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Freya
»Wieso will er alles der Kirche hinterlassen? Die hat ihn doch überhaupt nicht interessiert! Und den Pfarrer konnte er nicht mal leiden.«
Die aufgebrachte Stimme ihres Bruders drang laut an Freya Sieberts Ohr. Niklas saß neben ihr an einem Besprechungstisch im Büro des Anwalts, der das Testament ihres Vaters verlas. Zuvor hatte eine Sekretärin Kaffee gebracht und die Tassen mit einem derart lauten Klirren auf der gläsernen Tischplatte abgestellt, dass es sich anfühlte, als würden Freya Dolche ins Hirn gestoßen. Ihre Kopfschmerzen waren unerträglich. Erst am Vortag war sie aus Stockholm angereist und hatte eine schlaflose Nacht in einem Elternhaus verbracht, das ihr völlig fremd geworden war.
»Du verstehst das falsch, Niklas«, erklärte Dr. Hubert Schneider, Rechtsanwalt und Freund der Familie Siebert, in geduldigem Tonfall. »Schau, euer Vater hat lediglich verfügt, dass sein Erbe dann an die Kirche fällt, wenn du und deine Schwester das Geschäft nicht gemeinsam weiterführt und es innerhalb der nächsten zwei Jahre verkauft. Er möchte also, dass alles in der Familie bleibt. Somit gehört es selbstverständlich euch beiden - vorausgesetzt, ihr betreibt es in seinem Sinne.«
»Das ist unmöglich«, protestierte Niklas. »Freya ist vor fast zwanzig Jahren weggezogen, sie hat keine Ahnung, was es heißt, einen Gasthof zu leiten. Von der Fischerei auf dem Walchensee fange ich gar nicht erst an.«
»Können Sie mir die Bedingungen bitte noch einmal im Detail erklären, Herr Doktor Schneider?«, bat Freya ruhig. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war sie mit dem Anwalt nicht per Du. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, dass er ein Freund ihres Vaters gewesen war. Allerdings hatte sie Walchensee bereits als Neunjährige verlassen und so war es ihr kaum möglich, Gesichter von damals wiederzuerkennen.
Im Ort am Ufer des gleichnamigen Sees kannte jeder jeden und bei ihrer Ankunft tags zuvor - über die offenbar alle Bescheid wussten -, hatten sie zahlreiche Leute begrüßt, an die sie keinerlei Erinnerung besaß. Sogar der eigene Bruder erschien ihr fremd. Überhaupt kam sie sich in der Kulisse der überwältigend malerischen Bergwelt vor wie eine Statistin in einem kitschigen Heimatfilm. Der Kontrast zum gewohnten schwedischen Minimalismus konnte nicht größer sein. Alles am und in Walchensee war üppig. Das türkise Wasser des Sees, die blühenden Wiesen, das satte Grün der Bäume, die prächtigen Berge, die Lüftlmalereien an den Häusern samt ihren überquellenden Blumenkästen. Freya fühlte sich überfordert. Vielleicht lag es auch an den Kopfschmerzen, dass die bunte Pracht sie derart mitnahm. Oder an der Testamentseröffnung.
Doktor Schneider kam Freyas Bitte um Erklärung nach, und als sie sich nun mit aller Anstrengung auf seine Worte konzentrierte, begriff sie, weshalb Niklas sich aufregte. Über seinen Tod hinaus verlangte der Vater Unmögliches von ihnen. Nicht alles, was zerbrochen war, ließ sich wieder kitten. Wollte der verstorbene Johannes Siebert seine Kinder tatsächlich mit aller Macht jetzt wieder zusammenführen? Weshalb hatte er sich zu Lebzeiten nicht darum bemüht? Freya straffte die Schultern, das mussten sie nicht vor dem Anwalt diskutieren.
Als er mit seinen Ausführungen fertig war, stand Freya auf. »Danke, wir werden alles besprechen und geben Ihnen dann Bescheid. Wir brauchen ein wenig Zeit.«
»Natürlich, das verstehe ich. Überlegt es euch in Ruhe.«
»Da wird es nicht viel zu überlegen geben«, brummte Niklas und erhob sich ebenfalls. »Danke Hubert, wir melden uns wieder bei dir. Den Schock müssen wir erst mal verdauen.«
Draußen sahen sich die Geschwister unschlüssig an.
»Willst du auf den Friedhof?«, fragte Niklas. Die Kanzlei befand sich in einem Haus an der Hauptstraße, die durch den langgestreckten Ort hindurchführte. Ganz in der Nähe jener Sankt-Jakob-Kirche, von der im Testament die Rede war.
»Ja«, sagte Freya. »Es gibt -keinen Grund, es noch länger hinauszuschieben. Irgendwann muss ich es hinter mich bringen. Nachdem ich es nicht rechtzeitig zur Beerdigung geschafft habe .«
»Sei froh, dass dir das erspart geblieben ist. Es hat geregnet wie aus Kübeln, trotzdem ist das ganze Dorf aufmarschiert.«
»Tut mir leid, dass du da allein durchmusstest.«
Er zuckte mit den Schultern.
Die ringsum steil aufragenden Berge erlaubten keine große Ausdehnung der Siedlungen vom Ufer weg, daher lag das Dorf Walchensee lang und schmal entlang des Wassers. Getrennt durch die Uferstraße, lagen zur einen Seite Bootshäuser und Badestrände, zur anderen Gasthöfe, Läden, Pensionen und, leicht erhöht, die alte Ortskirche mit ihrem kleinen Friedhof.
Längst gab es eine neue Kirche etwas außerhalb. Aber die alteingesessenen Familien wurden nach wie vor hier beigesetzt, so wie es immer schon gewesen war. Das schmiedeeiserne Tor quietschte in den Angeln und der Kies knirschte unter ihren Schuhen, als die Geschwister den Friedhof betraten und vorbei an Granitplatten und Holzkreuzen den Weg bis zum Ende entlangliefen. Die Sieberts hatten ihr Familiengrab an der Friedhofsmauer. Ein schlichter, ins Mauerwerk eingelassener Stein, auf dem die frisch angebrachten Lettern golden schimmerten. Johannes Siebert. Freya schluckte. Den Namen des Vaters dort zu lesen, bedeutete eine Endgültigkeit, die schmerzte. Sie blinzelte und betrachtete die Blumenkränze auf der frisch aufgeschütteten Erde. Unserem langjährigen Mitglied, in stillem Gedenken und Abschied in Dankbarkeit, las sie die letzten Grüße von Feuerwehr, Stockschützen und Blaskapelle auf den Trauerschleifen. Wie die meisten Männer im Ort war der Vater in mehreren Vereinen gewesen. Deine Kinder, stand auf der von Niklas und Freya.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich zu spät gekommen bin«, murmelte sie mit erstickter Stimme.
»Dein Flug wurde gecancelt. Da kann man eben nichts machen. Ich glaube, es hat sowieso keiner wirklich mit dir gerechnet.«
Diese Spitze tat weh.
»Wie war Papa in seinen letzten Tagen? Ging es ihm schlecht?«
»Überhaupt nicht, das ist ja das Seltsame. Er war aktiv wie immer, ist zum Fischen auf den See rausgefahren und hat sich sogar im Stand-up-Paddling versucht, was bei den Touristen momentan der Renner ist. Der Arzt hat gesagt, es war ein heftiger Herzinfarkt, mitten in der Nacht. Papa ist wohl nicht mal aufgewacht und hat nichts gemerkt. Das rede ich mir jedenfalls ein.«
Niklas, ihr großer, breitschultriger Bruder, der ihr als Kind immer vorgekommen war wie der stärkste Junge der Welt, wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Auch Freya konnte die Tränen nicht zurückhalten, was sie überraschte. Sie hatte nicht erwartet, dass ihr das so nahegehen würde, und überhaupt hatte sie sich vorgenommen, der Situation erwachsen und distanziert zu begegnen. Aber der Tod des Vaters berührte sie in diesem Augenblick zutiefst. Entfremdet oder nicht, sie war seine Tochter, und er würde immer ein Teil von ihr sein. Zumindest die Erinnerungen an ihn, die sie aus Kindertagen herübergerettet hatte. Die wichtigen. Wie er in der Küche stand, ihr etwas kochte und dabei Geschichten erzählte. Oder wie er sie auf seinen Schultern trug, weil sie nicht mehr laufen wollte - was in den Bergen oftmals der Fall gewesen war. Nie war er bei Wanderungen ungeduldig geworden, er hatte sie einfach hochgehoben und getragen. Ganz bestimmt hatte er sie geliebt. So wie sie ihn auch, vor langer Zeit.
Als ein frischer Wind aufkam, räusperte sie sich und kramte ein Taschentuch hervor.
»Der hatte anscheinend drei Frauen«, konstatierte Freya und deutete auf das Grab daneben, um das Thema zu wechseln.
»Stimmt. Der Rossbauer und seine drei Bäuerinnen. Das ist interessant.« Niklas richtete seinen Blick auf den Namen des Mannes. »Eine alte Familie, mit einem großen Hof. Die erste Frau ist im Kindbett gestorben, ihre Nachfolgerin auch, sogar zusammen mit dem Kind, und die dritte hat den Bauern um zwanzig Jahre überlebt.«
»Wie unberechenbar das Leben ist«, sinnierte Freya.
Freyas Elternhaus befand sich auf halbem Weg zwischen dem Ortsrand von Walchensee und der weit in den See hineinragenden Halbinsel Zwergern. Es war ein hübsches altes Holzhaus mit Fensterläden, umlaufendem Balkon, großem Garten, Seezugang sowie einem eigenen Anlegesteg. Schon als sie noch Kinder gewesen waren, hatte der Vater ihnen immer wieder eingeschärft: »Egal was passiert, unser Grundstück wird auf keinen Fall verkauft. So was kriegt man niemals wieder.« Freya war so lange nicht mehr hier gewesen, und nun holten sie all die Erinnerungen ein.
»Die Geier kreisen schon«, bemerkte Niklas, als könnte er ihre Gedanken lesen. Er parkte den Wagen auf dem Kiesplatz vor dem Haus, der auch für die Gäste bestimmt war. Weiter hinten gab es einen Schuppen, der sowohl als Werkstatt als auch als Garage diente. »Seitdem Papa gestorben ist, habe ich schon acht Anfragen von Investoren bekommen.« Er schnaubte verächtlich. »Hauptsächlich aus München. Wieso die meinen, hier gäbe es was zu holen, ist mir schleierhaft. Aber sogar bei Onkel Georg haben sie schon angeklopft. Dem gehört die Wiese nebenan, wie du weißt. Unangenehm, diese Immobilienhaie.«
»Unser Grundstück kriegen die niemals, darin sind wir uns zumindest einig. An Onkel Georg erinnere ich mich übrigens gut. Wortkarg, aber lieb. Und an unsere Cousine Lena, die ist doch so alt wie ich. Wie geht es ihr?«
»Gut. Sie feiert bald ihren Dreißigsten. Du ja auch.« Vom Parkplatz aus liefen sie über einen mit Steinplatten ausgelegten Weg zum Haus. Er war auf beiden Seiten von niedrigem Buschwerk gesäumt, das dringend getrimmt werden...
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