Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
»Ach du Kacke«, sagte Luca.
Da war ein Schiff auf dem Feld.
Luca erkannte den gigantischen Umriss im Nebel sofort als Bug, obwohl das Schiff auf der Seite lag . aber was er sah, war derart fehl am Platz, dass er einen Moment brauchte, um es zu begreifen.
»Was . wie ist das denn hierhergekommen?«, fragte Emma und klang so fassungslos, wie er sich fühlte. Als er nicht reagierte, fügte sie hinzu: »Siehst du das auch?«
»Ja klar.«
Gestern hatte es noch nicht hier gelegen. Sie waren dieselbe Strecke gefahren, und da war es nicht neblig gewesen. Sie hätten das Ding auf gar keinen Fall übersehen.
Sie legten die Räder am Eingang zum Feld ab und gingen zu Fuß weiter. Dies hier war Blumenland. Ab April würde die ganze Gegend mit prächtigen Reihen bunter Farben erstrahlen und Horden von Tulpentouristen anziehen. Jetzt lag das Feld grau und karg da. Unter der gefrorenen obersten Schicht war die Erde weich, und jeder Schritt fühlte sich an, als könnte man durch die aufgeplatzte Membran einsinken. Die Stille war drückend, der Nebel klamm. Anfangs beschwerte Emma sich noch, dass sie zu spät kommen würden, wenn sie hier noch weiter herumlungerten, aber bald schien auch sie die Schule vollkommen vergessen zu haben.
»Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte sie. »Sieht aus, als wäre es angespült worden. Aber wie kann es auf dieser Seite der Dünen gelandet sein?«
»Keine Ahnung.«
»Sieht fast aus wie eine Szene aus Fluch der Karibik .«
Luca hatte an den Nachbau der Amsterdam gedacht, die vor dem Schifffahrtsmuseum vor Anker lag, aber Emmas Vorschlag war besser. Die Amsterdam war nachgemacht. Das hier fühlte sich alt und echt an. Wie nannte man diese Art von Schiff? Galeone? Klipper? Wie dem auch sei, der lange Bugspriet stach hoch über ihnen wie ein Schwert in den Nebel. Drei lange Masten stützten das schräge Deck vom Boden ab; der vorderste direkt vor ihren Füßen, der hinterste fast vierzig Meter entfernt, wo das schmale Deck mit dem Achterkastell verschmolz, das kaum mehr als eine Silhouette war. Geschwungene Dollborde rundeten den massiven Rumpf ab, der fast wie ein Holzpantoffel geformt war. Abblätternde Farbe enthüllte verwitterte schwarze Planken, aber insgesamt wirkte das Schiff zu intakt, um es als Wrack zu bezeichnen. Es schien einfach auf Grund gelaufen zu sein. Als läge es am Strand. Nur lag es eben hier, im Blumenbeet vom schrulligen alten Hopman, weit weg von der nächsten größeren Wasserfläche.
Ein Geräusch erschreckte ihn. Das straffe Netz der Wanten knirschte sanft. Eines der schäbigen, zerrissenen Segel knatterte in einem plötzlichen Windstoß.
»Schau mal«, sagte Emma. Sie ging bis zum Bug und darunter in die Knie. »Siehst du, wie tief es im Boden steckt? Es muss extrem schwer sein. Der Boden ist weich, aber siehst du irgendwo Schleifspuren?«
Nein . und das war wirklich komisch. Nirgendwo Anzeichen von Menschen oder Lastwagen oder Überbleibsel einer Baustelle. Das Schiff lag da, als wäre es vom Himmel gefallen.
Luca leckte sich über die Lippen. »Vor einiger Zeit hab ich ein Meme von einem Konzertflügel gesehen, der einfach auf einem Felsen im Meer aufgetaucht ist. In der Nähe der Küste, mitten in der Gischt. Keiner hat gewusst, wie er da hingekommen ist. Stellt sich raus, es war ein Kunstprojekt, das viral gehen sollte. Irgendwer hatte den Flügel mitten in der Nacht mit einem Heli da abgesetzt. Er sollte etwas symbolisieren.«
»Was denn?«
»Keine Ahnung, war ja Kunst. Das hier sieht halt ähnlich aus. Wir sollen uns fragen, wie es hierhergekommen ist und was es zu bedeuten hat.«
Aber Emma schüttelte den Kopf. »Das ist kein Kunstprojekt, Luca. Man kann einen Flügel vom Himmel ablassen, aber nicht so was.« Sie rümpfte die Nase, und Luca fand, sie hatte noch nie so süß ausgesehen.
»Vielleicht hat ein Sturm es hergeweht?«
Emma schaute ihn ungläubig an. »Ein Sturm.«
Er zitterte und grub sich tiefer in seinen Parka ein. Es hat hier einen Sturm gegeben, dachte er. Ich weiß bloß nicht, was für einen. Oder was er ausgespuckt hat.
Emma erhob sich und verschwand hinter dem Bug.
»Emma, warte!«
Er rannte ihr hinterher, brach aber durch die dünne Eisschicht einer alten Pfütze, die ein Traktorreifen verursacht hatte. Kaltes Wasser lief in seinen Sneaker. Luca fluchte und riss den Fuß aus dem Loch. Als er aufschaute, sah er Emma, die ihn um den geschwungenen Bug herum musterte. Sie hatte einen Lederhandschuh ausgezogen und ihre Hand auf den Rumpf gelegt.
»Fühl mal.«
Er ging zu ihr, streifte auch einen Handschuh ab und kopierte ihre Geste . zog die Hand aber rasch zurück. Der Rumpf war mit Seepocken überzogen, die Oberfläche gefährlich scharfkantig. Vorsichtig streckte er abermals die Hand aus und klopfte gegen ein Stück freiliegende Planke - einmal, zweimal, dreimal.
Drei ist eine magische Zahl, dachte er. Die Leute klopfen immer dreimal an eine Tür, ohne zu wissen, was sie auf der anderen Seite wecken.
Um sicherzugehen, klopfte er noch ein viertes Mal, nur um das Gleichgewicht zu stören.
Es klang weder hohl noch melodiös, wie er erwartet hätte, sondern dumpf, als schluckte der mächtige Rumpf alle Geräusche. Es fühlte sich irgendwie schrecklich an, fast wie Absicht.
»Und guck«, sagte Emma. »Auf dieser Seite ist auch keine Markierung.«
Emma hatte recht.
Sie gingen einmal um das Schiff.
Achtern entdeckten sie ein riesiges Wappen in verblichenem Rot. Das Bild auf den Planken war kaum zu erkennen, aber die großen geschnitzten Buchstaben besagten eindeutig: ORAKEL.
Sie gingen weiter um die Masten herum, als Luca sich mit einem Schlag unwohl fühlte. Wieder bemerkte er, dass weder die üblichen Geräusche der landwirtschaftlichen Maschinen noch der Verkehrslärm von der N206 zu hören waren. Nicht mal das Dröhnen eines Lkw oder das Fauchen eines beschleunigenden Autos. Nur das unregelmäßige Flattern der Segel auf dem Feld. Und da war noch etwas. In den Dünen hatte der Nebel angenehm nach einem frischen Wintermorgen gerochen. Hier war die Luft anders. Luca assoziierte diesen drückenden, salzigen Geruch mit Mülltonnen auf dem Fischmarkt oder dem Geruch am Strand an stürmischen Herbstsonntagen, wenn einem Wind und Gischt ins Gesicht schlugen und wie tote Dinge aus der Brandung rochen.
Das Schiff hatte diesen Geruch mit sich gebracht.
»Wir müssen es melden«, sagte Emma. »Wen ruft man wegen so was an? Die Polizei?«
»Das Fundbüro«, sagte Luca und brachte Emma damit zum Lachen. Sie schien von ihrer Entdeckung kein bisschen verstört zu sein. Das Ganze entfachte bloß ihre Begeisterung, was Luca beneidete. Denn ja, er hatte Angst bekommen - ein bisschen. Und so etwas sollte das Mädchen, das man mochte, natürlich nicht bemerken.
Auf die Gefahr hin, dass sie ihn als Nerd abstempelte, legte er noch eine Schippe drauf. »Vielleicht ist Allemansend einer dieser Orte, an denen Mahlströme Dinge ausspucken. Wie in den alten Seemannsgeschichten, wo manchmal ganze Schiffe verschluckt werden.«
»Ja genau! Davy Jones' Reich, wo Johnny Depp verrückt wird und glaubt, dass er sein Schiff durch eine endlose Sandwüste ziehen muss. Das war so lustig. Hast du den Film gesehen?«
»Klar, aber solche Strudel gibt's wirklich. Im Bermuda-Dreieck zum Beispiel haben so was schon viele Leute gesehen. Wenn man einmal in einen reingezogen wird, kommt man nie wieder raus. Aber vielleicht ist es auch .«
. ein Geisterschiff, hatte er sagen wollen, tat es aber nicht. Sie hatten das Schiff einmal umrundet und waren wieder am Bug. Wo Luca wie angewurzelt stehen blieb.
Ins Vorderdeck war, direkt hinter dem Fockmast, eine Luke eingelassen.
Sie stand offen.
Emma stieß ein ersticktes Geräusch aus, drehte sich zu ihm um und grinste ungläubig. »War die vorhin schon da?«
»Vielleicht hätte ich nicht klopfen sollen.« Luca kicherte nervös, aber seine Stimme klang seltsam dumpf im Nebel, und schnell verstummte er wieder.
»Sie muss eben schon da gewesen sein«, sagte Emma und ging an ihm vorbei. »Ich hab nur nicht aufgepasst.«
Luca hatte das Gefühl, dass sie eher sich selbst als ihn davon überzeugen wollte. Um etwas zu erklären, was sie sich nicht erklären konnte. Weil sie keine Luke gesehen hatten. Auf jeden Fall keine geöffnete Luke. Da war er sich sicher.
»Komm, lass uns nachschauen«, sagte Emma.
Sie ging zum unteren Rand des Decks, das etwa anderthalb Meter über dem Boden endete. Eine feste hölzerne Reling rahmte das Deck ein, und wenn man sich daraufstellte, konnte man problemlos die Luke erreichen und hineinsehen. Natürlich wollte er nicht hineinsehen, weder jetzt noch irgendwann sonst, aber noch weniger wollte er, dass Emma ihn für einen Hosenscheißer hielt. Also folgte er ihr.
Emma kletterte grazil und scheinbar mühelos auf die Reling und gab acht, sich nicht mit den Füßen in den Wanten zu verheddern. Schritt für Schritt arbeitete sie sich vor, hielt sich locker mit den Fingern an der vorstehenden Holzleiste fest und spähte durch die geöffnete Luke.
»Oha. Hier drinnen ist es stockfinster.«
Selbst von unten hörte Luca, wie das Schiff ihre Stimme verschluckte. Er zog seine Fäustlinge aus und versuchte widerstrebend, sich auf die nasse, verwitterte Reling zu ziehen. Er verfluchte...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.