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Juni 2016
Mit elegantem, durch und durch britischem Akzent hatte das Navigationssystem des Mietwagens Iris versichert, dass die Fahrt vom Flughafen in Cardiff nach Merthyr Mawr achtunddreißig Minuten dauern würde. Wer wollte das infrage stellen? Zumal es für amerikanische Verhältnisse, wie Iris sie kannte, ein Katzensprung war. Deswegen war sie einigermaßen zuversichtlich gestartet, obwohl sie sich beim Fahren auf der ungewohnten linken Straßenseite ein wenig unsicher fühlte. Hinzu kam, dass die Fahrbahnbreiten in Wales sich doch deutlich von denen in den USA unterschieden. Iris glaubte nicht, irgendwo in Boston und Umgebung jemals derartig schmale Straßen gesehen zu haben.
Nach eineinhalb Stunden begann sie, die freundliche Computerstimme anzuzweifeln. War sie nicht schon dreimal an dieser Kreuzung vorbeigekommen? Die Umgebung wirkte trotz der Nähe zur walisischen Hauptstadt sehr ländlich, einsam beinahe. Kilometerlang säumten Wiesen und Felder den Weg, dazwischen lag wie hingetupft das eine oder andere Gehöft. Ortschaften hatte Iris schon länger nicht mehr passiert. Die Sonne ging unter, und mit ihr schlief auch der Wind ein, der sie am Flughafen begrüßt und bis hierher begleitet hatte.
»Wenn möglich, bitte wenden«, wies Mister Navi sie an.
Schicksalsergeben seufzte Iris und tat, wie ihr geheißen. Sie bog in einen Weg ein, dessen Asphaltbelag nach ein paar Metern von Schotter abgelöst wurde, erblickte kurz ein einsames Cottage und holperte weiter über Schlaglöcher, bis sie schließlich vor einem weiteren Haus im Niemandsland zum Stehen kam, dessen Schild es als Colomen Ty auswies. Sackgasse. Ende der Straße. Zwar hatte Iris keine Ahnung, was Colomen Ty bedeutete, aber sie war sich sicher, dass dies nicht ihr Ziel war.
Mit einem weiteren Seufzer öffnete sie die Tasche neben sich auf dem Beifahrersitz und fischte eine herkömmliche Landkarte heraus, die sie in weiser Voraussicht am Flughafen noch gekauft hatte. Draußen wurde es immer dunkler. Sie knipste die Beleuchtung im Wageninneren an und versuchte, sich auf der Karte zu orientieren. So viele Straßen standen hier eigentlich nicht zur Auswahl. Iris begriff nicht, warum das GPS Schwierigkeiten damit hatte. Ab jetzt würde sie das Navigieren selbst übernehmen und die Anweisungen von Mister Navi ignorieren.
Ein paar Mal musste sie noch anhalten, um die Straßenkarte zurate zu ziehen, aber irgendwann, mittlerweile war es stockfinster, erreichte sie Merthyr Mawr.
Straßenlaternen gab es in dem kleinen Ort keine - Iris hatte gelesen, dass weniger als dreihundert Menschen hier lebten, nicht genügend für eine Nachtbeleuchtung, anscheinend. Alles wirkte wie ausgestorben. Lediglich über einer der Eingangstüren an der Durchfahrtstraße brannte Licht. Erleichtert stieß Iris die Luft aus, als sie das Schild darunter las: Tywod Cottage.
»Sie haben Ihr Ziel erreicht«, informierte Mister Navi sie überflüssigerweise, als ob es sein Verdienst wäre, dass sie die Nacht nicht auf offenem Feld zubringen musste.
»Vielen Dank«, sagte sie laut und schaltete die Zündung aus.
Mit ihrer Reisetasche in der Hand klopfte sie an die Tür des Hauses.
»Herzlich willkommen! Sie müssen Iris sein!« Freundlich lächelnd öffnete ihr eine Dame um die fünfzig und bat sie herein.
»Vielen Dank. Und Sie sind sicher Mrs Llewellyn?« Iris gab sich Mühe, den Namen korrekt auszusprechen, was ihr allerdings mehr schlecht als recht gelang.
»Nennen Sie mich Rosemary, bitte.« Wahrscheinlich wollte die arme Mrs Llewellyn weiteren Entstellungen ihres Namens vorbeugen. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Zimmer. Ich hatte Sie eigentlich schon vor einer Weile erwartet. Hatte Ihr Flug Verspätung?«
»Nein. Ich habe mich ein wenig verfahren.«
»Sie sind mit einem Mietwagen unterwegs? Wie praktisch!«
»Hm. Nach meiner heutigen Erfahrung dachte ich eigentlich, ich sollte ihn stehen lassen und die Gegend künftig lieber mit dem Bus erkunden .«
Rosemary warf Iris einen verständnisvollen Blick zu. »Wegen des Fahrens auf der linken Seite, nehme ich an. Als Amerikanerin ist das sicher ungewohnt für Sie.« Sie schloss die Tür hinter Iris und bedeutete ihr, eine schmale Treppe hinauf in den ersten Stock zu steigen.
»Sie sind momentan der einzige Gast in meiner Pension«, plapperte Rosemary fröhlich drauflos. »Deshalb bekommen Sie das beste Zimmer. Der Tourismus in der Gegend ist auch nicht mehr das, was er früher einmal war. Die Leute fahren lieber rüber auf den Kontinent, in europäische Großstädte oder ans Mittelmeer. Wales scheint ein wenig aus der Mode gekommen zu sein. Na ja, wirklich viel los war bei uns eigentlich noch nie, wenn ich ehrlich bin. Wie lange wollen Sie denn hier bleiben?«
»Ich bin mir noch nicht sicher. Ein paar Tage?«
»Kein Problem. Sie können hier wohnen, so lange Sie wollen.«
Rosemary öffnete die erste Tür auf der linken Seite eines langen Ganges, der durch das gesamte Haus führte, und trat beiseite. Mit einem erwartungsvollen Lächeln wies sie ins Innere des Zimmers. Dabei fiel Iris auf, dass die Besitzerin der Pension kirschroten Lippenstift trug, sehr exakt aufgetragen, was sie ungewöhnlich mondän für die ländliche Umgebung wirken ließ. Es passte gut zu ihrem platinblonden Haar, das stufig bis auf ihre Schultern fiel. Sicher kein alltäglicher Look in diesem winzigen Ort. Iris fand Rosemary auf Anhieb sympathisch.
»Ist das hübsch!«, entfuhr es ihr, als sie das Zimmer betrat. Ein breites Messingbett nahm fast die gesamte Schmalseite des Raums ein. Die Decke war niedrig und sorgte für ein heimeliges Flair. Ein doppelflügeliges Fenster mit Bleiglasscheiben, die in viele kleine Rauten unterteilt waren, eine hölzerne Kommode mit passendem Kleiderschrank und ein kleiner Frisiertisch vervollständigten das nostalgische Interieur. Auf dem Bett lag eine gequiltete Tagesdecke in Blautönen, farblich passend zur Nachttischlampe, die ungewöhnlicherweise die Form einer Schwertlilie hatte.
»Ich musste Ihnen einfach dieses Zimmer geben«, sagte Rosemary verschwörerisch, »wegen der Lampe. Eine Iris. So wie Sie. Außerdem hat es ein eigenes Bad. Frühstück gibt es von sieben bis neun. Full English, kein kontinentales. Ich hoffe, Sie mögen herzhaftes Essen. Mittag- und Abendessen bekommen Sie entweder im Pelican Pub drüben in Ogmore, nur einen Steinwurf entfernt, oder in Ewenny, das dauert allerdings ein paar Minuten mit dem Auto. Der nächste Supermarkt befindet sich in Bridgend. Sollten Sie irgendetwas brauchen, sagen Sie mir Bescheid. Ich helfe Ihnen gerne.«
Während Iris auspackte, brachte Rosemary ihr eine Tasse Tee. Einfach so. Iris war überrascht von der Herzlichkeit ihrer Vermieterin.
Sie öffnete das Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit, während sie den Tee trank. Viel war nicht zu sehen - und noch weniger zu hören. Für einen Stadtmenschen wie Iris war diese Stille etwas Besonderes, es fühlte sich an wie eine friedliche Umarmung. Iris spürte förmlich, wie die Anstrengungen der Reise von ihr abfielen. Sie atmete tief ein und aus, ließ die Schultern sinken und entspannte ihre Kiefermuskulatur. Hier war sie nun, in Merthyr Mawr, der Heimat ihrer Vorfahren. Von hier aus war ihr Urgroßvater nach Amerika aufgebrochen. Seit Generationen behauptete jeder in Iris' Familie, nichts in Boston, den USA oder sonst wo auf der Welt wäre so unvergleichlich wie der salzgeküsste Wind und die wilde See an der Küste von Wales. Davon musste sie sich selbst überzeugen.
Weil sie nicht gerade darauf erpicht war, sich in der Dunkelheit auf die Suche nach dem von Rosemary erwähnten Pelican Pub zu machen, beschloss sie, das Abendessen ausfallen zu lassen. Sie war ohnehin müde. Allerdings stieg aus Rosemarys Küche ein derart verführerischer Duft nach gebratenen Zwiebeln zu ihr hoch, dass sie wie magisch angezogen ihr Zimmer verließ und die Treppe hinunterstieg. Rosemary hörte sie wohl, denn sie steckte den Kopf aus der Küchentür.
»Was ich Sie noch fragen wollte - sind Sie eigentlich wegen des Grundstücks hier?«
Überrascht hielt Iris inne. »Welches Grundstück?«
»Bryns Land.«
»Wer ist Bryn?«
»Na, Bryn Rhys. Selber Nachname wie der Ihre! Mit Ihren dunklen Locken und den hellblauen Augen gehören Sie ganz bestimmt zu den Rhys aus Merthyr Mawr, so viel ist sicher. Wir dachten uns schon, dass irgendwann mal einer von den amerikanischen Rhys hier auftauchen würde, um das Land zu verkaufen. Immerhin liegt es seit Bryns Tod brach.«
Iris machte ein paar Schritte auf Rosemary zu. Sie war vollkommen verdutzt.
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Meine Vorfahren stammen zwar aus diesem Ort, aber ich habe keine Ahnung, ob es in Merthyr Mawr noch lebende Verwandte gibt oder Grundstücke oder sonst etwas. Ich war neugierig, deshalb bin ich hergekommen. Eigentlich war ich auf einer Fortbildung in London. Und Sie wissen ja, wie das mit uns Amerikanern ist, ich dachte, Wales wäre gleich um die Ecke, und ich mache einfach einen kurzen Abstecher .«
»Ich habe Cawl gekocht, das ist ein typisch walisischer Eintopf mit Lamm und Lauch. Dazu gibt's selbst gebackenes Brot. Wenn Sie möchten, essen Sie mit mir, dann erzähle ich Ihnen etwas über den walisischen Zweig Ihrer Familie.«
Das ließ sich Iris nicht zweimal sagen und folgte Rosemary in die Küche. Auf einem mintgrün lackierten, gusseisernen und nostalgisch wirkenden AGA-Herd köchelte die Quelle des verführerischen Dufts vor sich hin, und Iris schnupperte begeistert.
Rosemary nahm zwei Teller aus einem Küchenbuffet, das aussah wie ein Original aus den Fünfzigerjahren, und stellte sie auf den Tisch am...