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Zeitgleich mit den sexuellen Rangeleien, die zur Geburt der kleinen Kamtchowsky führten, erhielt ein anderer junger Argentinier, damals noch ein kleiner Assistent an der Philosophischen Fakultät, in der Colonia Montes de Oca eine Stelle ad honorem als Pfleger von Jugendlichen mit Mikrozephalie. Er war so ungepflegt, plump im Umgang und anmaßend in seiner Prosa, dass seine Zukunft als bahnbrechender Theoretiker noch ungewiss war; streng genommen war sie überhaupt nicht absehbar. In jenen Jahren war das intellektuelle Habitat von Augusto García Roxler der Schatten. Da er sich stets in den schauerlich verwinkelten Bibliotheken der Medizinischen Fakultät herumtrieb und nur auf seine eigenen Ideen fixiert war (und auf die ungeheuren Zeichen, die sie zu bestätigen schienen), verlief seine Existenz abseits des majestätischen und blutgetränkten Korridors, auf dem sich die bedeutenden Ereignisse seiner Zeit abspielten.
Weil er zu schüchtern war, um besserwisserisch aufzutreten, und zu gewöhnlich, um rätselhaft zu wirken, sollte das Licht seines Genies erst Jahrzehnte später nach außen dringen. Tatsächlich würde es nur schimmern, in Dichte und Verhalten ähnlich den knochigen Fingern eines Blinden, der sich so gut er kann durchs Dunkel tastet; noch wichtiger jedoch ist, dass es nur ein einziges Bewusstsein berühren würde. Ein einziges Bewusstsein (das geeignete, das perfekte) würde über das Schicksal dieses Lichts entscheiden; es würde seine geschundenen Korpuskeln nähren, sie wieder zusammenfügen, würde wie ein Geist das grausame Antlitz der Tatsachen überfliegen. Vorher jedoch, weit vorher, als der junge Augusto sich als Student der Psychiatrie ausgab und seine Stunden damit zubrachte, mikrozephale Schädel zu vermessen und Schwachsinnige und Katatoniker für seine Experimente zu entkleiden, war da ein Buch und dank ihm ein mehrfaches Schaudern - eine Nacht -, in dem die Theorie zum ersten Mal an der Kruste der Welt schnupperte. Er war dreißig, vielleicht auch etwas älter, als er den ersten Entwurf dessen fertigstellte, woraus er später die Theorie der Egoischen Übertragungen entwickeln würde.
1917 schilderte der holländische Anthropologe Johan Van Vliet in einem Artikel in der Zeitschrift Nature Humanexperimente, die als eine Art Keimzelle der Egoischen Übertragungen gelten könnten. Professor Van Vliet, ein erklärter Bewunderer Jean-Jacques Rousseaus und manischer Reisender, sah nicht ein, dass sich ein Forschungsfeld allein auf betuchte Abendländer oder Proletarier aus verborgenen Regionen Europas beschränken sollte; um eine wahre Theorie der menschlichen Psychologie zu formulieren, eine Theorie, mit der sich die Verhaltensweisen des Menschen aufs Tiefste erfassen ließen, war es nötig, mit Elementen zu arbeiten, die nichts zu tun hatten mit dem Prozess der Anpassungschoreografie namens Kultur.
Für sein Experiment Ad intra res cogitans (so der Titel seines Tagebuchs) stellte Johan Van Vliet eine kleine Expedition nach Dahomey, dem heutigen Benin, Westafrika, zusammen. Dahomey war, dank seiner Vorgeschichte als Produzent von Palmöl und Sklaven während der über zwei Jahrhunderte anhaltenden Handelsbeziehung mit dem weißen Mann, ein relativ gut zugänglicher Ort für einen europäischen Reisenden. Einige Jahre vor seinem Besuch war die letzte schwarze Herrscherdynastie von Frankreich gestürzt worden; der diensthabende Konsul (der eine verblüffende Ähnlichkeit mit Voltaire aufwies) zeigte den Franzosen, wie man zum Lager der Fon gelangte, das auf dem Weg zum nördlichen Dschungel errichtet war. In der medizinischen Abteilung des Konsulats erhielten die Doktoren Fodder und Fischer, in ihrer Eigenschaft als Schüler Van Vliets aus England angereist, jeweils eine Dosis Chinin gegen die Malaria. In ungeduldiger Erwartung, endlich den Dschungel zu betreten, blätterte Van Vliet bedächtig in einer alten Ausgabe des Figaro.
Die Fon bereiteten ihnen einen ziemlich freundlichen Empfang; sie überließen ihnen eines ihrer Zelte mit Blick zum Wald, gaben ihnen Rauchwaren. Die Fon glauben nicht an einen einzelnen allmächtigen Gott; für sie ist die Welt der Geister, die auf Erden leben, viel unbeständiger und komplexer. Kurz nach seiner Ankunft im Lager begann Professor Van Vliet - ein wahrer Pionier auf dem Gebiet des psychologischen Experiments - nur mit einem Lendenschutz bekleidet die Gegend zu durchstreifen. Er schmierte sich Schlamm auf seinen vielsitzenden Akademikerleib, damit er sich, »ohne gesehen zu werden«, im Dunkeln bewegen konnte. Er ging barfuß und blieb stundenlang stehen, um den Mond zu betrachten, der um einiges größer und heller war als der Mond, den er auf seinen Expeditionen ans Nordmeer kennengelernt hatte, als er Konflikthypothesen anhand von Polarspinnen erforschte. Manchmal schlief er auf dem porösen Boden ein, das Notizbuch in der Hand. Seine Beobachtungen schrieb er mit Tinte nieder, die aus Harz, Palmholz und verbrannten Knochen hergestellt war; beim Mischen dieser Tinte freundete er sich mit einem kleinen, schlitzäugigen Affenweibchen an. Getrieben von seinem Wunsch, die Sprache der Menschen zu sprechen, lernte er nebenbei die der Vögel, richtete sich mit seinen Notizbüchern im gestutzten Wipfel eines Baums ein, in dem zuvor Faulaffen gehaust hatten, und machte daraus ein provisorisches Studierzimmer.
In jenen Jahren erlebten psychologische Theorien ein veritables Hoch. 1917 vollendete Alfred Adler sein zweiundfünfzigseitiges Werk über die Homosexualität (in dem er nachwies, dass sie das Ergebnis eines Minderwertigkeitsgefühls gegenüber dem eigenen Geschlechtsorgan sei); 1920 veröffentlichte Sigmund Freund Jenseits des Lustprinzips; drei Jahre zuvor hatte Basilides, in einer kleinen Auflage für Freunde, seine Sieben Belehrungen der Toten drucken lassen (die Septem Sermones ad Mortuos, übertragen von Carl Gustav Jung); und 1926 gelangte Burrhus Frederic Skinner zu der Erkenntnis, dass es ihm völlig an literarischem Talent und relevanten Erfahrungen mangelte, legte daher seinen Schriftstellertraum ad acta und begann stattdessen mit einer Promotion in Psychologie. Angeregt von Bertrand Russells Notizen zur Theorie von John B. Watson, ließ er seinen ersten Experimenten mit Tauben (Superstition in the Pigeon, 1947) subtile maschinelle Modelle folgen, die auf Menschen und später (wenn auch nur in der Theorie) auf Megagruppen von Menschen angewendet wurden, und einen ähnlich gearteten Abstecher ins literarische Genre der Utopie, inklusive Schilderungen, wie Gemeinschaften von Kindern nach dem Credo der operativen Konditionierung und anderer Technologien der Verhaltenssteuerung erzogen werden.
Im Umfeld dieses Aufruhrs in der Psychologie ist es nicht verwunderlich, dass solch außerordentlich originelle Arbeiten wie die Johan Van Vliets, der keiner der vorgenannten Schulen angehörte, so leicht von der Zeit verschluckt wurden, so ohne Widerstand. Dieser Appetit der Zeit im Verbund mit den verworrenen Umständen des Verschwindens von Van Vliet im Dschungel sollte die neue Theorie schon bald führungslos werden lassen. Van Vliets Schüler Manfred Fodder, verantwortlich für die Publikation des afrikanischen sojourn in Nature, wurde schließlich von Burrhus' Anhängern absorbiert; der andere, Marvin Fischer, lehrte die Theorie des Meisters noch in dem einen oder anderen Seminar, bis er irgendwann in die Fänge der Gruppe um Otto Rank geriet - der seinerseits vom Vater der Psychoanalyse der »antiödipalen Ketzerei« beschuldigt und exkommuniziert wurde. Keiner der Männer, die mit dem Genie Van Vliets in Berührung gekommen waren, wusste sich an den breiten Eichentischen der Universität zu dessen Medium aufzuschwingen. Keiner wusste die Lebenden in Spannung zu halten mit dem Konzepttheater des Holländers, den alle tot wähnten, keiner das Geraune einer Ausnahmetheorie im sublunaren Idiom der gewöhnlichen Akademiker zu beschwören. Ein Mensch mit einer Theorie hat etwas, das er rausschreien kann; aber ein Geist mit einer Theorie ist nicht viel mehr als ein halbgekautes Stück Brot, das im Mund seines Mediums umherschwimmt, sich gemeinsam gegen die Zähne wehrt, in Erwartung, phagozytiert, zerkleinert und ausgespuckt zu werden. Noch während sie die Kehlen verließen, klangen die akademischen Darstellungen Fodders und Fischers wie das Meckern zweier Ziegen, die in den Bergen umherstreunen, ohne dass ihnen jemand zuhört. Trotz Übersetzungen ins Englische und Deutsche blieben sie aufgrund des sie umgebenden Ohrensystems ein merkwürdiges, unverständliches Plärren; im besten Fall waren sie von anderen Theorien nicht zu unterscheiden. Im folgenden Jahr veröffentlichte Fischer Zerebrale Antworten und Egoische Übertragungen. Eine Einführung; und er traf sich mit Otto Rank, um in regelmäßigen Abständen seine Ideen zu erörtern. Doch bald darauf starb Fischer, ohne theoretische Nachkommen zu hinterlassen.
Die Colonia Montes de Oca (gegründet im Jahre 1915 als »Gemischte Heim-Kolonie für Geistig Zurückgebliebene«) ist ein zweihundertvierunddreißig Hektar großes Gelände in der Nähe der rund achtzig Kilometer von Buenos Aires entfernten Stadt Luján. Die Kranken wohnen in Pavillons mit viel Grün dazwischen - Pappeln, Akazien, Zypressen, Kasuarinen, Eukalyptus -, und weite Ebenen verlieren sich am Horizont; an den Rändern dieses Grüns bilden sich natürliche Sümpfe und schlammige Gruben, wo die Patienten manchmal ausrutschen und sterben; Tage oder Wochen können vergehen, bis Aasvögel sich zusammenrotten und den Ort des Ablebens anzeigen. Manchmal knabbern auch die Hunde des Anwesens an Kleidungsstücken oder menschlichen Knochen herum, und dann wird eine...
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