Schweitzer Fachinformationen
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2016
Mein Herz tat einen Sprung, als ich sah, dass der Familienvater der Mutter und dem Hund in den Park folgte. Auch die beiden Kinder waren dabei. Der Junge, der hinter den anderen etwas zurückgeblieben war, wirkte munter, wie er da mit seiner sich rasch leerenden Rosinentüte knisterte; ich bemerkte kaum, dass ich zu der Wahl des gesunden Snacks beifällig nickte. In der vergangenen Woche waren die Kinder nicht dabei gewesen, und ich vermutete den Grund dafür in einer grassierenden Magen-Darm-Epidemie. Jetzt wirkten sie alle gesund. Der Frau sah man es nicht an, dass sie am Krankenbett der Kinder gewacht hatte, und sie hatte sogar Zeit gehabt, einkaufen zu gehen: Ihr neuer sandfarbener Frühjahrstrenchcoat hätte auch mir gestanden, und das Mädchen trug einen Schal, den ich noch nicht gesehen hatte. Als sein Handy klingelte, nahm der Mann das Gespräch an, während er zugleich seiner Frau bedauernd zulächelte. Die Frau strich ihm kurz über den Arm und drückte für einen Augenblick die Stirn gegen seine Schulter. Sogar das Herumtoben des von der Leine befreiten Schnauzers war stilecht. Seine seltene weiße Farbe erregte Aufmerksamkeit, und bei Hundeausstellungen siegte immer das Tier dieser Familie. Einen Augenblick lang bewunderte ich sein Vorwärtsstürmen und die wachsame Haltung, in der er verhielt, wenn er in einiger Entfernung etwas Interessantes entdeckte. Der Junge war neben der Pforte stehen geblieben. Nachdem er die Tüte leer geschüttelt hatte, warf er sie nicht auf den Boden, sondert brachte sie zu dem Papierkorb. Gut erzogen, gute Manieren, wie ich sie ihm auch beigebracht hätte.
Das Klicken eines Feuerzeugs unterbrach meine Beobachtungen. Die Frau neben mir hatte sich eine Zigarette angezündet. Verärgert sah ich sie an und erkannte das vertraute Blumenmuster auf der Schachtel der Slim-Zigaretten, ehe ich mich wieder auf die hinter dem Felsenhügel verschwindende Familie konzentrierte. Meine Banknachbarin war keine Finnin, die Glamour-Zigaretten entsprachen nicht dem hiesigen Geschmack.
»In Amerika wurden wir Engel genannt. Haben Sie es dort gelernt?«
Ich war mir nicht sicher, ob ich die Worte tatsächlich gehört hatte oder ob mir meine Fantasie einen Streich spielte. Mein Blick war immer noch auf die Familie gerichtet, mein Hals weiterhin gereckt. Ich wagte es nicht, den Kopf zu drehen und mich zu vergewissern. Die Frau redete weiter, und je länger sie sprach, desto sicherer war ich mir, dass es sich nicht um eine Sinnestäuschung handelte. Ich kannte sie, und sie kannte mich, und beide saßen wir auf derselben Bank in einem Park in Helsinki, so als wäre es nicht Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten. Wort für Wort schlug sie einen Stein nach dem anderen aus den Fundamenten meines sorgfältig aufgebauten Lebens. Ich hätte mir nicht träumen lassen, dass das geschehen würde. Dass es mit wohllautenden, beschreibenden Worten beginnen würde, die sie in die Luft warf wie Lomonossow-Teetassen, während sie gleichzeitig beobachtete, ob ich mich an das erinnerte, wovon sie sprach. Ob ich noch wüsste, dass auch ich vor Jahren solche Worte benutzt hatte, um Mädchen dazu zu bewegen, für uns zu arbeiten, und dass ich sie auch bei ihr benutzt hatte, und natürlich erinnerte ich mich, erinnerte mich an jeden in zuckersüße Adjektive verpackten Fallstrick, und jeder einzelne davon ließ meine Schultern jetzt noch schlaffer herabsinken, als hülfe er mir dabei, von der Bank zu verschwinden, und Silbe für Silbe spürte ich, wie ich zusammenschrumpfte und immer kleiner wurde.
»Aber Sie haben es immer verstanden, Mädchen zu finden, die zu wenig Anerkennung erfahren haben. Genau solche hast du gesucht.«
»Zu denen gehörtest du nicht.«
»Aber viele andere.«
Sie schnalzte mit der Zunge und streckte die Arme aus wie eine Ballerina. »Wie ging das doch noch?«, überlegte sie. »Schwanensee. Meine Arme erinnerten an Schwanensee, war das nicht so?«
»Das tun sie immer noch.«
Sie lachte auf, ihr Anorak raschelte, und ich sah die vertraute Flügelbewegung. Ich war entzückt gewesen von ihrer kontrollierten Art, sich zu bewegen. Ihre Füße ließen sich bei jedem Schritt auf dem Boden nieder, als schaute eine ganze Arena voller Menschen ihr dabei zu.
Sie war ein junges Mädchen, damals, als die Fotos für ihre Mappe gemacht wurden, und sie glitt in dem Kleid, das ich für sie ausgesucht hatte, in einen Spagat. Obwohl sie sich erst für die eigentlichen Aufnahmen aufwärmte, lag in der Kombination etwas unvergesslich Intimes: das geblümte Kleid mit dem Glockenrock, der Trainingssaal, die biegsamen Gelenke. Als hätte sie den Fotografen vergessen. Die Maskenbildnerin hatte über eine Stunde im Gesicht des Mädchens die Pinsel kreisen lassen, aber das hätte man nicht vermutet. Als ich die fertige Mappe sah, wusste ich, dass Daria mein Star sein und aus mir einen Star machen würde.
Daria stand auf und ging in Richtung der Eingangspforte des Hundeauslaufs. Erst da erholte ich mich so weit von meiner Erschütterung, dass ich begriff, was das bedeutete. Meter für Meter näherte sie sich der Familie, und Meter für Meter kamen mir Bilder in den Sinn, davon, was geschehen würde, falls der Vater der Familie sie erkannte. Erst würde er erschüttert innehalten und dann zum Telefon greifen. Die Mutter würde anfangen zu schreien, der Hund würde durchdrehen, das Mädchen in Tränen ausbrechen und der Junge uns, die wir für dieses Chaos verantwortlich waren, anstarren. Und während die Mutter ihre Kinder von hier fort in Sicherheit zerren würde und die Polizeisirenen näher kamen, würde der Junge sich umdrehen, und der Anblick der beiden armseligen Gestalten, die seine Eltern völlig aus der Fassung gebracht hatten, würde sich für immer und ewig in sein Gedächtnis einbrennen.
Die Familie hatte sich während unseres Gesprächs auf dem Gelände zerstreut, und Daria blieb für einen Augenblick stehen, als überlegte sie, wem sie sich zuerst nähern sollte. Der Vater hatte das Mädchen bei der Hand gefasst, sie folgten dem Hund, der aus meinem Blickfeld verschwunden war, und die Aufmerksamkeit der Mutter war von einem Golden-Retriever-Welpen in Anspruch genommen, mit dessen Besitzer sie sich unterhielt. Der Junge trödelte auf der Straße herum. Daria neigte den Kopf, fasste einen Beschluss und öffnete die Pforte des Auslaufs. Zwischen ihr und der Mutter lagen nur noch zehn Meter steiniger Fels. Gleich würde ich auffliegen; ich würde alles verlieren, was ich mir in den vergangenen sechs Jahren aufgebaut hatte; mein ganzes neues Leben in Helsinki würde ich verlieren. Meine Lebenszeit würde sich nur noch in Tagen, vielleicht sogar in Stunden bemessen.
Ich wandte den Blick nach oben. Meine Mutter vertraute auf Gott und die Heiligen, ich nicht. Dennoch bedeckte ich mir den Kopf mit meinem Schal, als wäre ich in der Kirche, und murmelte etwas, das ein Gebet sein konnte, und erst die Bewegung, mit der ich mir den Kopf bedeckte, erinnerte mich daran, dass ich immer noch zwei funktionierende Beine hatte. Ich musste Daria Einhalt gebieten.
Der Schnauzer kam hinter dem Hügel hervorgeschossen, einen Terrier auf den Fersen, und das wilde Spiel der Hunde lenkte die Aufmerksamkeit der Familie ab. Sie sahen nicht meine wankenden Schritte, wie ich fast über meinen Schal gestolpert wäre, und wie man mir auswich, als wäre ich betrunken. Daria war nur noch wenige Meter von der Frau entfernt und wollte sie schon ansprechen.
»Willst du Geld? Geht es darum?«
Ich hatte es doch geschafft, gerade noch rechtzeitig. Darias Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. Der Rücken der Mutter entfernte sich. Die Hunde hatten sich wieder beruhigt. Die Laufleinen wurden klickend an den Halsbändern befestigt.
»Wie viel würdest du mir geben?«
Einen Augenblick lang glaubte ich, Daria würde auflachen und etwas über meine Kleider und mein Äußeres sagen, das nicht gerade von Wohlstand zeugte, aber sie erstarrte auf der Stelle und versuchte nicht, sich meinem Griff zu entwinden. Ich folgte ihrem Blick. Die Familie schickte sich an, den Park zu verlassen, die Mutter zupfte dem Mädchen den Mantel zurecht, das Mädchen fiel der Mutter um den Hals, und Daria zuckte zusammen, als hätte man sie geschlagen. Ich spürte eine Vibration in ihrem knochigen Arm. Was, wenn sie gar nicht im Park war, um mich oder die Familie zu erpressen? Alles an ihr sprach jedoch für meine Vermutung, dass sie Geld brauchte. Sie war abgemagert. Die Kleider hingen ihr schlaff am Leib. Es waren Lumpen, das Kunstleder ihrer Stiefel schilferte ab, ihre Schultertasche stand offen, und die Risse in deren Futter waren mit Tesafilm repariert. Daria hatte gut verdient. Wofür hatte sie ihr Geld verschwendet? Hatte jemand es ihr abgenommen, war sie an den falschen Mann geraten, oder hatte sie damit ihre Familie unterstützt? Hatte sie alles dafür verwendet, sie aus der Ostukraine und dem Krieg dort herauszuholen? Hatte das Geld nicht dafür gereicht, ein neues Leben aufzubauen? Oder hatte sie es schon vorher verschwendet und musste sich jetzt Devisen beschaffen, um ihre in der Heimat gebliebenen Verwandten zu unterstützen? Meine Mutter hatte erzählt, dass die jetzige Volksrepublik Donezk manchen Menschen ihr Zuhause genommen und anderen die Chance geboten hatte, zu Reichtum zu gelangen, denn es gab genug Vermögen, das die Flüchtlinge zurückgelassen hatten. Manche schlossen sich freiwillig den Truppen der Separatisten an, andere wurden gewaltsam eingezogen, während Deserteure erschossen wurden. Wieder andere schlossen sich den Separatisten...
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