Schweitzer Fachinformationen
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Der Herbst ist vermutlich die Jahreszeit, in der man Lust verspürt, jemandem zu schreiben.
Neuerdings bekam ich eine Menge Aufträge.
In den meisten Fällen waren es Anliegen, die man nicht so leicht persönlich übermitteln konnte: Abschiedsbriefe, tröstliche Worte nach einem Erdbeben oder einem Taifun, Aufmunterungen nach einem erfolglosen Vorstellungsgespräch oder Entschuldigungen nach Entgleisungen bei einem Trinkgelage.
Da kam eine Anfrage für einen ganz normalen Brief.
»Würden Sie auch einen einfachen Brief für mich schreiben?«, erkundigte sich Sonoda-san zaghaft. »Ich möchte nur ein Lebenszeichen senden«, hauchte er noch leiser.
Seine zarte Stimme strich wie eine sanfte Brise über eine wohlgeformte Hügelkuppe.
»Wem möchten Sie denn schreiben?«, wisperte ich ebenso leise, um mich ihm anzupassen.
»Einer Freundin aus der Kindheit. Wir hatten uns später die Ehe versprochen, aber daraus wurde nichts. Inzwischen habe ich Frau und Kinder und von einem Bekannten erfahren, dass auch sie vor Kurzem einen Lebenspartner gefunden hat, mit dem sie jetzt im Norden lebt. Daran möchte ich auch nicht rütteln. Wir haben uns seit zwanzig Jahren aus den Augen verloren. Ich möchte ihr einfach nur mitteilen, dass es mir gut geht.«
Das könnte er ihr doch auch selbst schreiben, dachte ich, verkniff mir jedoch die Bemerkung. Er hatte wahrscheinlich seine Gründe.
»Es ist mir ein wenig peinlich, es auszusprechen, aber ich habe sie wirklich geliebt. Für mich gab es keine andere, mit der ich mein Leben teilen wollte. Aber dann .«
Er stockte und senkte den Kopf.
Von draußen hörte ich das Zwitschern eines Vogels. Ich sah ihn mit wippendem Schwanz über den Boden hüpfen - bestimmt eine Bachstelze.
Seit ein paar Tagen zeigte der Himmel seine herbstliche Stimmung. Es wurde spürbar kühler, und ich musste sicher bald den Laden heizen, um bei der Arbeit nicht zu frieren.
Sonoda-san saß schweigend da, aber ich blieb geduldig und wartete ab, bis er seine Fassung wiedererlangte. Derweil ging ich nach hinten, um Tee zu machen. Bei meinen morgendlichen Einkäufen hatte ich bei der Konditorei nagashimaya-daifuku-mochi besorgt, die ich nun auf einem kashi-Papier servierte.
Als ich den Tee in die beiden altmodischen Sammeltassen goss, entfaltete sich ein herrlicher, sonniger Duft im Laden.
»Bitte, bedienen Sie sich«, sagte ich und bot ihm Tee und Maronen-Reiskuchen an, in der Hoffnung, dass ihn etwas Süßes aufmunterte.
Nachdem ich selbst einen Schluck getrunken hatte, biss ich in mein mochi. Die Ummantelung aus Klebereis war noch ganz weich und fluffig.
Ein gewöhnlicher Brief also .
Tatsächlich befasste ich mich ausschließlich mit speziellen Briefen, sodass ich erst mal misstrauisch reagierte, wenn die Leute von >normalen Briefen< sprachen.
»Was soll denn in dem Brief stehen? Gibt es etwas Bestimmtes, das Sie erwähnen möchten?«, fragte ich, während ich mir den Puderzucker von den Lippen wischte.
»Vielleicht halten Sie mich für einen Banausen, wenn ich sage, es ist mir egal, was Sie schreiben. Aber es darf wirklich ganz banal klingen. Sie liebt einfach Briefe. Noch in der Schulzeit hatten wir vorübergehend eine Fernbeziehung, und sie schrieb mir fast jeden Tag. Ich hingegen war immer schreibfaul. Deshalb war sie umso glücklicher, wenn ich ihr dann doch mal einen Brief schickte. Ihre Freude drückte sich in ihren ausführlichen Antwortschreiben aus, in die sie manchmal auch gepresste Blumen legte. Aber wenn ich ihr jetzt persönlich schreiben würde, hätte ich meiner Frau gegenüber irgendwie ein schlechtes Gewissen .«
»Verstehe«, sagte ich und nickte.
»Und noch etwas«, fügte er hinzu, »könnten Sie den Brief in einer weiblichen Handschrift schreiben?«
»Eine weibliche Handschrift?«, fragte ich verdutzt zurück.
Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte. Normalerweise schreibe ich für männliche Kunden in einer maskulinen Schrift.
Sonoda-san erläuterte es mir: »Sie scheint mir jetzt ein glückliches Leben zu führen. Ich möchte auf keinen Fall dazwischenfunken. Wenn ihr Mann entdeckt, dass die Handschrift von einem anderen Mann stammt, würde ihn das womöglich beunruhigen. Und noch dazu von jemandem, den er nicht kennt. Sollte mein Gruß auch nur ansatzweise ihre Beziehung belasten, wäre das sehr traurig, finden Sie nicht?«
Ich nickte zustimmend.
»Glücklicherweise heiße ich Kaoru mit Vornamen, Kaoru Sonoda. Er gilt ja für beiderlei Geschlecht. Sollte ihr Mann den Umschlag als Erster finden, sieht er die weibliche Handschrift und hält die Absenderin vermutlich für eine ihrer ehemaligen Klassenkameradinnen oder Freundinnen, ohne misstrauisch zu werden. Sakura hingegen wird sofort begreifen, dass der Brief von mir ist. So heißt sie nämlich, die Empfängerin - Sakura.«
»Da haben Sie wirklich recht«, sagte ich zu meinem Erstaunen ganz und gar überzeugt.
Es war also tatsächlich ein völlig harmloser Brief, der weder den Wunsch äußerte, die Beziehung neu aufleben zu lassen, noch einer Liebeserklärung gleichkam. Sonoda-san nippte an seinem inzwischen lauwarmen Tee und lächelte wie die aufspringende Knospe einer Kamelienblüte.
»Ich habe mir das wirklich reiflich überlegt«, betonte er.
Das sanfte Lächeln umspielte immer noch seinen Mund. Sakura konnte sich glücklich schätzen, einen so liebevollen Brief zu erhalten, dachte ich bei mir.
Bei einer weiteren Tasse Tee, den ich uns nachschenkte, sprachen wir über seine Erinnerungen an Sakura und über sein sonstiges Leben. Schließlich teilte er mir Sakuras vollen Namen und ihre Anschrift mit.
»Durch ihre Heirat heißt sie nun kurioserweise Sakura SAKURA«, sagte er schmunzelnd, während er die Zeichen für mich notierte.
Ich schaute auf den Zettel und las >Sakura SAKURA< - die gleichlautenden Namen jedoch in unterschiedlicher Schreibweise: ? ??.
Sakura SAKURA, wohnhaft in einer kleinen Stadt im Norden Japans. Sie war mir irgendwie vertraut, als würde ich sie persönlich kennen.
Sonoda-san leerte seine Tasse Tee.
»Dürfte ich das vielleicht mitnehmen?«, fragte er etwas verlegen. Seine schlanken Finger zeigten auf das kashi-Papier mit dem mochi. »Meine Tochter nascht die so gern.«
Sonoda-san führte inzwischen ein anderes Leben, in dem Sakura nicht mehr vorkommt. Und sie, Sakura SAKURA, hatte sich gegen eine Ehe als Sakura SONODA entschieden.
Ihre gemeinsame Tochter, die eine Vorliebe für japanische Süßigkeiten hat, wartet vermutlich auf Sakura Sonodas Rückkehr.
»Aber gern, nur zu! Ich hole kurz eine Folie zum Einpacken.«
»Ach, das ist doch nicht nötig.«
Er hatte bereits die gefaltete Serviette ausgebreitet und wickelte das mochi darin ein.
»Und was ist mit der Bezahlung?«, erkundigte er sich.
»Ach, das eilt nicht. Kommen Sie doch vorbei, wenn Sie in der Nähe sind.«
Ich verabschiedete Sonoda-san.
Kaum hatte er den Laden verlassen, betraten ein paar Grundschülerinnen das Geschäft. In letzter Zeit tauchten sie öfter hier auf.
Heutzutage, in Zeiten des Internets, hätte Sonoda-san bequemer Kontakt zu Sakura aufnehmen können. Es ist durchaus üblich, auf diesem Weg eine alte Jugendliebe aufzustöbern oder neue Partner zu finden.
Doch Sonoda-san tat das nicht. Und sicherlich hätte das auch nicht Sakuras Art entsprochen.
Dieser Brief war ein feinfühliger Ausdruck von Respekt und Zurückhaltung, um den Absender davor zu bewahren, eine gewisse Grenze zu überschreiten.
In den nächsten Tagen verbrachte ich viel Zeit mit Sonoda-san. Nicht mit der leibhaftigen Person, wohlgemerkt.
Vielmehr wollte ich Sakura-san das Wesentliche von ihm vermitteln - seine Freundlichkeit, seine Ausdrucksweise, sein Aussehen bis hin zu seinem Duft. Schließlich ist ein Brief eine Art Verkörperung des Verfassers.
Er werde bald ins Krankenhaus müssen, hatte er mir erzählt. Ohne ins Detail zu gehen, vertraute er mir immerhin an, dass es sich um keine lebensbedrohliche Krankheit handle. Aus diesem Grund habe er erstmals ernsthaft über den Tod nachgedacht. Und dabei sei ihm Sakura in den Sinn gekommen. Er wolle nichts zu bereuen haben, falls ihm etwas zustoßen sollte, betonte er und sah mich eindringlich an.
»Ich bin wohl ziemlich nervös wegen der bevorstehenden OP«, sagte er verlegen lächelnd.
Das konnte ich mir vorstellen. Denn egal, wie harmlos der Eingriff auch sein mochte, der Gedanke an die Vollnarkose und dass ein Skalpell einem den Bauch aufschlitzt, lässt niemanden kalt. Man befürchtet automatisch das Schlimmste. Ohne diesen Anlass hätte Sonoda-san vermutlich nie in Betracht gezogen, ihr einen Brief zu schicken.
Während ich meinen Gedanken nachhing, kam mir plötzlich meine Vorgängerin in den Sinn. Auch sie musste sich am Ende ihres Lebens einer Operation unterziehen, wobei ich ihr nicht zur Seite gestanden hatte.
Sobald ich eine vage Vorstellung von dem zu schreibenden Brief habe, wähle ich die Schreibutensilien aus. Der gleiche Text wirkt völlig anders, je nachdem, ob man einen Kugelschreiber, Füllfederhalter, Pinselstift oder einen Pinsel verwendet. Unhöflich wäre es, einen Brief mit Bleistift zu schreiben, daher fiel diese Option schon mal weg.
Nach langem Hin und Her entschied ich mich für einen Federhalter aus Glas. Seine Transparenz schien mir das geeignete Mittel zu sein, um Sonoda-sans reine, freundliche Gesinnung zum Ausdruck zu bringen. Der...
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