gekommen wäre. Doch Eisenberg hatte gehandelt, hatte den Plan über den Haufen geworfen. Er würde die Konsequenzen dafür tragen müssen. Aber er würde damit klarkommen. Es war ja nicht das erste Mal, dass er mit seinem Chef aneinandergeriet.
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