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Estnische SSR, Sowjetunion
Das Brummen wurde lauter; ich wusste, was dort hinter den Bäumen näher rückte. Ich warf einen Blick auf meine Hände, sie waren ruhig. Einen Augenblick später würde ich der sich nähernden Autokolonne entgegenlaufen und nicht an Edgar denken, nicht an seine Nerven. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er mit zittrigen Bewegungen an seinen Reithosen herumnestelte, sein Gesicht hatte eine für den Kampf unpassende Farbe. Erst kürzlich waren wir in Finnland ausgebildet worden, und ich hatte mich um Edgar gekümmert wie um ein Kind, damit er zurechtkam. Im Kampf war das anders. Unsere Aufgabe war hier und jetzt. Jetzt! Ich rannte los, die Granaten schlugen mir gegen die Schenkel, hastig zog ich eine aus dem Stiefelschaft, und meine Finger sahen sie schon durch die Luft fliegen. Das Hemd der finnischen Armee, das ich auf der Ausbildungsinsel angezogen hatte, fühlte sich immer noch neu an, es verstärkte die Kraft in meinen Beinen. Bald würden alle Männer meines Landes nur die Ausrüstung der Armee Estlands und niemandes sonst tragen, nicht die fremder Eroberer, nicht die von Verbündeten, nur die eigene. Das war unser Ziel, wir würden uns unser Land zurücknehmen.
Ich hörte, wie die anderen mir folgten, wie der Boden sich unter unserer Kraft bog, und lief dem Motorengebrumm noch schneller entgegen. Ich roch den Schweiß des Feindes, im Mund schmeckte ich schon Wut und Eisen, in meinen Stiefeln rannte jemand anders, derselbe fühllose Kämpfer, der neulich im Kampfgetümmel in den Graben gesprungen war und gegen die Männer des Vernichtungsbataillons Handgranaten geworfen hatte, Verschluss, Zugdraht und Wurf, Verschluss, Zugdraht und Wurf, das war jemand anders, Verschluss, Zugdraht und Wurf, und dieser Jemand stürmte jetzt dem Brummen entgegen. Unsere Maschinengewehre waren auf die Kolonne gerichtet. Das waren mehr Leute, als wir erwartet hatten, es waren unendlich viele, Russen und Angehörige des Vernichtungsbataillons mit estnischer Haltung, und sie hatten unendlich viele Wagen und Maschinengewehre. Aber wir erschraken nicht, die Feinde erschraken, uns trieb der Zorn an, und er trieb uns mit solcher Kraft, dass die Gegner für einen Moment anhielten, die Reifen des Mootor-Busses drehten einen Augenblick durch, unser Zorn nagelte sie an dem Augenblick fest, als das Feuer eröffnet wurde; mit den anderen zusammen griff ich den Bus an, und wir töteten sie alle.
Meine Arme zitterten von den Kugeln, die ich ausgesandt hatte; das Gewicht der Handgranate, die ich geworfen hatte, hing mir noch schwer am Handgelenk, aber allmählich begriff ich, dass der Kampf vorüber war. Als meine Beine sich daran gewöhnt hatten, stillzustehen, und keine Patronenhülsen mehr zu Boden regneten, bemerkte ich, dass das Ende des Kampfes keine Stille gebracht hatte. Es hatte Lärm gebracht, das Wandern der gierig aus dem Boden aufsteigenden Maden hin zu den Leichen, das geschäftige Rascheln der Handlanger des Todes hin zu dem frischen Blut, und es stank, der Kot und die erbrochene Magensäure stanken. Meine Augen waren geblendet, der Pulverrauch verzog sich, und es war, als erschiene am Rand der Wolke ein strahlender goldener Wagen, bereit, die Gefallenen aufzunehmen, die Unseren, die Männer vom Vernichtungsbataillon, Russen, Esten, alle im selben Wagen. Ich blinzelte. Mir dröhnten die Ohren. Ich sah, wie die Männer keuchten, sich die Stirn wischten, auf der Stelle schwankten wie Bäume. Ich versuchte, zum Himmel zu spähen, nach dem schimmernden Wagen, aber man erlaubte mir nicht, gegen die verbeulte Flanke des Mootor-Busses gelehnt zu verharren. Die Muntersten handelten schon so, als kauften sie auf dem Markt ein: Es galt, den Toten die Waffen abzunehmen, nur die Waffen, die Patronengürtel und -taschen. Wir staksten durch Leichenteile und zuckende Gliedmaßen. Als ich der Leiche eines Feindes gerade den Munitionsgürtel abgenommen hatte, umklammerte jemand mit festem Griff meinen Fußknöchel. Der Griff war überraschend stark und zog mich zu dem am Boden röchelnden Mund hinab. Meine Knie gaben nach, noch ehe ich hatte zielen können, und so sackte ich kraftlos neben den Sterbenden, überzeugt, dass meine letzte Stunde geschlagen hatte. Der Blick des Mannes war jedoch nicht auf mich gerichtet, seine mühsamen Worte waren an jemand anders gerichtet, an einen geliebten Menschen, ich verstand nicht, was der Mann sagte, er sprach russisch, aber so, wie ein Mann nur zu seiner Braut spricht. Das hätte ich auch gewusst, wenn ich das Foto in der schmutzigen Hand des Mannes und auf dem Foto das weiße Kleid nicht gesehen hätte. Jetzt war es rot gefärbt vom Blut des Bräutigams, ein Finger bedeckte das Gesicht der Frau, ich riss mein Bein mit einer heftigen Bewegung los, und das Leben wich aus den Augen des Mannes, in denen ich gerade noch mich selbst gesehen hatte. Ich zwang mich, aufzustehen, ich musste weiter.
Als die Waffen eingesammelt waren, ertönte in der Ferne wieder das Dröhnen von Automotoren, und Sergeant Allik gab den Befehl zum Rückzug. Ich hätte gewettet, dass das Vernichtungsbataillon auf Verstärkung warten würde, bevor es einen neuen Angriff unternahm oder einen Lagerplatz suchte. Auf jeden Fall würde es uns verfolgen. Unsere MG-Leute waren schon bis zum Waldrand gekommen, als ich sah, wie eine bekannte Gestalt immer noch auf einer Leiche herumsprang: Mart. Seine Füße hatten schon den Schädel zerschmettert, das Gehirn vermischte sich mit der Erde, aber Mart schlug immer weiter mit dem Gewehrkolben zu, als wolle er ihn durch den Körper hindurch in die Erde rammen. Ich rannte zu ihm hin und versetzte ihm eine mächtige Ohrfeige, die bewirkte, dass sein Griff sich vom Gewehr löste. Mart widersetzte sich, ohne etwas zu sehen, ohne mich zu erkennen, brüllte einen unsichtbaren Feind an und fuchtelte in der Luft herum. Es gelang mir, meinen Gürtel um ihn zu schlingen und ihn zum Verbandsplatz zu führen, wo die Männer eilig die Sachen zusammentrugen. Ich flüsterte, dass man diesen Mann im Auge behalten müsse, und tippte mir an die Stirn. Der Feldscher warf einen Blick auf den keuchenden Mart und den Schaum in dessen Mundwinkeln und nickte. Sergeant Allik trieb die Männer zur Eile an, riss jemandem den Flachmann aus der Hand und brüllte, ein Este kämpfe nicht in betrunkenem Zustand so wie der Iwan. Ich suchte nach Edgar, vermutete, dass er getürmt war, aber mein Vetter hockte auf einem Stein, die Hand vor dem Mund und das Gesicht schweißnass. Ich fasste ihn an der Schulter, und als ich ihn wieder losließ, rieb er seinen Mantel mit einem schmuddeligen Taschentuch an der Stelle, wo ich ihn mit meinen blutbefleckten Fingern angefasst hatte.
»Ich kann das nicht. Sei mir nicht böse.«
Ein plötzlicher Widerwille erfüllte mich, in mir blitzte die Erinnerung daran auf, wie meine Mutter Kaffee versteckt und ihn heimlich nur für Edgar gekocht hatte, nicht für die anderen. Ich schüttelte den Kopf. Ich musste mich konzentrieren, den Kaffee vergessen, musste Mart vergessen und wie ich mich mit dem Mann identifizierte, der sich in seinem verwirrten Blick zeigte und der dem Mann ähnelte, der in meinen Stiefeln in den Kampf gelaufen war. Ich musste den Feind vergessen, der sich an mein Bein geklammert und in dessen Blick ich mich selbst erkannt hatte, wie auch die Tatsache, dass ich mich in Sergeant Alliks Gesichtsausdruck nicht erkannt hatte. Auch nicht in dem des Feldschers. In niemandes Miene, bei dem ich instinktiv spürte, er werde überleben. Dies war mein dritter Kampf nach meiner Rückkehr aus Finnland, und ich war immer noch am Leben und hatte an meinen Händen das Blut des Feindes. Woher also diese plötzlichen Zweifel? Warum erkannte ich mich nicht in denjenigen, von denen ich wusste, dass sie den Frieden mit eigenen Augen sehen würden?
»Hast du vor, noch andere von den Unsrigen zu suchen, oder willst du mit denen hierbleiben und kämpfen?«, fragte Edgar.
Ich wandte das Gesicht den Bäumen zu. Wir hatten eine Aufgabe: die Rote Armee zu schwächen, die Estland besetzte, und die Nachricht von ihrem Vorrücken an die Verbündeten in Finnland weiterzugeben. Ich erinnerte mich sehr gut an unseren Stolz, als wir unseren neuen finnischen Waffenrock angelegt und am Abend feierlich saa vabaks Eesti meri, saa vabaks Eesti pind gesungen hatten. Nach unserer Ankunft in Estland hatte meine Einheit nur ein paar Telefonleitungen gekappt, dann verstummte unser Funkgerät und wir beschlossen, dass wir nützlicher wären, wenn wir uns anderen Kämpfern anschließen würden. Sergeant Allik hatte sich als mutiger Mann erwiesen, die Waldbrüder rückten mit enormem Tempo vor.
»Vielleicht brauchen die Flüchtlinge Schutz«, flüsterte Edgar. Er hatte recht. Die im Wald vorrückende Schar wurde von vielen guten Männern angeführt, sie würden allerdings nur langsam vorankommen, denn der einzige Weg aus dem Kessel führte durch einen Sumpf. Wir hatten gekämpft wie die Verrückten, um den Flüchtlingen einen zeitlichen Vorsprung zu verschaffen und den Feind aufzuhalten, aber würde unser Sieg dafür ausreichen? Edgar erahnte meine Wankelmütigkeit. Er fügte hinzu: »Wer weiß, wie es zu Hause aussieht. Von Rosalie haben wir nichts gehört.«
Noch ehe ich darüber nachdenken konnte, hatte ich schon genickt und ging Bescheid sagen, dass Edgar und ich uns um den Schutz der Flüchtlinge kümmern wollten. Dabei hatte Edgar das sicherlich nur gesagt, um sich vor einem weiteren Angriff zu drücken und seine Haut zu retten. Mein Vetter kannte meine Schwächen. Wir alle hatten daheim Bräute, Verlobte und Ehefrauen zurückgelassen, aber nur ich benutzte meine Liebste als Vorwand, um aus dem Kampf auszuscheiden. Dennoch versicherte ich mir,...
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