Schweitzer Fachinformationen
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Lena Siebert saß auf einem wackeligen Melkschemel und tunkte den Pinsel in den Farbtopf. Sie war dabei, den Holzzaun, der den Gemüsegarten vom Hof abgrenzte, in einem zarten Salbeigrün zu streichen. Auf diesen Farbton hatte sie sich mit ihrer Mutter einigen können. Eigentlich wäre ihr Weiß lieber gewesen. Aber Erika Siebert, die Bäuerin auf dem Ulmenhof, hatte ihr in Erinnerung gerufen, dass ausschließlich sie es war, die sich um den Garten kümmerte, und deshalb durfte auch sie die Farbe des Zauns bestimmen. Für Lena war das helle Grün akzeptabel und auf jeden Fall schöner als das alte Braun, das sich nun hartnäckig dem Anstrich widersetzte und nur zögerlich unter der neuen Farbschicht verschwand. Die gleichmäßigen Pinselstriche in der warmen Sonne beruhigten Lenas Gedanken und hatten eine beinahe meditative Wirkung. Nicht dass sie jemals bewusst meditiert hätte. Selfcare, Yoga, innere Reflexion und Tagebuchschreiben, diese in den sozialen Medien und Zeitschriften empfohlenen Mittel zur Selbstfindung waren in ihren Augen lediglich etwas für Frauen, die zu viel Zeit hatten. Lena war ständig beschäftigt. Aber jetzt beim Zaunstreichen hatte sie keine Eile. Sorgfältig bearbeitete sie die Oberfläche. Auch wenn genügend weitere Aufgaben auf sie warteten, ließ sie sich nicht hetzen. Als einziges Kind von Georg und Erika Siebert arbeitete sie schon seit vielen Jahren fleißig auf dem Hof mit. Nach außen hin sah es für manche so aus, als würde Lena gar nichts arbeiten.
»Was hast du eigentlich für einen Beruf?« oder »Was hast du gelernt?«, waren Fragen, die sie gelegentlich zu hören bekam und über die sie sich immer ärgerte.
Ursprünglich hatte ihr der Vater an ihrem dreißigsten Geburtstag den gesamten Besitz überschreiben wollen. Das wäre vor einem Jahr gewesen und hätte vermutlich alle Nörgler besänftigt, die Lena für verwöhnt und antriebslos hielten. Aber die Eltern waren noch rührig, und Lena war am Ende des Tages doch froh, die ganze Verantwortung nicht ab einem bestimmten Datum komplett alleine tragen zu müssen. Das würde sie erst dann machen, wenn es unbedingt sein musste. Deswegen hatten Georg und Erika Siebert beschlossen, dass ihre Tochter zumindest schon mal einen Teil des Besitzes übereignet bekam. In erster Linie Wiesen, Wald und ein herrlich gelegenes Grundstück am Ufer des Walchensees, direkt neben dem Gasthaus Fischerfleck von ihrem Cousin Niklas Siebert und seiner Halbschwester Freya. Den Ulmenhof selbst, nebst Milchvieh, Hühnern und Ferienwohnungen, würden die Eltern noch eine Weile weiterführen - die Unterstützung der Tochter vorausgesetzt.
Die Sonne fühlte sich herrlich an auf Lenas gebräunten Schultern. Latzhose, Tanktop und Arme waren bereits mit zahlreichen grünen Farbspritzern übersät, nur das Basecap mit dem Fischerfleck-Logo, das Lenas wilde Locken bändigte, hatte noch nichts abbekommen. Sie fuhr mit dem Pinsel über das Holz, ein kleines Lächeln auf den Lippen.
Motorengeräusch ließ sie innehalten. Als sich Lena umdrehte, sah sie einen schnittigen Sportwagen in den Hof einbiegen, dem, als der Motor verstummt war, eine Frau entstieg. Sie trug eine enge weiße Hose, darüber eine ebenfalls weiße Bluse und einen taillierten Blazer in Beige. Selbst ihre blonde Haarfarbe sah aus der Ferne teuer aus, genauso wie die Handtasche. Eine riesige Sonnenbrille bedeckte große Teile ihres Gesichts, und so konnte Lena das Alter der Frau nicht wirklich abschätzen.
Mit resoluten Schritten lief sie auf die ehemalige Garage zu, in der Christian Herfordt, Maler aus München und Dauermieter bei den Sieberts, während des Sommers seine Werke ausstellte, die er zu verkaufen hoffte. Sommeratelier nannte er das. Für Lenas Geschmack eine sehr hochtrabende Bezeichnung. Aber Christian Herfordt war in Sachen Eigenvermarktung äußerst geschickt. Seit seiner Vernissage im Haus der Begegnung in Walchensee kamen ständig Leute vorbei, die sich für seine Bilder interessierten.
Mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht trat der Künstler seinem Gast entgegen. »Frau Dittmer, ich grüße Sie. Wunderbar, dass Sie es einrichten konnten vorbeizukommen.« Sie gaben sich die Hand und verschwanden in der schattigen Garage - somit auch aus Lenas Blickfeld.
Lena wandte sich erneut dem Zaun zu. Das neue Grün passte vorzüglich zum Rot der Kirschen und Erdbeeren. Es hatte beinahe dieselbe Farbe wie die riesigen Rhabarberblätter, die die Sonne geradezu in sich aufzusaugen schienen. Allein der Anblick ihrer dicken pinkfarbenen Blattstiele machte Lena Appetit. Sie fragte sich, ob ihre Mutter wohl bald wieder einen Blechkuchen daraus backen würde, am besten einen mit Baiser überzogenen. Beim letzten, am vergangenen Sonntag, hatte Erika auch Herrn Herfordt zum Kaffee eingeladen, was absolut überflüssig gewesen war. Der Künstler war zahlender Gast, kein Familienmitglied, selbst wenn er sich reichlich Mühe gab, den Sieberts schönzutun. Zumindest empfand Lena es so. Kein Mensch war wirklich derart dauerfröhlich und freundlich - sicher verfolgte Herr Herfordt irgendeinen Zweck damit.
Schon nach wenigen Minuten hörte sie wieder seine Stimme.
»Wissen Sie was, ich stelle Ihnen die beiden Bilder, die in der Endauswahl sind, hier draußen hin. Da ist das Licht besser.«
Eigentlich wollte Lena dem Drang nicht nachgeben, sich umzudrehen und hinüberzuschauen, konnte dann aber doch nicht widerstehen.
Christian Herfordt positionierte zwei hölzerne Malerstaffeleien, die mehr Farbkleckse aufwiesen als Lenas Arme, mitten im Hof und darauf zwei vollkommen unterschiedliche Bilder. Das eine, eine üppige Waldlandschaft in Öl auf quadratischer Leinwand, das andere, wesentlich kleinere, irgendeine nicht gleich auf den ersten Blick erkennbare, moderne Kreation. »Na, das sieht ja herrlich aus«, konstatierte Frau Dittmer und wies auf das größere Ölgemälde. »Aber was soll das denn bitte schön sein?« Mit ausgestrecktem Finger fuchtelte sie vor dem zweiten herum.
»Eine abstrakte Wildsau.«
Lena war es unmöglich, ein Prusten zu unterdrücken, sie kaschierte es mehr schlecht als recht mit einem Husten.
Christian Herfordt warf ihr einen amüsierten Blick zu. Offenbar hatte er erst jetzt bemerkt, dass er noch eine weitere Zuhörerin hatte.
»Bitte was?«, fragte Frau Dittmer.
Nun gestikulierte der Maler vor seiner Leinwand. »Morgenstimmung, ganz früh, Nebel steigt auf, und zwischen den Bäumen hervor tritt ein mächtiges Wildschwein. Sehen Sie es?«
Frau Dittmer runzelte die Stirn, während sie angestrengt auf das Bild starrte. »Ich denke schon. Ist eben abstrakt.«
»Richtig.«
»Wie lang brauchen Sie eigentlich für ein Bild?«
Aus ihrem Blickwinkel konnte Lena ganz genau sehen, wie Christian Herfordts Lächeln gefror, er für wenige Sekunden ein frustriertes Gesicht machte, dann aber sofort seine Fassung wiedererlangte. Vermutlich wurde ihm diese Frage wieder und wieder gestellt, und zugegebenermaßen war sie ebenso sinnlos wie irrelevant.
»Das kommt darauf an«, antwortete er. »Manchmal geht es mir schnell von der Hand, dann wiederum dauert es sehr lange, bis ich mit meiner Arbeit zufrieden bin. Daher kann ich das nie an Tagen oder Wochen festmachen.«
»Also für das hier haben Sie bestimmt viel länger gebraucht, als für die -«, Frau Dittmer räusperte sich, »abstrakte Wildsau. Die Waldlandschaft ist größer und exakter gemalt, mit sichtlich viel mehr Aufwand. Deswegen verstehe ich nicht, warum die beiden Bilder gleich viel kosten sollen.«
Jetzt wurde es interessant. Lena beobachtete die Reaktion des Künstlers. Der wich Frau Dittmers Blick nicht aus, im Gegenteil, er sah ihr direkt in die Augen, zuckte mit den Schultern und erwiderte rein gar nichts darauf. Er würde über die Preise für seine Arbeiten, die er festsetzte und nur er allein, nicht diskutierten - das wollte er mit dieser Geste wohl unmissverständlich zu verstehen geben.
Schließlich war es Frau Dittmer, die ihren Blick abwendete und sagte: »Also, ich nehme auf jeden Fall das große Bild, da bekomme ich mehr für mein Geld, und es wird sich gut bei uns daheim an der Wand machen. Packen Sie es mir ein, ja? Ich nehme es gleich mit.«
»Sehr gern, Frau Dittmer. Kommen Sie doch bitte wieder mit hinein in den Ausstellungsraum, dort ist es schattiger.«
Ausstellungsraum. Lena verdrehte die Augen. In der Garage hatte ihr Vater früher einen Traktor untergestellt und Strohballen aufbewahrt. Sie war an die große Scheune angebaut, in der Heu, Futter und landwirtschaftliche Geräte gelagert wurden. Lenas Mutter hatte dort auch alte Möbel abgestellt, die nicht mehr auf den Speicher passten, weil der schon überfüllt war. Am hinteren Ende befand sich der Zugang zum Hühnerhaus. Der Vierkanthof, der mit seinen Vorratsgebäuden, Stallungen und dem Wohnhaus einen großen rechteckigen Innenhof umschloss, war in Kindertagen Lenas Revier gewesen.
In einem Verschlag neben dem Hühnerhaus hatte sie ein sogenanntes Clubhaus für sich und ihre Freunde eingerichtet. Ställe und Scheunen hatten die Kinder zu unterschiedlichen Welten erklärt, in denen sie stundenlang gespielt hatten. Zusammen mit ihrem Cousin Niklas war sie oftmals von weit oben, wo das Heu gelagert wurde, durch ein Loch im Boden auf den darunterliegenden Heuhaufen im Kuhstall gesprungen. Das Heuhüpfen war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Es passte Lena ganz und gar nicht, dass sich Christian Herfordt jetzt hier breitmachte, und das Argument ihres Vaters, dass er für sonst ungenutzten Raum ordentlich Miete bezahlte, überzeugte sie kein bisschen. Lena atmete tief durch. Sie und der...
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