Schweitzer Fachinformationen
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Am Morgen des Mittsommertags werden Kommissarin Paula Pihlaja und ihr Team zu einem grauenvollen Fund westlich von Helsinki gerufen. Vor dem Gutshof einer Unternehmerfamilie wurde ein Container abgestellt, in dem eine ermordete dunkelhäutige Frau liegt. Sie ist qualvoll darin ertrunken, nachdem Meerwasser eingefüllt wurde. Niemand scheint die Frau zu kennen. Die Ermittler misstrauen jedoch den allzu geschliffenen Antworten der Unternehmerfamilie. Kurze Zeit später kann die Identität der Toten geklärt werden: Die Universitätslehrerin Rauha Kalando war wenige Stunden vor ihrem Tod aus Namibia eingeflogen. In ihrem Hotelzimmer liegt ein Dokument, unterschrieben vom ehemaligen Unternehmenschef.
In der abgasgeschwängerten Luft scheint die Morgensonne zu flimmern. Sie überzieht das Vorstadtviertel mit schmutzig gelbem Licht und schiebt einen unsauberen Mann um die Ecke des Einkaufszentrums auf die Hauptstraße.
Für die schneidende Kälte ist der Mann viel zu leicht gekleidet. Die zerknitterte aschgraue Anzugjacke und die Hose, die ihre Bügelfalten verloren hat, sind mit kleinen und größeren Flecken übersät, über deren Ursprung man lieber nicht nachdenkt. Selbst der aufmerksamste Passant würde nicht vermuten, dass der Anzug, den nicht einmal das Recyclingzentrum nehmen würde, vor einiger Zeit eine vierstellige Summe gekostet hat.
Der Mann taumelt durch einen Nebel, der sich nur langsam lichtet. Er begreift, dass er eine fremde Straße entlanggeht. Sonst begreift er eine Weile kaum etwas. Er hat die Dunstschwaden in seinen Kopf gesogen, wo erst dann Platz für Gedanken frei wird, wenn der Nebel mit den schweren Atemzügen in die Frostluft ausgedünstet ist.
Als Erstes kommen ihm Dinge in den Sinn, die er nicht weiß: wo er ist, woher er kommt, wie lange er schon gegangen ist - er ist sich nicht einmal sicher, wer er ist. Seine Umgebung will einfach keine feste Form annehmen, sie wogt und schwankt. Gerade so, als würde der Autofokus einer Kamera keinen Fixpunkt finden.
Der Mann lehnt sich an das kalte Schaufenster des Supermarkts. Eine widerwärtige Geruchsmischung aus Urin, Magensäure und Alkohol dringt ihm in die Nase. Im Fenster sieht er, dass sein Spiegelbild die Handfläche gegen seine Hand drückt. Aber das Spiegelbild scheint ihm fremd.
Die Gestalt in der Fensterscheibe hat seine Gesichtszüge, aber die Augäpfel, die zwischen den geschwollenen Lidern hervorlugen, sind gerötet, als hätte jemand Glassplitter hineingerieben. Auf dem Kopf des Spiegelbilds sitzt eine Mütze mit dem Logo einer Bank, die schon vor Jahren pleitegegangen ist.
Er war auf dem Sofa einer schäbigen Zweizimmerwohnung aufgewacht. Durch die angelehnte Schlafzimmertür drangen gedämpfte Geräusche, die andeuteten, dass sich dort etwas bewegte. Im Doppelbett schliefen zwei Menschen, die der Mann nicht erkannte. Sie gehörten zur falschen Gesellschaftsschicht. Zwischen den leeren Flaschen auf dem Küchentisch fand der Mann eine nur halb ausgetrunkene Flasche Finnland-Schnaps. Er nahm einen großen Schluck und steckte die Flasche in seine Manteltasche.
Er hatte mit Calvados, XO-Cognac und rauchigem Whisky angefangen. Das ist allerdings schon lange her - Tage, vielleicht Wochen. Je klarer die Getränke wurden, desto verschwommener wurde sein Zeitgefühl. Den Bartstoppeln nach könnte man auf eine ungefähr neuntägige Sauftour schließen.
Seine Hand, die an der Fensterscheibe liegt, ist vom Frost gerötet. Die Fingergelenke sind geschwollen und lassen sich nicht geradebiegen, obwohl er seine ganze Willenskraft darauf konzentriert. Plötzlich merkt der Mann, wie kalt ihm ist. Das ist kein Wunder, denn er hat seinen Mantel gerade eben in eine Mülltonne gestopft, weil ein falsch gelenkter Harnstrahl die Mantelschöße durchnässt hat.
Der Mann versucht Kontakt zu den Vorbeigehenden aufzunehmen, um Hilfe zu bitten, begreift aber bald, dass er keine verständlichen Worte hervorbringt, geschweige denn einen ganzen Satz. Er sieht Menschen an einer Bushaltestelle und will zu ihnen gehen, doch die Beine gehorchen ihm nicht. Sie tragen ihn erst seitwärts, dann geht jedes in eine andere Richtung, und schließlich, als er schon fast bei der überdachten Haltestelle ist, werfen sie ihn auf die Knie.
Man reicht ihm Blumen. Der Strauß ist viel zu bunt und wirkt deshalb knallig. Das verletzt ihn ein wenig, denn er hat einen Blick für Ästhetik. Dennoch flüstert er der jungen Frau im Kostüm lächelnd einen Dank zu. Er legt die Blumen auf das Rednerpult, beugt sich zum Mikrofon, ohne den Blick vom Publikum abzuwenden, und spricht das Zauberwort: Mitgefühl.
Die Menschen an der Haltestelle treten einen Schritt zurück. Sie schauen beflissen weg, und in der Luft hängt ein lautloser Seufzer der Erleichterung, als der Stadtbus sie endlich aufsammelt.
Ich bin Hannes Lehmusoja, erinnert sich der Mann auf einmal. Ich bin ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein internationaler Wohltäter. Ein Mäzen zeitgenössischer Kunst. Im selben Moment versagt sein Schließmuskel, und er spürt, wie eine dicke, warme Flüssigkeit zwischen seine Arschbacken rinnt. Das gibt ihm die Kraft, das erste erkennbare Wort hervorzupressen: Scheiße.
Hannes entdeckt einen kleinen Park auf der anderen Straßenseite. Er sammelt seine Kräfte und steht auf. Die Hände auf die Oberschenkel gestützt, beginnt er die Straße zu überqueren.
Mitten auf der Fahrspur bleibt Hannes stehen. Seine Sinne werden eine Spur klarer. Er hört Bremsen quietschen. Ein Lastwagen hält zwei Meter vor ihm. Er betrachtet das Volvo-Zeichen am Kühler. Ich habe auch einen Volvo, denkt er. Er schafft es, die Hände von den Oberschenkeln zu lösen, richtet sich auf und geht mit schleppenden Schritten weiter. Als er auf die zweite Fahrspur tritt, rauscht vor ihm etwas vorbei, ein Auto, natürlich ist es ein Auto, und es streift ihn beinahe, er spürt den Luftstrom durch den dünnen Stoff seines Hemdes. Jemand hupt, es ist der Fahrer des Lasters, der sich nicht mit Hupen begnügt, sondern das Fenster herunterdreht, den Oberkörper nach draußen streckt und losbrüllt. Hannes wird aus den Worten nicht schlau. Er wankt vorwärts, wäre beinahe über einen Pflasterstein gestolpert, bleibt wie durch ein Wunder auf den Beinen und peilt eine Parkbank an, auf die er sich fallen lässt.
Mitgefühl. Und dann das zweite Zauberwort, die Zwillingsschwester des Mitgefühls: Solidarität.
Wenn man eine Rede hält, ist es wichtig, Blickkontakt zu suchen, seine Worte an irgendwen im Publikum zu richten. So bleibt die intime Stimmung erhalten. So schafft man den Eindruck, dass man nicht auf allgemeiner Ebene zur großen Masse spricht, sondern jeden Anwesenden persönlich anredet. Man kann die Blickrichtung wechseln, aber nicht zu oft.
Es wird oft behauptet, echte Solidarität könne man nur für eine begrenzte Gruppe von Menschen empfinden.
Hannes verwendet in seiner Rede ungern das Passiv, das hier war ein Ausrutscher. Ein Stilfehler. Er legt eine Pause ein und schaut dem Zuhörer tief in die Augen. Die blicken unter einer fest zugebundenen Pelzmütze ängstlich zurück. Ein Kindergesicht. Das Kind entfernt sich einen Schritt. Jemand stubst Hannes vorsichtig an die Schulter.
»Alles in Ordnung? Soll ich einen Krankenwagen rufen?«
Hannes hebt die Hand. Damit will er den Zuhörern signalisieren, dass die Pause eingeplant ist, kein Blackout.
»Ich werde . abgeholt.«
»Ganz sicher?«
»Nur eine kleine Pause.«
Die Frau und das Kind gehen weiter. Sie blicken immer wieder über die Schulter. Die Frau hat ihr Handy aus der Handtasche geholt, steckt es aber wieder ein.
Hannes sieht ihnen nach. Die Pause zieht sich in die Länge, er muss schnell zu seiner Rede zurückfinden. War ihm gerade kalt? Jetzt nicht mehr. Er möchte nur hier sitzen. Er muss eine Rede halten, muss das interdisziplinäre Kunstprojekt Mitgefühl lancieren, das von der Stiftung finanziert wird, die seinen Namen trägt. Er fängt ein neues Augenpaar im Publikum ein.
Worauf können wir die Solidarität begrenzen, fragt Hannes das Eichhörnchen im Winterfell. Auf die Familie? Auf das engere Umfeld? Endet sie an den Grenzen des Nationalstaats? Kann sich ein echtes Solidaritätsgefühl nur auf Menschen unserer Art richten, auf diejenigen, mit denen wir uns identifizieren können? Endet die Solidarität am Meeresufer? Müssten nicht gerade wir Finnen aus der Geschichte gelernt haben, dass Gewässer uns nicht trennen, sondern im Gegenteil entfernt voneinander lebende Menschengruppen verbinden?
Das Eichhörnchen legt den Kopf schräg, und Hannes ahmt die Bewegung instinktiv nach.
Genügt als Ausgangspunkt des Mitgefühls nicht der kleinste gemeinsame Faktor? Die Tatsache, dass wir, unabhängig von Nationalität, Hautfarbe, Alter und Geschlecht, alle Menschen sind? Du und ich, wir sind gleichartig, sagt Hannes und blickt dem Eichhörnchen tief in die dunklen Augen.
Das Eichhörnchen schrickt auf, hüpft auf den Schneewall und springt über den Schnee zu einer bereiften Birke.
Hannes blickt ihm nach. Er sieht einen schmalen Pfad, der an der Birke vorbeiführt, steht auf und folgt dem Eichhörnchen. Er kommt an einem Rosenstrauch vorbei, auf dem der Schnee sich so verklumpt hat, dass er einem großen Blumenkohl gleicht.
Jetzt ist ihm überhaupt nicht mehr kalt. Im Gegenteil, es ist warm, er fühlt sich wohl. Er liebt das Klima auf dieser Seite des Äquators. Liebt es, seit er zum ersten Mal hier war. Wenn er wegreisen musste, hat er sich immer zurückgesehnt.
Der kleine Affe, dem er gefolgt ist, sitzt auf dem Ast einer Akazie und beobachtet ihn neugierig. Hannes setzt sich in den Schatten des Busches.
Das hier ist seine geistige Heimat, seine Seelenlandschaft. Der tiefblaue Himmel, die Kumuluswolken, die über dem südlichen Atlantik entstanden sind und langsam vom Ozean her über die Savanne wandern. Eine gleichmäßige Landschaft, hier und da schöne Akazien. Jetzt würde er gern eine Antilope sehen, die in ihrem Schatten herumstreift.
Hannes schaut zum Himmel. Die Sonne, die gerade noch blass unter einem seltsamen Schleier schimmerte, ist nun klar umrissen und ockergelb. Ihr Licht blendet Hannes.
Er ahnt eine Antilope in der...
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