Schweitzer Fachinformationen
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Das Hotel Alpenblick in Urfeld war das einzige am Walchensee, das es früher einmal mit dem Hotel der Hirschbergs hatte aufnehmen können. Beide hatten um die gehobenere Gästekategorie und die schönste Aussicht gewetteifert. Seitdem Paul Hirschberg aus dem elterlichen Betrieb das elegante Sporthotel gemacht hatte, war die Konkurrenz in Urfeld allerdings weit abgeschlagen und in einen fast morbiden Dornröschenschlaf versunken. Mit fünf Sternen, Privatstrand, Spa und einem Uferpavillon konnte eben keiner mithalten. Vom Wassersportcenter ganz zu schweigen. Das Einzige, was Urfeld an Wassersport zu bieten hatte, war der Tretbootverleih gegenüber dem Hotel Alpenblick.
Trotzdem fühlte sich Pia hier wie zu Hause. Das lag daran, dass ihre Mutter früher als Zimmermädchen für die Besitzerfamilie Lanzdorfer gearbeitet hatte. Pia erinnerte sich gut an Opa Lanzdorfer, der ihr an langen Winternachmittagen an ihrem Lieblingsplatz in der gemütlichen Gaststube von der bewegten Vergangenheit seines Hauses erzählt hatte, während ihre Mutter im Obergeschoss die Betten überzog.
Nun saß Pia an ebendiesem Platz, aber Opa Lanzdorfer war längst gestorben und seine Familie hatte das Hotel verkauft. Die neuen Besitzer hatten es kernsaniert, einen modernen Trakt angebaut und vor einigen Jahren wiedereröffnet. Allein die Stube war unverändert geblieben, worüber sich Pia besonders freute. Draußen rieselten Schneeflocken sanft auf die Terrasse, die im Sommer erhebende Ausblicke über den See bot und derzeit im Winterschlaf dämmerte. Nur die Uferstraße trennte das Hotel vom Wasser. Das Gebäude klebte quasi an der Steilwand dahinter, was seine Expansionsmöglichkeiten zugegebenermaßen stark einschränkte. Ein vornehmer Herr hatte es vor hundertfünfzig Jahren als repräsentatives Anwesen für seine Familie gebaut, wie Pia noch von Opa Lanzdorfer wusste. Die Stelle, die er dafür ausgewählt hatte, war unbestritten die beste in ganz Urfeld. Im Gegensatz zum Dorf Walchensee mit seinen sanften Ufern, von denen man bequem in den See steigen konnte, war die Landschaft hier viel schroffer. Badestrände gab es keine, nur Felswand auf der einen und steil abfallende Böschung auf der anderen Seite. Gerade das machte aber das bemerkenswerte Flair des Hotels Alpenblick aus. Es stand so dicht am Wasser, dass es fast schien, als könnte man hineingreifen, gleichzeitig wirkte der See unerreichbar entrückt. Diesen Anblick hatte Pia geliebt und lange vermisst.
»Liebling, bist du schon wieder hier? Wie war dein Ausflug, hast du eine Runde um den See gedreht, so wie du wolltest?« Sven Neuroth kam in die Stube, rotwangig, gut gelaunt und wie immer, wenn er seine Verlobte betrachtete, mit einem stolzen Lächeln im Gesicht.
Der Holzofen in der Ecke sorgte für eine mollige Temperatur, trotzdem fröstelte Pia bei der Erinnerung an Niklas' wenig erfreuten Gesichtsausdruck. »Hab ich«, sagte sie versonnen. »Es war ein Abstecher in die Vergangenheit.«
»Ist es nicht toll, nach so vielen Jahren wieder in deiner Heimat zu sein? Ihr Bayern habt es ja wahnsinnig idyllisch, da kehrt man doch gern zurück, nicht wahr?« Sven kam aus Norddeutschland und war in seinem Leben dermaßen oft umgezogen, dass Pia vergessen hatte, aus welchem Ort er ursprünglich stammte. Fünfzehn Jahre älter als sie und mit reichlich unternehmerischer Erfahrung, überließ sie ihm die meisten Entscheidungen in ihrem Zusammenleben. Nur die Rückkehr an den Walchensee, die hatte sich Pia gewünscht. Wahrscheinlich war das eine wahnsinnig blöde Idee gewesen, wie sie mittlerweile dachte, aber Sven hatte gleich eine Geschäftsidee daraus gemacht, und dann hatte dem Ortswechsel nichts mehr im Wege gestanden und es kein Zurück mehr gegeben. Natürlich war die Zeit hier nicht stehengeblieben. Alles hatte sich verändert, die Menschen ebenso wie die Ortschaften. Nichts stand jemals still. Erneut überlief sie ein Schauer.
»Geht es dir nicht gut?«, fragte Sven besorgt. Er bestellte sich ein Kännchen Kaffee und setzte sich mit einer Tageszeitung neben sie auf die Eckbank am Fenstertisch.
»Doch, doch, alles in Ordnung. Ich bin vorhin nur mit einem Bekannten von früher in der Kälte gestanden und muss mich erst wieder aufwärmen. Das war doch sehr frostig.«
»Was? Das Wiedersehen mit deinem Bekannten oder das Wetter?« Sven lachte polternd über seinen Wortwitz, und Pia war froh, nicht antworten zu müssen.
Mit einer Lesebrille auf der Nase vertiefte Sven sich in die Zeitung, und Pia starrte wieder aus dem Fenster.
Am Nebentisch begann die Kellnerin mit dem Eindecken.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte Pia, »der alte Herr Lanzdorfer, wann ist der denn gestorben? Und wissen Sie vielleicht, auf welchem Friedhof er begraben liegt?«
Die Frau sah auf. »Bedaure, ich bin nicht von hier. Dazu kann ich Ihnen leider gar nichts sagen.«
»Schon gut. Danke trotzdem.«
»Ah, schau an, das wäre was für uns. Wollen wir heute Abend da mal essen gehen?« Sven deutete auf eine große Werbeannonce und las vor. »>Strandlounge by Hirschberg, winterlicher Sundowner am Sporthotel< - die haben ein Austern-Special mit Champagnerverkostung. Das ist ganz nach meinem Geschmack. Vielleicht doch nicht alles so hinterwäldlerisch hier, wie es auf den ersten Blick scheint.«
Pia überlegte. Sie riss sich vom Anblick des verschneiten Ufers los und sah ihren Verlobten an.
»Warum nicht? Eine schöne Idee, lass uns das machen. Und zu deinem Termin beim Bürgermeister werde ich dich nachher auch begleiten.«
In Walchensee gab es kein Rathaus, da der kleine Ort Teil der Gemeinde Kochel am See im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen war. Um den Bürgermeister zu sprechen, hatte Sven extra einen Termin vereinbart. Er hatte zwar in Erfahrung gebracht, dass Bürgermeister Naber freitags auch im Gebäude der Touristeninformation in Walchensee zugegen war, wollte aber lieber hinüber in den Nachbarort Kochel fahren.
»Guck mal, da geht es zum Kraftwerk«, sagte Sven auf der Kesselbergstraße. Und etwas später: »Ach schau, dort gibt es ein Kunstmuseum. Soll ich mal auf den Parkplatz fahren?«
»Das können wir uns alles ein andermal anschauen. Zunächst erledigen wir die geschäftlichen Dinge. Dass ich dir das sagen muss, Herr Unternehmer!« Pia wollte neckend klingen, um ihre Anspannung zu überspielen. Es hing viel vom positiven Ausgang ihres Termins ab. Wenn sie den Bürgermeister nicht überzeugen konnten, war ihr Vorhaben von vorneherein zum Scheitern verurteilt, und dann gab es für Sven keinen Grund mehr, länger am Walchensee zu bleiben. Und wenn er fortging, würde sie mit ihm gehen müssen.
Das Rathaus lag im Zentrum von Kochel am See. Der Ort glich zahlreichen anderen bayerischen Dörfern.
»Wenig bemerkenswert«, lautete Svens rasches Urteil.
Auf der Hauptstraße reihten sich Gasthöfe, Hotels, Läden, Bank, Pizzeria und Supermarkt aneinander.
Natürlich fehlte dieses besondere Flair, das den einzigartigen Walchensee ausmachte, fand Pia, sah man doch vom Ortskern aus nicht einmal den Kochelsee. Das Dorf wirkte verschlafen und in die Jahre gekommen. Selbst der gleichnamige See konnte es nicht mit der dramatischen Schönheit seines Konkurrenten jenseits des Kesselbergs aufnehmen. Aber er hatte doch auch seinen eigenen Charme, der am besten während der Sommermonate zur Geltung kam, wenn Ausflugsdampfer auf ihm kreuzten und man an der Uferpromenade flanieren konnte.
Sie parkten vor einem weißen Gebäude mit gelben Mauerblenden und einer verklärt dreinblickenden Marienstatue, die im ersten Stock in eine der Hausecken eingelassen war. Schwer zu sagen, ob das Haus gut renoviert oder neu gebaut, aber auf alt gemacht war.
»Alles mächtig kitschig hier«, konstatierte Sven, als er die Autotür zuschlug. »Wie man sich eben das Bayernland so vorstellt, überall Schneeromantik, bunte Bilder auf Hauswänden und irgendwo tanzt einer Schuhplattler.«
Es hieß nicht Schuhplattler tanzen, sondern schuhplatteln, wenn schon - außerdem waren bayerische Dörfer in der Tat hübscher als mancher Ort nördlich des Weißwurstäquators, davon war Pia überzeugt. Darüber musste man sich nicht lustig machen. Ein unerwarteter Anflug von Heimatliebe überkam sie, und Pia unterdrückte den Drang zu widersprechen. Sven würde das sowieso nicht verstehen. Vier Stufen führten hinauf zum Eingang der Gemeindeverwaltung. Der Bürgermeister erwartete sie in einem hellen, modern möblierten Büro.
»Frau Kaufmann, Herr Neuroth, herzlich willkommen in unserem schönen Zwei-Seen-Land«, begrüßte er sie. »Bitte, nehmen Sie Platz.«
Alle drei setzten sich an einen Besprechungstisch, in dessen Mitte ein Tablett mit Gläsern und Mineralwasserflaschen stand. An der Wand dahinter hing das Wappen von Kochel, mit den drei Bergspitzen und den Streifen in Gelb und Rot.
»Was kann ich für Sie tun?«, kam Bürgermeister Naber umgehend zur Sache. Er war ein sportlich aussehender, dunkelhaariger Mann mittleren Alters, der mit aufmerksamem Blick auf ihre Antwort wartete.
Sven schob ihm seine Visitenkarte über den Tisch zu. »Ich bin Unternehmer und werde hier an ihrem schönen Walchensee eine Erlebnisbrauerei eröffnen. Ganz große Sache. Genaugenommen nicht nur eine Brauerei, sondern auch gleichzeitig eine Destillerie, in der neben Bier auch Whisky und Gin hergestellt werden. Davon kann sicherlich die ganze Gegend profitieren, daher möchte ich heute mit Ihnen über das Wo und Wie sprechen.«
Der Bürgermeister studierte die Visitenkarte eingehend, danach noch mal seine Gäste. Dabei blieb sein Gesichtsausdruck unverändert aufmerksam und neutral. Falls ihn diese...
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