Schweitzer Fachinformationen
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Vivi
Okay. Es ist offiziell. Ich brauche Hilfe.
Ich hänge zwischen vier Stahlseilen, die vom Gehweg hinauf zu den riesigen rostroten Stahlträgern der Golden Gate Bridge führen. Meine Finger sind klamm in der kalten Aprilnacht, mein Herz rast. Ich sollte irgendwas tun. Zum Beispiel laut schreien. Oder wenigstens versuchen, allein runterzuklettern. Aber ich kann nicht. Ich habe nach unten gesehen. Und unten ist verdammt weit weg.
Wieso musste ich auch so weit raufklettern, nur für dieses verdammte Projekt?
Verkrampft versuche ich, zu ignorieren, wie weit es allein bis zum Gehweg auf der Brücke ist. Stattdessen halte ich mich an dem atemberaubenden Ausblick fest, der sich vor mir auftut. Für einen Moment ist es, als würde die Zeit stillstehen. Hier oben, über der Brücke, über dem Nebel, dehnt sich der Augenblick endlos aus, wie der Pazifik, der in der Dunkelheit weit unter mir mit der Nacht verschmilzt. Ich sehe noch die Lichter von San Francisco in der Ferne glitzern, dann wallt der Nebel über mich hinweg.
Das Dröhnen des Nebelhorns reißt mich zurück in die Zeit. Sie rast jetzt. Ich spüre jede einzelne Sekunde in meinen steifen Fingern, meinen brennenden Armen und meinen schmerzenden Füßen. Verzweifelt stemme ich mich gegen die zwei Seile in meinem Rücken, um die Arme zu entlasten, aber es hilft nicht.
Tu es jetzt.
Eigentlich ist es ganz einfach. Ich muss nur loslassen. Trotzdem zögere ich. Es sind Sekundenbruchteile, aber manchmal bestimmt der Bruchteil einer Sekunde über ein ganzes Leben. Und manchmal fühlt man das schon, bevor man die Entscheidung trifft, die alles verändern wird.
Ich schließe die Augen. Unzählige mögliche Verzweigungen der Zukunft rasen an mir vorbei. Unendlich viele Wege, die ich bereuen oder für die ich später auf Knien dankbar sein könnte. Wenn ich doch nur wüsste, was davon eintreten wird.
Los jetzt. Tu es endlich. Bevor dir die Entscheidung abgenommen wird.
Ich atme tief durch, lockere vorsichtig die Finger der einen Hand. Meine Arme zittern, Panik steigt in mir auf. Sofort schließe ich die Hand wieder um das Seil. Nein. Keine Chance. Vorhin habe ich es noch geschafft, aber jetzt fehlt mir die Kraft. Also aufgeben und riskieren, dass alles umsonst war?
Verzweifelt sehe ich nach unten - und zucke zusammen. Der Nebel ist an einer Stelle aufgerissen, direkt unter mir steht ein Typ. Er scheint mich nicht bemerkt zu haben, starrt nur in die weißen Schwaden. Vielleicht bewundert er durch eine Lücke im Nebel die Stadt, die so lange meine Heimat war.
Ich öffne den Mund, um ihm etwas zuzurufen, schließe ihn aber sofort wieder. Noch eine Entscheidung, die alles verändern könnte. Alles könnte passieren - oder nichts, wenn ich ihn um Hilfe bitte. Er könnte nur ein Passant sein, der zufällig vorbeikommt. Dann hilft er mir vielleicht wirklich. Er könnte aber auch einer der Polizisten sein, die auf der Brücke patrouillieren. Sie sind in Zivil unterwegs, man erkennt sie nicht einfach so. Wenn ich ihn auf mich aufmerksam mache und er einer von ihnen ist, würde das alles ruinieren.
Das Nebelhorn auf der Südseite der Golden Gate Bridge dröhnt erneut, und ich gebe mir Zeit, bis es verstummt ist, um den Mann zu mustern. Vielleicht macht sein Aussehen mir die Entscheidung leichter. Aber woran erkennt man, ob man jemandem vertrauen kann? Ich sehe dunkle Haare, die ihm in die Stirn fallen, sein Gesicht erkenne ich nicht. Aber selbst wenn - könnte ich ihm ansehen, ob er ein Polizist ist? Sind seine breiten Schultern ein Hinweis darauf?
Das Nebelhorn verstummt. Der Mann ist immer noch da. Und ich bin immer noch unentschlossen. Aber wenn ich noch länger warte, verschwindet er vielleicht, und dann ist meine einzige Chance verstrichen.
Er holt etwas aus der Tasche seines Mantels. Ein Smartphone, so ein Glück! Er hebt die Hand. Holt aus.
Moment! Was tut er denn da?
»Hey!«, schreie ich, ohne lange nachzudenken. »Nicht das Handy wegwerfen!«
Er hält inne, lässt wie in Zeitlupe die Hand sinken.
Die Entscheidung ist getroffen. Unmöglich, sie rückgängig zu machen.
Der Mann sieht sich um. Nach rechts und links.
»Könntest du vielleicht .«, rufe ich, aber das Nebelhorn auf der anderen Seite der Brücke übertönt mich mit seinem lang gezogenen, dumpfen Geräusch. Der Mann schaut sein Smartphone an.
»Wirf das Handy nur ja nicht weg!«, schreie ich.
Noch mal sieht er sich um, diesmal auch nach oben. Seine Gesichtszüge entgleiten ihm. Junge Gesichtszüge, er ist sicher nur ein paar Jahre älter als ich.
»Wie bitte?« Seine Stimme klettert zu mir herauf. Sie klingt dunkel, angenehm und . leicht irritiert. Mir wird klar, wie unverschämt ich auf ihn wirken muss.
»Tut mir leid, ich bin sicher, du hast einen wichtigen Grund, es wegwerfen zu wollen. Aber . könntest du damit vielleicht noch kurz warten?«
»Was .«, beginnt er, und dann erst scheint er mich richtig wahrzunehmen, denn es kommt Leben in seine Mimik. Von Entsetzen bis Überraschung ist alles dabei. Aber hauptsächlich ist es Verwirrung.
Wäre lustig anzuschauen, wenn ich die Ruhe dafür hätte. Vor allem weil sein Gesicht ganz interessant ist, nicht zu weich, aber auch nicht zu kantig, irgendwie . genau richtig. Soweit ich das von hier oben erkennen kann. Genau richtig? Was denke ich denn da? Ich klammere mich hier notdürftig fest, mein Leben hängt an den glitschigen Drahtseilen der Brücke, und ich überlege, ob mir der Typ da unten gefällt? Ernsthaft, Violet? Ich schüttle den Kopf - und verliere den Halt.
Kreischend rutsche ich an den Stahlseilen nach unten. Nur ein Stück, bevor ich mich wieder halten kann.
»Hey! Alles in Ordnung?« Er klingt atemlos. Besorgt fast.
Ich kann trotzdem nicht antworten. Mit geschlossenen Augen hänge ich da, mein Herzschlag tönt laut in meinen Ohren. Dann erst, vorsichtig, schaue ich nach unten. Es ist viel zu weit, als dass ich einen Sturz überleben würde. Der Typ steht jetzt genau unter mir, als wolle er mich auffangen. Lächerlich. Wenn ich aus dieser Höhe auf ihn falle, sind wir beide hinüber.
»Kannst du runterklettern?«, fragt er. »Ich helfe dir«, schiebt er hinterher, wobei er selbst nicht ganz davon überzeugt wirkt, dass er das überhaupt kann.
»Nein, ich komme nicht runter«, gebe ich, immer noch zittrig, zurück.
»Wieso nicht?«, fragt er plötzlich misstrauisch. »Willst du etwa . springen?«
»O Gott, nein!« Unwillkürlich starre ich wieder nach unten. Das Wasser ist entsetzlich weit weg. Darauf aufzuschlagen wäre so, wie auf Beton zu prallen. Wie es sich wohl anfühlt, wenn man dort zerschellt? Ich schlucke schwer und wende das Gesicht ab.
»Dann komm runter!«
»Nein!«, brülle ich und schiebe mich die paar Zentimeter, die ich runtergerutscht bin, vorsichtig wieder hinauf. »Erst musst du mir mit deinem Handy helfen. Du musst für mich was nachsehen.«
»Etwas nachsehen?« Er klingt, als hätte ich eine Vollmeise. Wundert mich nicht. Vielleicht habe ich ja auch eine.
»Ja, bitte.«
»Warum kommst du nicht erst runter, und wir sehen dann nach?«, fragt er, in einem Ton, als würde er zu einem scheuen Tier sprechen, das er anlocken will.
»Nein. Ich schaffe es heute sicher nicht mehr, hier noch mal raufzuklettern, falls es nicht geklappt hat.«
»Muss es denn heute sein?«
»Ja!« Denn morgen bin ich nicht mehr hier.
»Ich nehme an, ich kriege dich schneller da runter, wenn ich mache, was du willst?«
Ein Lachen steigt in mir auf, aber es kommt als nervöses Schnauben heraus. »Ja.«
»Was müsste ich tun?«
»Es gibt eine Website, auf die du bitte gehen musst. Mit deinem Smartphone.« Denn meins steckt in der hinteren Hosentasche meiner Jeans, und mein Plan, es zu benutzen, um selbst nachzusehen, scheitert an meiner nachlassenden Kraft und meiner Angst, noch mal eine Hand vom Stahlseil zu lösen. Oder nein, wahrscheinlich ist es Vernunft, die mich daran hindert, so etwas unglaublich Dummes noch einmal zu tun. Immerhin hat sich der Nebel jetzt wieder so dicht um mich zusammengezogen, dass ich nicht mehr sehe, wie tief ich fallen könnte.
Ist der Typ noch da?
»Bitte!«, rufe ich. »Geh nicht weg. Ich brauche dich.«
Schweigen steigt zu mir herauf, so lang gezogen, dass ich schon glaube, er hat mich einfach hängen lassen.
»Was hast du gesagt?«, fragt er schließlich leise. Ich kann ihn kaum verstehen.
Was meint er? »Ich brauche dich. Meintest du das?«
Wieder schweigt er. »Warum?«, fragt er dann.
Verwirrt runzle ich die Stirn und frage mich langsam, ob ich die Einzige bin, die eine Meise hat. »Weil . weil du ein Handy hast. Und dass du es danach wegwerfen willst, schadet auch nicht. Dann .« - ich versuche mich an einem Witz - »gibt es keine Beweise.«
Er lacht nicht. Aber er lässt mich auch nicht einfach hier zurück, was unter diesen Umständen schon mal ein Anfang ist.
»Ich verstehe.« Diesmal klingt er etwas sanfter. Fast so, als hätte er gern lachen wollen und es aus irgendeinem Grund nicht getan.
»Okay, dann .«, beginne ich.
»Erst will ich noch wissen, was du da eigentlich machst«, unterbricht er mich. Als hätte er Angst, dass ich ihn zum Komplizen bei etwas Illegalem mache. Stimmt ja auch irgendwie.
»Es ist ein . Projekt. Ich verspreche dir, dass es nichts ist, was irgendwem schadet. Reicht das? Ich halte es wirklich nicht mehr lange hier oben aus.«
Er zögert kurz. Vielleicht sieht auch er gerade die unendlichen...
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