Schweitzer Fachinformationen
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REN
Östlich des Haebaek-Gebirges
Schneller und schneller schlug die Trommel, während Ren in die Mitte des Kreises purzelte, ein Rad schlug, schwungvoll auf den Händen landete und mit den Füßen in die Luft gereckt weiterlief. Als ihre Maske von ihrem Kinn zu rutschen drohte, schob sie diese rasch zurecht, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass sie kein Mädchen, sondern ein Dämon mit rosa Gesicht war.
Auf der anderen Seite des Kreises brach das Publikum in schallendes Gelächter aus. Denn Wook Samchon, der lediglich eine kurze Jacke über dem freien Oberkörper trug, ließ aufreizend die Hüfte wackeln. Wie Ren hatte auch er eine Maske auf, allerdings war seine an den Wangen mit blauen Punkten bemalt. Betont lässig breitete er einen Papierfächer aus und wedelte sich damit kokett Luft zu. Ein paar ältere Frauen reagierten darauf mit anzüglichen Kommentaren, während manche der jungen Männer errötend um die besten Plätze rangelten.
Von einer Hand auf die andere hopsend - was Ren mit den Beinen ausbalancierte - bewegte sie sich auf Samchon zu.
Das Publikum war zwar kleiner als im vergangenen Jahr, machte dies jedoch durch seine Begeisterung wett. Einige der Menschen aus dem Dorf hatten Fässer an den Rand der kreisrunden Spielfläche gerollt und schlugen mit der flachen Hand darauf; im Rhythmus der Trommeln von Rens Imobu, ihrem Onkel.
Der Auftritt der Truppe dauerte nun schon eine halbe Stunde. Ren hätte auch noch weitergemacht, doch die Karawane musste am Mittag aufbrechen, wenn sie es bis Ende der Woche nach Gorye schaffen wollten. Ihr Imobu erhöhte sein Tempo und schlug in rascher Folge auf beide Seiten seiner Sanduhrtrommel - das Signal, die Vorführung schleunigst zu Ende zu bringen.
Ren sprang auf ihre Füße und ließ den Blick über die Menge gleiten. Dabei fiel ihr ein junges Mädchen auf, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, das im Schneidersitz vor einer Gruppe älterer Jungen saß. Obwohl die Kerle sie von hinten immer wieder anstießen, hatte die Kleine nur Augen für Ren.
Der Anblick rührte sie; das Mädchen erinnerte sie an sich selbst. Als Ren etwa im selben Alter gewesen war, hatte sie während der Auftritte ihrer Tante, ihrer Imo, nicht einmal gewagt zu blinzeln, um ja keine einzige Hand- oder Kopfbewegung zu verpassen. Allein mit ihrem Körper konnte ihre Imo ganze Welten und Figuren zum Leben erwecken. Dann war sie ein Reh, das flink durch einen vom Mond beschienenen Wald rannte. Oder ein Schiffbrüchiger auf hoher See, ein Spielball der Wellen. Sie brachte Ren zum Lachen, wenn sie einen schlauen, aber in die Enge getriebenen Fuchs spielte, der mit eingezogenem Schwanz das Weite suchte, und zum Weinen, wenn sie als Witwe auf einem Berg um einen Geliebten trauerte, der niemals wiederkehren würde.
Durch die Geschichten, die Imo erzählte, lebte sie tausend Leben, kämpfte gegen Dämonen und überlistete Gottheiten.
Dieses Mädchen nun blickte Ren an, als wäre sie zu ebensolchen Wundern fähig.
Das pantomimische Spiel von Samchon und ihr sollte eigentlich die Geschichte eines Dämons erzählen, der einen Adeligen übers Ohr hauen will, letzten Endes aber selbst ausgetrickst wird. Allerdings hatten sie schon vor einer Weile den Faden verloren. Um ihren Auftritt abzuschließen, mussten sie ihn wieder aufnehmen - doch erst nach einem letzten Kunststück.
Ren rannte quer durch den Kreis und sprang auf ein Fass. Dort drehte sie sich zu ihrem Onkel um, der nur auf ihr Zeichen gewartet hatte. Zweimal donnerte Imobu mit seinem Klöppel auf die linke Seite seiner Trommel, um ein dumpfes Stakkato zu erzeugen, bevor er mit der flachen Hand auf die rechte Seite hieb.
Ein Sprung und eine hohe Drehung hätten wohl genügt, um die Menge zu beeindrucken, aber .
Ren schloss die Augen und fühlte nach dem Licht in ihrem Innern. Es war immer da, wie eine ewige Flamme, die im Rhythmus ihres Herzens auf und ab loderte. Sie rief danach, jedoch nur nach einem einzelnen Funken, der sich von ihrer Körpermitte aus bis in ihre Arme ausbreitete und schließlich aus ihren Fingerspitzen strömte.
Es war ein windstiller Tag, doch das Licht brachte die Luft in Bewegung. Unter Ren bildete sich ein kräftiger Wirbel, der am Fass hinaufwehte und ihre Hose aufplusterte. Mit einem Rückwärtssprung ließ sie sich davon in den Himmel heben. Kurz wallte Panik in ihr auf - sie war hoch, zu hoch -, doch dann drehte sie sich in der Luft und schlug einen Salto, bevor sie sicher auf der festen Erde landete.
Kurz herrschte Stille, dann brach die Menge in tobenden Applaus aus.
Samchon rannte zu ihr. »Du hast Nerven!«, sagte er, aber das Grinsen in seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Meinst du, Imo hat es gesehen?«, fragte Ren. Nun, da das Adrenalin wieder nachließ, beschlichen sie Zweifel, das Richtige getan zu haben. Ihre Tante hatte sie davor gewarnt, ihre Magie einzusetzen, vor allem vor Fremden. Zu ihrer Verteidigung könnte Ren zwar behaupten, dass sie den Leuten bloß eine gute Show hatte bieten wollen - ein begeistertes Publikum war schließlich ein großzügiges Publikum. Aber wenn sie ehrlich mit sich war, war das nur ein Teil der Wahrheit.
»Hoffentlich nicht«, meinte Samchon gut gelaunt. »Auf geht's!«
Er packte das Band an ihrer Taille. Wie einstudiert zog er mit einem kräftigen Ruck daran, während Ren sich wie ein Kreisel in die Gegenrichtung drehte. Zwischen ihnen spannte sich das Band, das ihr Imobu mit Färberdisteln rot eingefärbt hatte. Ren ließ sich zu Boden fallen und blieb mit ausgebreiteten Gliedern reglos liegen.
Als hätte man einen Damm geöffnet, spülten die Dorfbewohner nun zu ihr und drückten ihr Essen und Münzen in die Hände. Ren sprang auf, um alles entgegenzunehmen, und lachte mit den Kindern, die an ihrer Hose zogen, aber enttäuscht feststellen mussten, dass aus dem Saum kein Wind hervorbarst. Erst einige Minuten später konnte Ren sich von ihnen lösen, um auf die Suche nach Wook Samchon zu gehen.
Sie fand ihn am Rand des Dorfes, wo er auf einem erhöhten Holzsteg saß und ihre Einnahmen zählte. Über ihm bog sich eine Kiefer, als würde sie ihm über die Schulter linsen.
Die Maske hatte er abgenommen, sodass man nun sein hübsches, erhitztes Gesicht sehen konnte. Obwohl Wook Imos Bruder war und Ren ihn daher meist schlicht Samchon nannte - was wie Imobu Onkel hieß, jedoch deutlich machte, dass er mit Imo nicht verheiratet war -, war er gerade erst achtzehn. Ein gutes Jahr älter als Ren. Sie war fast siebzehn. Wie frisch gesprossene Pflänzchen standen seine Haare wild in alle Richtungen ab und Ren unterdrückte den Impuls, sie glatt zu streichen, wie ihre Imo es getan hätte.
Stattdessen setzte sie sich neben ihn, schlüpfte aus ihren Sandalen und zog die Beine auf den Steg. Dann legte sie alles, was sie ergattert hatte, zu Samchons Gewinn: ein Körbchen Sojabohnen, ein kleiner Topf Sojasoße und ein Stück fermentierte Bohnenpaste. Dieses Dorf war bekannt für seine Sojabohnenprodukte. Nachdem sie die Münzen aus ihren Taschen geholt hatte, warf sie auch diese auf die hölzerne Plattform, wo sie klimpernd kreiselten, bevor sie umkippten.
Schulter an Schulter beugten sich Ren und Samchon über das Sammelsurium an Lebensmitteln und Geld. Es war eine mickrige Ausbeute, weniger als ein Viertel dessen, was sie in früheren Jahren hier verdient hatten. Nicht dass es in den anderen Dörfern bisher besser gelaufen wäre, dennoch war der Anblick erschreckend. So begeistert, wie die Menge gewesen war, hatte Ren sich deutlich mehr erhofft.
»Tja«, sagte Samchon nach einer langen Pause, »ich mag Sojabohnen ja echt gerne.«
»Die letzte Ernte ist zu einem Großteil verfault«, ertönte hinter ihnen eine ernste Stimme, die Ren und Samchon aufschrecken ließ.
Lautlos war ihre Imo den kurzen Weg vom Dorf gekommen - eine beeindruckende Leistung, wenn man bedachte, dass sie sich vor zwei Tagen den Knöchel verstaucht hatte und sich mithilfe eines Gehstocks bewegte. Ein paar Strähnen ihres dunkelbraunen Haars flatterten um ihr ernstes Gesicht, während sie den Blick an ihnen vorbei zu den leeren Feldern gleiten ließ. »Die Erde leidet unter irgendeiner Krankheit.«
Imos Worte ließen Ren schaudern. Die Menschen der Karawane hatten die Veränderungen überall auf ihrer Reise bemerkt; auf dem Weg nach Osten zu den kleinen Dörfern, die verstreut in den Flusstälern lagen, und anschließend auf der Strecke gen Norden zu den größeren Küstenstädten. Je weiter sie ins Innere des Landes vorgedrungen waren, in Richtung der westlichen Berge, desto schlimmer war es geworden. Ihre Jägerinnen berichteten von allzu stillen Wäldern, wo ein ins Dickicht geschossener Pfeil keinen einzigen Vogel aufschreckte, von Seen, die so reglos dalagen, als wären sie aus Glas, und von vertrockneten Lichtungen, auf denen früher einmal prächtige Wildblumen geblüht hatten.
Die Menschen, die in den Dörfern nahe der Berge wohnten, waren abergläubisch - eine schwierige Ernte schob man auf verstimmte Geister, ein krankes Kind war das Werk von Dämonen. Gorye, das letzte Ziel der Karawane, lag direkt am Fuß des höchsten Bergs und war von allen Dörfern am abgelegensten.
Ginge es nach Ren, würden sie auf den Besuch dort ganz verzichten. Die Menschen aus Gorye waren alle griesgrämig und schlecht gelaunt. Doch Imo und die Vorstehenden der Karawane bestanden darauf, dass sie jedes Jahr dort vorbeischauten. Gorye war auf den Handel mit ihnen angewiesen, außerdem gab es dort seltene Pflanzen, die nur hoch oben in den Bergen wuchsen und aus denen die...
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