Schweitzer Fachinformationen
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Als Mick Hardin wach wurde, spürte er jeden Knochen einzeln. Er fühlte sich, als sei er einmal gründlich durchgekaut und wieder ausgespuckt worden. Der Arm, auf dem er mit seinem ganzen Gewicht gelegen hatte, war eingeschlafen und kribbelte. Versuchsweise bewegte er die Beine, dann schlief er auf dem harten Boden wieder ein. Im Morgengrauen sangen die ersten Vögel. Wenigstens hatte ihn kein Alptraum geweckt. Nur Vögel, die noch nichts Besseres zu tun hatten.
Als er das nächste Mal aufwachte, hatte er schrecklichen Durst. Die Sonne stand bereits über dem Waldsaum und schien ihm direkt in die Augen. Sich wegzudrehen hätte zu viel Kraft gekostet. Er war draußen. Er hatte im Wald geschlafen, hoffentlich nicht allzu weit weg von der Blockhütte seines Großvaters. Mühsam setzte er sich auf; die stechenden Schmerzen in seinem Schädel ließen ihn aufstöhnen. Seine Gesichtshaut spannte, als hätte sie jemand straffgezogen. Neben ihm schützten drei Felsbrocken eine kleine Feuerstelle, daneben lagen zwei leere Whiskeyflaschen. Lieber Wald als Stadt, sagte er sich. Lieber Hügel als Wüste. Lieber Lehm als Sand.
Er humpelte zur Regentonne an der Ecke der alten Blockhütte und schob mit der Hand die toten Insekten an der Oberfläche beiseite. Mit beiden Händen schöpfte er Wasser und trank; es war so kalt, dass sein Mund taub wurde. Er hatte einmal von einem Wissenschaftler gelesen, der mit Wasser sprach, es dann einfror und die Eiskristalle untersuchte, die jedes Mal anders aussahen, je nachdem, was er gesagt hatte. Nette, im freundlichen Tonfall gesprochene Worte ergaben hübschere Kristalle. Es war eine abstruse Idee, aber vielleicht stimmte sie ja doch. Menschen bestanden zu mindestens sechzig Prozent aus Wasser, und Mick dachte sich, ein Versuch schadete nicht. Schlimmer konnte sein Brummschädel nicht werden. Er steckte den Kopf ins Wasser und redete.
Wenn ihm der Atem ausging, hob er den Kopf gerade so weit an, dass er nach Luft schnappen konnte, dann steckte er ihn zurück ins Regenfass und redete. Er hatte den Abend damit verbracht, sich schreckliche Geschichten zu erzählen - von seiner Vergangenheit, seiner Gegenwart, seiner Zukunft - ein Teufelskreis, der die beschissene Meinung bestätigte, die er von sich selbst hatte, von der nur Alkohol ablenken konnte, was noch mehr Grübeleien nach sich zog. Jetzt suchte er mühsam nach etwas Positivem, was er über sich sagen könnte. Luftblasen stiegen beim Sprechen nach oben, und er schmeckte Erde.
Als Mick zum dritten Mal Luft holen musste, sah er aus dem Augenwinkel ein Fahrzeug. Zuerst hielt er es für Einbildung; er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht, doch der große Wagen war immer noch da, und jetzt kam auch noch jemand auf ihn zu. Obendrein entpuppte sich die Person als seine Schwester, und zwar in ihrer Sheriffuniform. Außerdem lachte sie aus vollem Hals.
»Was willst du?«, sagte er.
»Ach, nur gucken, ob du auch sauber bleibst«, antwortete Linda. »Scheinst ja regelmäßig zu baden. Ein Fliegenbad, so hat Papaw doch immer gesagt. Und, wie geht's?«
»Als ob jemand auf mich gezielt, aber vorbeigeschossen, auf mich geschissen und getroffen hätte.«
»Wenigstens ist dein Kopf wieder sauber.«
Mick nickte, eine Bewegung, die Schmerzen durch seinen Körper zucken ließ. Seine Kopfhaut fühlte sich an wie ein Trommelfell, das jemand Schraube für Schraube immer straffer gespannt hatte, bis es kurz vor dem Zerreißen stand. Er hatte offensichtlich ein wenig übertrieben.
»Kaffee«, sagte er. »Auch einen?«
Er ging ins Haus; dabei lief das Wasser an seinem Oberkörper herunter und hinterließ feuchte Streifen an seinem hellblauen Jeanshemd. Drinnen löffelte er Kaffeepulver in einen rußgeschwärzten Espressokocher für vier Tassen und stellte ihn auf den Campingkocher - eine Gaskartusche mit simplem Aufsatz - und entzündete die Flamme. Linda inspizierte die Blechkanne auf Insekten.
»Wo kommt das Wasser her?«, fragte sie.
»Aus Papaws Brunnen.«
»Und wie lang bleibst du hier draußen?«
»Irgendwann brauche ich frische Klamotten.«
Linda nickte, eine einzige, kurze Kopfbewegung. Seit ihrer Kindheit antwortete sie den meisten Männern so. Jeder hatte seine Angewohnheiten, seine kleinen Eigenheiten. Die von Mick waren eher ungewöhnlich, weil er als Kind hier beim Großvater im Wald aufgewachsen war, gefolgt von vierzehn Jahren bei der Armee. Angefangen hatte er als Fallschirmjäger, mittlerweile leitete er strafrechtliche Ermittlungen beim Militär, wo er auf Mordfälle spezialisiert war.
Linda bewegte sich träge durch das große Zimmer, als gebe es in diesem Raum keine Zeit, als laufe jede Bewegung in Zeitlupe ab. Auf einem selbstgebauten Regal an der Wand lagen die Schätze aus Micks Kindheit - ein Trilobit, die gebänderte Feder eines Streifenkauzes, ein mumifizierter Ochsenfrosch, den er unter einem Felsüberhang gefunden hatte. Ein Stein mit drei waagerechten Schichten, der wie ein halber Hamburger aussah. Nachdem ihr Großvater sie ins warme Bett gesteckt hatte, hatte er so getan, als würde er hineinbeißen - Mitternachtsimbiss hatte er es genannt. Die Erinnerung brachte Linda zum Lächeln.
Sie ging nach draußen und folgte dem Pfad zu der hölzernen Fußbrücke, die über den Bach und zur benachbarten Bergflanke führte. Als Kinder hatten Mick und sie weitläufige Konstruktionen aus Stöcken und Blättern am Bach gebaut und so getan, als wäre es eine Stadt am Fluss mit einer Wassermühle, reichen Familien, breiten Straßen, einem Hotel und einem Kino. Dann hatten sie sich auf die Brücke gesetzt und von dort oben Steine geworfen, bis alles unter ihnen zerstört war. Jeder Volltreffer wurde bejubelt. Dieses Spiel gehörte zu ihren schönsten Kindheitserinnerungen, aber als sie jetzt auf der Brücke saß, wurde ihr klar, dass es auch damals schon einen Unterschied zwischen Mick und ihr gegeben hatte. Sie hatte der Aufbau der Stadt fasziniert, während ihr Bruder an der Zerstörung den größten Spaß hatte.
Er gesellte sich mit den Kaffeebechern zu ihr, und sie saßen nebeneinander und ließen die Beine baumeln. Wie üblich wartete er ab, dass sie als Erste sprach. Er wusste, dass es nicht lange dauern würde.
»Als wir klein waren, kam es mir irgendwie vor, als wäre der Bach weiter weg«, sagte sie.
»Bei den vielen Steinen, die wir reingeschmissen haben, liegt das Bachbett jetzt auch garantiert höher.«
»Daran habe ich auch gerade gedacht.«
»Ich weiß.«
»Dann kannst du also Gedanken lesen?«, fragte sie.
»Hier gibt's ja sonst nichts zu tun. Man sitzt da und erinnert sich.«
»So gern denkst du an die Vergangenheit?«
»In letzter Zeit nicht«, erwiderte er.
»Was ist los? PTBS oder was?«
»Momentan lediglich ein fürchterlicher Kater.«
»Aber glaubst du, dass du traumatisiert bist?«, fragte sie.
»Wahrscheinlich. Dad war traumatisiert. Papaw auch.« Er blies in seinen Kaffee und nahm einen Schluck. »Keine Sorge. Ich zeige keinerlei Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel, dass ich sie leugne.«
Sie warf ihm einen Blick von der Seite zu, unauffällig aus dem Augenwinkel, wollte sich nicht aufdrängen, wusste aber, dass ihm nichts entging, nie, selbst, wenn er verkatert war. Seine fast übernatürliche Auffassungsgabe machte allen Menschen um ihn herum das Leben schwer, ihm selbst am allermeisten. Sie beschloss, seine Frau und ihre Schwangerschaft nicht zu erwähnen.
»Denkst du gerade an Peggy?«, fragte er.
»Woher zum Teufel weißt du das?«
»Weil's logisch ist, daher. Aber du bist wegen was anderem hier, stimmt's?«
»Stimmt. Aber wo du doch alles so gut weißt, dann verrat mir doch mal, warum ich dich besuchen komme.«
»Das ist einfach, Schwesterchen. Du bist hier uniformiert mit dem offiziellen Wagen eingeritten, und dann hast du erstmal abgewartet. Du willst was von mir.«
»Verdammt.«
Mick nickte belustigt. Er liebte seine Schwester, besonders dann, wenn sie fluchte. Sie war das erste Mädchen im ganzen Landkreis, das Little-League-Baseball gespielt hatte, dann wurde sie der erste weibliche Deputy, und jetzt war sie Sheriff.
»Ich habe eine Leiche.«
»Begrab sie.«
»Sie wollen mich rausdrängen.«
»Wer will dich wo rausdrängen?«
»Die da oben«, antwortete sie. »Der Bürgermeister will, dass die Polizei von Rocksalt den Fall übernimmt, damit er bei der nächsten Wahl die Lorbeeren dafür einheimsen kann. Der County...
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