Schweitzer Fachinformationen
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ERSTER TEIL
Scotties Lebensgeschichte - die natürlich auch die meine ist - beginnt mit meiner Schwester Robin. Seltsam, wie wenig wir heute noch darüber reden. Von uns dreien bin ich die Einzige, die sich mit unserer Geschichte beschäftigt, wahrscheinlich, weil ich diejenige bin, die ihr eine Gestalt gegeben hat. Wenn ich auf jenen Tag in den Laurentinischen Bergen zurückkomme, sagt Robin, sie könne sich an fast nichts mehr erinnern. Das kann ich mir kaum vorstellen. Bei mir ist es genau das Gegenteil; jener Tag ist bis ins letzte Detail unverrückbar in meiner Erinnerung verankert, und ich kann selbst die winzigste Einzelheit davon abspulen wie einen Film.
Und das geht so: ein sonniger Tag im Juni, die blättrig grüne Hitze des Sommers in Kontrast zu meiner Schockstarre. Die Luft stickig und schwül, wie eine Wand vor Robins stoßweisem Atem.
Und die Wölfin, der meine Schwester den Namen Katharina gegeben hatte, stand vor uns und musterte uns beide mit ihren gelben Augen.
Robin war damals in der achtunddreißigsten Woche schwanger, und sie hatte mir gerade verärgert mitgeteilt, dass eine Schwangerschaft zehn Monate dauere und nicht etwa neun. Darüber war sie wütend, als hätte jemand sie absichtlich in Unkenntnis gelassen. Überhaupt war sie oft wütend, weil ihr heiß war, sie sich unförmig fühlte und nicht schlafen konnte. Wir gingen einen Wanderweg hinter ihrem Haus entlang, der zu einem Kiefernwäldchen führte, weil wir hofften, dort unter dem Baldachin der Nadelbäume würde es kühler sein. Robin wollte immer nur gehen, obwohl sie sich auch darüber beklagte: Die Hüften taten ihr weh, ihre Knie schmerzten, und ihre Rippen auch. Jammern war eigentlich nicht ihre Art, denn meine Schwester war ein Mensch, der alles stoisch und mit fast wilder Dickköpfigkeit ertrug, und genau das beunruhigte mich. Alle paar Meter blieben wir stehen, damit sie verschnaufen konnte, und ich sah, wie sie sich über den Bauch strich; eine zärtliche Geste, wie sie sie ansonsten weder dem Baby noch sich selbst zukommen ließ.
Sie runzelte die Stirn: «Was machst du?»
«Nichts.»
«Du berührst dich selbst», sagte sie.
Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich sie imitierte, als wollte ich ihr den Spiegel vorhalten. Meine Hand lag flach auf meinem Bauch, doch eigentlich gab es nichts zu streicheln. Ich wurde rot vor Verlegenheit, und meine Schwester lachte rau.
«Ist ja gut», sagte sie. «Hab schon verstanden.»
Doch wie konnte sie es verstehen? Sie konnte sich ebenso wenig in meinen Körper hineinversetzen wie ich mich in ihren. So standen wir da, Körper an Körper, Schwester an Schwester, doch zwischen uns lagen Welten.
Um sie auf andere Gedanken zu bringen, erzählte ich ihr von einer Sammlung alter Filme, die in einer unterirdischen Müllhalde unter einer Eisbahn in Dawson City, Yukon, gefunden worden war. Sie stammte aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, die Filme hatten einem Kino gehört. Damals, so erzählte ich, hatten Filme oft eine lange Reise hinter sich; von Kalifornien kamen sie zuerst in größere Städte wie Calgary und Vancouver, dann nach Whitehorse, bis sie schließlich in der Goldgräberstadt Dawson City landeten, von wo aus es keinen Sinn mehr hatte, sie wieder an ihren Ursprungsort zurückzuschicken. Und so sammelten sie sich dort an, ein aus dem Zufall geborenes Filmarchiv. Die Streifen bestanden aus Zellulosenitrat, einem Material, das bekannt dafür ist, dass es sich auflöst, schmilzt, ja sogar in Brand geraten kann. Wäre es nicht unter jener Eisbahn begraben gewesen - zusammen mit Kaninchendraht, Holzstücken und anderem Unrat -, hätte es die ganze Stadt in Schutt und Asche legen können.
«Filme sind damals explodiert?», fragte Robin.
Ich nickte. Ich erzählte ihr, wie das Kino damals schließen musste und die Filme entsorgte, bis sie schließlich Jahrzehnte später von einem Baggerführer entdeckt wurden, der das Gelände umpflügte, als dort ein neues Freizeitcenter errichtet werden sollte. Die Geschichte faszinierte mich wegen dieser unfassbaren Mischung aus entzündbarem Film und ewigem Eis, aus Erhaltung durch Vernachlässigung, und wie eine Stadt ihre Geschichte ausgerechnet dadurch bewahrt hatte, dass sie sie vergaß. Die meisten Stummfilme aus jener Zeit waren verloren gegangen, weil sie verbrannten oder verrotteten, doch ausgerechnet diese weggeworfenen Filme hatten überlebt. Meine Schwester bekam schon seit Jahren solche Geschichten von mir zu hören - ich war Sammlerin obskuren Wissens, besonders, wenn es ums Kino ging -, und ich schätze, sie war daran gewöhnt. Jetzt lauschte sie mir so still, dass es eine Weile dauerte, bis ich merkte, dass etwas nicht stimmte.
Ihr Blick war auf einen Punkt hinter meinem Kopf gerichtet. «Schau mal», sagte sie.
Wir sahen die Wölfin, die aus dem Wald trottete wie ein Hund, der sich verirrt hat und nach seinem Zuhause sucht. An ihrem seltsamen Gang - sie hinkte auf einem Bein - erkannten wir, dass es sich um Katharina handelte. Ihr graubraunes Fell sah verfilzt und platt gedrückt aus, ihr Körper schmalhüftig und sehnig. Später kam uns der Gedanke, dass sie ja vielleicht auf der Suche nach ihrem Rudel war, was mir im Grunde egal ist, denn ihre Beweggründe gehen mich nichts an. Woran ich mich erinnere, ist nur ihr wenig anmutiges Humpeln, und wie schnell sie dennoch unterwegs war. Und dass ich, als sie so nah auf uns zulief, dass wir ihre Augen sehen konnten, nicht hätte sagen können, ob sie uns erkannte, ob die Bindung, die Robin zu ihr aufgebaut hatte, stabil oder bedeutsam genug war, oder ob sie im Denken dieses Tieres überhaupt eine Rolle spielte.
Was als Nächstes geschah, war meine Schuld.
Die Wölfin lief auf Robin zu, als wollte sie sie anspringen, und ich zog meine Schwester rasch zur Seite, weil ich sowohl um sie als auch um das Baby Angst hatte. Robin jedoch machte sich aus meinem Griff frei - ich schätze, weil sie Katharina begrüßen oder sie wenigstens aus der Nähe sehen wollte. Auf einmal war mir schwindelig, Himmel und Erde tauschten ihre Plätze, alles drehte sich um mich, Festes wurde flüssig. Ich klammerte mich an alles, was ich greifen konnte, während ein Schleier mir die Sicht vernebelte. In meinen Ohren rauschte es, die Wellen eines unsichtbaren Ozeans, die an einen Strand donnern. Ich glaube, ich packte Robin an der Schulter, doch es hätte auch ihr Bein sein können - so sehr hatte ich die Orientierung verloren. Bei all diesem Ziehen und Zerren zwischen uns geriet Robin aus dem Gleichgewicht und fiel zu Boden. Die Wölfin lief einfach weiter, an uns vorbei, als gäbe es uns gar nicht.
Langsam lichteten sich die Nebel vor meinen Augen, und der Boden unter mir fügte sich wieder zusammen. Wenn ein Schwindel vergeht, ist das wie ein Erdbeben in umgekehrter Reihenfolge: Teile fügen sich wieder zusammen, die Welt hört auf zu beben und kommt wieder zur Ruhe.
Neben mir stöhnte Robin, ein furchtbares Wimmern.
«Alles in Ordnung mit dir?»
Sie gab mir keine Antwort. Ihr Gesicht war aschgrau, eine Farbe, die ich noch nie an ihr gesehen hatte, und wieder drückte sie mit der Hand gegen ihren Bauch, doch diesmal war es kein Streicheln mehr.
Ich bettete den Kopf meiner Schwester auf meinen Schoß, doch sie schien mich kaum zu bemerken, noch weniger schien meine Geste sie zu beruhigen. Ihr Körper fühlte sich heiß an, ihr Haar klebte verschwitzt an meiner Hand.
Dann hörten wir den Rest des Rudels, ein silbriges, auf- und abschwellendes Heulen, auf und ab, das Katharina gelten mochte oder auch nicht. Ich fand es unheimlich, doch Robins Gesicht entspannte sich, und sie öffnete die Augen. Was mich verängstigte, schien sie zu trösten; das war immer schon der Unterschied zwischen uns gewesen.
«Wo ist Katharina?», fragte sie.
Ich sagte, ich wisse es nicht; die Wölfin sei verschwunden. Meine Schwester rappelte sich hoch, und ich sah, dass sie Schmerzen hatte, konnte sie aber nicht davon abhalten, aufzustehen. Ich hatte Robin noch nie von etwas abhalten können. Sie richtete sich auf, obwohl die Beine für einen Moment unter ihr nachgaben und sie sich auf mich stützen musste, während ich vergeblich versuchte, sie dazu zu bringen, ins Haus zurückzukehren.
Nur meine Schwester war dazu in der Lage, das Einsetzen ihrer Wehen zu ignorieren, ...
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