Schweitzer Fachinformationen
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Michelle
Ich habe mich so gut wie möglich auf heute vorbereitet - mein schlichtes schwarzes Kleid reinigen lassen, Blumengestecke abgeholt, mit dem Pfarrer gesprochen -, aber meiner Familie auf der Trauerfeier meiner Mutter mitzuteilen, dass ich geschieden bin, stand nicht auf meiner Liste.
»In fünf Minuten muss ich los«, flüstert Allen mir scharf ins Ohr.
»Ich weiß.«
»Wenn du es ihnen nicht sagst, mach ich es.«
Ich beiße fest die Zähne aufeinander. »Ich weiß.«
Allen darf seinen Flug nicht verpassen. Klar, mein Ex-Mann hätte ihn auch erst für morgen buchen können, nach der Beerdigung, doch wenn man juristisch nicht mehr an eine Familie gebunden ist, dann ist es vermutlich unerheblich, ob man seiner Ex-Schwiegermutter die letzte Ehre erweist oder nicht.
Während ich den Anhänger an meiner dünnen Kette hin und her ziehe, betrachte ich die lange Schlange der Trauergäste, die sich durch die Kirche schiebt. Gezwungen lächle ich jemanden an, den ich nicht erkenne.
Ich atme tief durch und sage dann: »Heute ist kein guter Tag dafür.«
Allen wendet sich ab und verzieht die Oberlippe. »Das stimmt schon, aber wir sollten es zusammen machen, und das geht nur heute. Das ist das einzig Richtige.«
Das einzig Richtige.
Vor zwei Monaten rief eine temperamentvolle jüngere Frau bei uns an und eröffnete mir, sie habe nicht gewusst, dass Allen verheiratet sei. Auch sie erklärte, mir die Wahrheit zu sagen, komme ihr wie »das einzig Richtige« vor.
Ich übergehe seinen moralischen Widerspruch. Streiten bringt nichts, wenn ich nicht gewinnen kann.
Natürlich hätten wir meiner Familie von unserer Trennung erzählen sollen. Seine weiß es seit Wochen. Aber als sich der Gesundheitszustand meiner Mutter plötzlich verschlechterte, schien es irgendwie nie der passende Zeitpunkt. Ich hatte gerade die Scheidungsunterlagen vor mir liegen, als mein Vater anrief und mir sagte, dass sie gestorben sei.
Allen räuspert sich und streicht sich über sein elegant geschnittenes Anzugsakko. Die meisten Männer würden vielleicht nervös an ihren Knöpfen fummeln, doch Allen ist nicht der Typ, der in der Öffentlichkeit Schwäche zeigt. Nicht in seinem weißen Krankenhauskittel - und schon gar nicht bei einer Beerdigung.
Viele der Anwesenden haben früher mit Mom in der Pflege gearbeitet, und manche sind sogar Kollegen von mir; trotzdem gibt es viele, die ich überhaupt nicht kenne. Diese Fremden trauern in schlecht sitzenden Anzügen und aus der Mode gekommenen Kleidern, als hätten sie hektisch nach angemessener Garderobe gesucht. Eine ältere Frau in der letzten Bankreihe trägt lila Strümpfe, der Mann neben ihr eine Brille aus den Siebzigern, die ihm fast bis zum Mund reicht.
»Wer sind diese Leute?«, murmle ich.
Allen zuckt mit den Achseln.
Eine Familie tritt zum Sarg: Mann, Frau, zwei Töchter. Sie gehören zu den neuen Gesichtern. Der Mann schlingt seinen kräftigen Arm um das dünne, halbwüchsige Mädchen, dem die blonden Haare in das fleckige, verweinte Gesicht hängen. Das andere, viel jüngere Mädchen sitzt auf seiner Hüfte und zieht an seiner Krawatte. Seine Frau - zumindest nehme ich an, dass sie das ist - steht mit einem Blumenstrauß hinter ihnen.
Ich frage mich, ob sie glücklich sind. Allen und ich haben damals - gemeinschaftlich, wie bei allen Dingen - beschlossen, keine Kinder zu bekommen. Zum Schutz unserer Karriere und des schönen Hauses, dem man keine Wachsmalkreide an den Wänden zumuten konnte. Unsere Teppiche waren zu teuer für verschüttete Milch. Kinder waren zu wild, und wir . eben nicht.
Jetzt stellt der Vater das kleine Mädchen auf den Boden, nimmt seiner Frau die Blumen ab und sieht sich unter den wippenden Köpfen in der Kirche um. Nach wem er wohl sucht? Sein Blick wendet sich in unsere Richtung, landet auf mir.
Und verhakt sich wie ein Reißverschluss im Stoff. Mein Blick kommt nicht los. Seiner auch nicht.
Ähnlich wie Allen sieht der Mann auf klassische Art gut aus. Sein markantes Kinn ist frisch rasiert, die hohen Wangenknochen zeichnen sich deutlich ab. Der Adamsapfel ragt aus seinem breiten Hals, das vorspringende Schlüsselbein ist unter dem nicht bis oben zugeknöpften weißen Hemd und der von seiner Tochter gerade gelockerten Krawatte zu sehen. Er ist größer als die anderen Männer in der Schlange, und das Jackett spannt über seinen breiten Schultern. Ja, er sieht auf klassische Art gut aus.
Doch auch andere Merkmale machen ihn attraktiv, nämlich genau die Unterschiede zu Allen: Seine braunen Haare sind nicht ganz kurz - ungebändigt ist vielleicht der beste Ausdruck dafür, als hätte er es mit Wachs versucht, aber viel zu oft mit einer Hand gestresst durchgestrichen. Der Nasenrücken wirkt leicht schief. Und obwohl die Lippen straff sind, hat er ein Fältchen neben dem Mundwinkel. Ein Lachfältchen, das einfach nicht verschwinden will, nicht einmal auf einer Beerdigung.
Er senkt seine dichten Wimpern leicht, als zöge er mir mental einen Stuhl heraus, damit ich mich in unserem stummen, allsehenden Raum zu ihm setzen kann. Er legt die Füße hoch. Er hat es nicht eilig.
Ich atme zittrig ein. Wie kann er so entspannt wirken, wenn er eine Fremde ansieht? Seine Augen wandern bedächtig zu Allen, dann wieder zu mir. Ich spüre seinen Blick in der Magengrube, als könnte er sehen, was ich verstecke, als wüsste er von der Scheidung.
»Pst.«
Beim Klang der Stimme meiner Schwester zucke ich zusammen. Sara steckt den Kopf durch die Seitentür.
»Shelly, komm mal.«
Allen verdreht die Augen, als Sara mich rückwärts in den Nebenraum zieht. Ich versuche, noch einen letzten Blick auf den anderen Mann zu erhaschen, aber die Tür fällt schon zu.
Unter weniger traurigen Umständen dient dieser Raum der Hochzeitsvorbereitung. In der Ecke steht ein ovaler Spiegel, um ein Tischchen herum gepolsterte Mahagonistühle. Ich sehe noch meine drei Brautjungfern vor fünf Jahren vor mir: Sara, Allens Schwester und meine alte Zimmergenossin aus dem College-Wohnheim, mit der ich lange keinen Kontakt mehr hatte.
»Du musst mit Dad reden«, platzt Sara raus.
Ich blinzle. »Okay.«
»Ich hab's versucht, aber .«
»Schon gut«, unterbreche ich sie. »Mach dir keinen Kopf.«
Ihre glänzend rosa Lippen wölben sich nach oben, doch das Lächeln erreicht nicht ihre Augen. »Danke. Ich weiß nicht, wie du so« - sie macht eine Geste über meine aufrechte Körperhaltung - »gefasst bleiben kannst. Du wirkst immer, als könnte dir nichts was anhaben.«
Meine kleine Schwester ist die Zartere von uns. Sie ist zierlich und hat von Natur aus platinblonde Haare, die sich andere Frauen für viel Geld so färben lassen - genau das Gegenteil von Dads und meinem braunen Schopf. Aber während ich durch Moms dunkle Augen die doppelte Dosis Braun abgekriegt habe, hat Sara Dads wunderschöne blaue Augen geerbt, in denen jetzt Tränen schwimmen. Sie hat genug Emotionen für uns beide. Das liebe ich an ihr.
»Wie geht es dir?«, frage ich.
»Gut.« Ohne nachzudenken, hebt sie den Arm und zupft mir die Haare zurecht. »Zu blödem Schwarz verdonnert. Und dir? Allen benimmt sich total komisch. Wobei das bei ihm ja nichts zu heißen hat.«
Als Reaktion darauf brumme ich nur leise vor mich hin, obwohl ich Magenschmerzen habe.
Sie seufzt. »Ganz schön viele Leute da draußen, findest du nicht?«
Um ihre Beklommenheit zu lindern, frage ich: »Hast du ein paar Freunde von der Kunsthochschule eingeladen?«
Sie stößt ein kurzes Lachen aus. »So weit kommt es noch. Bei denen kriegst du einen Herzinfarkt.«
Sofort erstarren wir beide.
Sie reißt die Augen auf, ich presse die Lippen aufeinander.
»Das .«
»Wolltest du nicht«, beende ich ihren Satz. »Ich weiß.« Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ist schon gut, Sara.«
Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Ähm, jedenfalls sind das Leute aus Copper Run, glaube ich. Mom war dort echt gut integriert.«
Vor einem Jahr haben unsere Eltern sich in einer Kleinstadt in Vermont zur Ruhe gesetzt und in ihrem neuen Wohnort ein kitschiges Bed and Breakfast eröffnet. Theoretisch haben die beiden es gemeinsam geführt, aber Mom hat ihr ganzes Herzblut reingesteckt. Es wundert mich nicht, dass der ein oder andere aus Copper Run hier ist, denn Mom war jemand, den man durchaus schnell ins Herz schloss und schätzte. Ich könnte zwei Jahre mit einem Menschen in einem Zimmer wohnen, und wir wären uns immer noch fremd. Vielleicht war das das Problem in meiner Ehe.
»Die sind quer durchs Land bis nach Seattle gefahren?«, frage ich. »Haben sie die ganze Stadt dichtgemacht?«
»Sei nicht so gemein.« Sara lächelt. »Es sind nette Menschen.«
»Verantwortungslose Menschen«, necke ich sie mit einem schiefen Grinsen, das sofort wieder schwindet. Ich drehe den kleinen Perlstecker in meinem Ohr. »Wo ist Dad denn eigentlich?«
Sara kaut an ihrem Daumennagel. »Da in der Ecke.«
»Hey.« Ich ziehe ihre Hand weg. »Das wird schon wieder. Mach dir keine Sorgen, alles wird gut.«
Sie nickt langsam, dann schneller und zieht mich fest an sich. Ich drücke sie so lange, wie sie es braucht.
»Ich komme gleich wieder«, sage ich und tätschle ihr die Schulter.
Auf der anderen Seite des Raums sitzt Dad in der Ecke und starrt...
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