Schweitzer Fachinformationen
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Unerschrocken und mitreißend in seiner Freiheit, sprengt dieser Band alle Vorstellungen dessen, was eine Frau ihrer Zeit und Herkunft schreiben darf. Tezer Özlü stellt sich damit in eine Reihe mit Sylvia Plath und Anne Sexton. Sie erzählt zugleich autobiografisch und surreal, mit bekenntnishafter Offenheit und Gefühlsunmittelbarkeit - in einer bildstarken, betörenden und begeisternden Sprache.
»Wir haben Deine Bücher in Istanbul sehr geliebt«, schreibt Emine Sevgi Özdamar in ihrem Nachwort zu Tezer Özlüs Suche nach den Spuren eines Selbstmordes, das die türkische Autorin und Übersetzerin 1982 auf Deutsch geschrieben, aber nur auf Türkisch veröffentlicht hat. Darin nimmt uns Özlü mit auf zwei Reisen: eine von Westberlin nach Prag, Triest und Turin, an die Orte von ihr verehrter Schriftsteller. Eine zweite führt in ihr Inneres. Zu ihren Träumen, Empfindungen und Wünschen. Sie steigt in den Zug und streift alles ab: die »vernunftlosen Ketten der Gesellschaft«, die »kalten Nächte der Kindheit«, die »Schlafzimmer der Nervenkliniken«, die Verfolgung nach dem Militärputsch in der Türkei: »Hier in den Gärten von Valentino wird mir klar, dass mein einziges Glück darin besteht, allem zu entfliehen.«
I
Ich bekomme Gänsehaut, ich friere am schönsten Frühlingstag, wenn ich jetzt vielleicht in einer Stunde, die mir wie eine Sekunde vorkommt, oder wie ein Leben erscheint, Kadenz des Leidens lese. Und erschüttert lese ich, dass Pavese am selben Tage geboren ist wie ich, am 9. September. Ich bin nach Mitternacht geboren. Aber wenn in Anatolien Mitternacht vorbei war, war es in S. Stefano Belbo noch nicht Mitternacht. Und wir sind in derselben Nacht geboren, wenn auch nicht im selben Jahr. Ich, sieben Jahre vor seinem Selbstmord. Warum sitze ich hier in Berlin Storkwinkel und lese und lese und lese Pavese. Habe ich ihn nicht jahrelang am Bosporus gelesen. Was liegt in meinem Wesen, dass ich mein Herzklopfen, dass ich alle Bilder, die mein Auge aufgenommen hat, nur in seinen Sätzen, nur in den von ihm ausgesuchten Worten wiederfinde.
Jede Straße hat ihr eigenes Gesicht. Jeder Hügel ist sozusagen eine Persönlichkeit .
sagt er.
Hast du das nicht empfunden, als du in irgendeinem Mai deines Lebens in Nizza ankamst und durch die breiten Alleen immer und immer wieder zum Mittelmeer gelaufen bist. Dir jede Fassade jeder Wohnung, jeder Residenz angeschaut hast. Jedes Straßenschild, jedes Hausschild gelesen hast. Was für ein Gesicht hast du aus Genua behalten. Wo du aus Müdigkeit das Mittelmeer nicht mehr finden konntest und durch graue, schmutzige, von Auspuffgasen stinkende Straßen liefst, die Schriften an den Mauern last und an deine Straßen in Istanbul dachtest, an die Gegend um den Galataturm, wo du neun Jahre zur Schule gegangen bist. Diesen von den Genuesen gebauten Teil von Istanbul. Was für eine Erinnerung hast du noch an die Straßen von Genua, wo du endlich in einem guten Hotel übernachten wolltest und keines fandest, weil diese Hotels von außen gut und elegant waren, aber drinnen alt und verlassen und feucht und arm. Und in einem solchen feuchten Hotel hattest du geschlafen, in der nassen Einsamkeit dieser Mittelmeerstadt, wo du das Meer nie finden konntest.
Du warst einsamer als die ganze Stadt, als das ganze Hotel, als das ganze Meer. So groß war deine Einsamkeit, wie der Ozean. Bevor du ins Zimmer kamst, saßest du in einem Straßencafé. Weißt du noch, was du getrunken hast, war es Bier oder Campari. In dem von elektrischen Lichtern erleuchteten Dunkel der Straße hatte ein Bus gehalten. Eine Fußballmannschaft war ausgestiegen. Als Frau, die du warst, schautest du die Mannschaft an. Dann warst du in einem Lokal, wo junge Arbeiter ihren wertvollen Samstagabend verbrachten. Du wechseltest einige Worte mit ihnen. Sie sagten alle, sie seien Kommunisten, und hatten doch von Marx nie gehört. Das hatte dir gefallen. »Man kann auch Kommunist sein, ohne den Namen Marx gehört zu haben«, dachtest du. An viele Mauern der Stadt war geschrieben »avanti lavoratori«. Dann wurdest du wach an einem Sonntag. Die Hitze war noch nicht in dein Zimmer gelangt. Du gingst zum Bahnhof. Zuerst kauftest du dir ein Schinkenbrot. Als du deine Koffer holtest und dann die Gleise in der Sonntagsverlassenheit fandest, hast du dich mit einem Puppenverkäufer unterhalten. Er hat dir gesagt, dass er sich sein Leben lang nach einer Frau wie dir gesehnt habe. Er schlug dir vor, mit ihm zu bleiben. Am Bahnhof von Genua. Jetzt in Berlin, am angenehmsten Tag dieses Jahres, erinnere ich mich zum ersten Mal nach acht Jahren an diesen Puppenhändler. Und die Nächte genügen mir nicht. Und Menschsein genügt mir auch nicht. Und Wörter und Sprachen genügen mir nicht. Ich bin auf den Balkon gegangen. Eine Sekunde. Habe gesehen, wie die Sonne versucht, hinter den grauen Berlin-Wohnungen unterzugehen. Die Menschen parken ihre bunten, neuen Autos. Sitzen drin. Parken oder fahren ab. Immer, je älter ich werde, wird die Kluft zwischen mir und den Menschen auf den Straßen, in den Autos, in den Flugzeugen, in den Behörden, in den Senaten, in den Bussen, in den Geschäften tiefer. Und auch zwischen mir und den Waren. An manchen Tagen kann ich kein Stück Fleisch in die Hand nehmen, und geschlachtete Hühner, ich kann sie zwar braten, aber nicht mehr essen. Ich gehe zurück zu meinen Reisen, zu meinen Städtebildern. Ich kann nicht mehr bleiben.
Gestern, an meinem ersten Aprilsonntag in Berlin, habe ich mich entschlossen, von nun an den Schmerz als Glück zu definieren. Habe ich in den glücklichsten Momenten meines Lebens nicht Schmerz empfunden. Den Schmerz des Seins. Und in der Ausdauer der Schmerzen war die Erwartung: das Warten auf meine eigene Welt. Das Warten auf meinen Morgentee in meinem Zimmer und nicht in den Schlafzimmern der Nervenkliniken. Diese Erwartung war ein wirkliches Glück. Aber niemand ist so schön, niemand ist so lebendig in den Tod gegangen wie du. Gestern saß ich lange auf dem Balkon. Der Balkon meiner Wohnung im Storkwinkel ist eine bis zur Hälfte hochgemauerte Zelle. Der Himmel ist frei. Man sieht die Gipfel der Bäume, die in diesen Tagen ihre Kahlheit aufgeben. In meinem Menschsein fühle ich mich kräftiger als die Menschheit und gleichzeitig fühle ich mich verlassener als die Bäume, die ihre Kahlheit ablegen. Und zum ersten Mal überfiel mich das Gefühl der Gelassenheit, das ich bisher nicht kannte. Dieses Gefühl war meiner Natur nicht gewachsen. Auch meiner Umgebung, meinen Mitmenschen war es nicht gewachsen. Aber als ich auf diesem Balkon saß, der wie eine zum Himmel offene Zelle gemauert ist, und die Gipfel der Bäume im Storkwinkel ansah und den Wind wie eine sanfte Ouvertüre in den Sonntagsgassen von Berlin auf meiner Haut fühlte, fand mich das Gefühl der Gelassenheit. Ich stand auf, schaute die anderen Häuser und die anderen Balkone an. In Ruhe stellte ich fest: Sie alle waren so gebaut, dass keiner den anderen erblicken konnte, und ich setzte mich wieder auf den weißen Sessel und ließ die Gelassenheit tief in mich eindringen. Es war eine lange Nacht, ein langer Tag. Nach zwei Stunden Schlaf war ich zum Platz der Luftbrücke gefahren. Hatte noch in der Morgenkühle an der Bushaltestelle neben der großen und unlebendigen Grünanlage mit dem Fahrer des Busses 19 die Wartezeit verbracht. Er war ein einfacher, bäuerlicher Mann mit einem winzigen und glänzenden Ohrring an einem Ohr. Die Namen der Haltestellen sprach er tief erotisch aus. Er war mir sehr sympathisch. Als ich in Halensee ankam und vor seinem Bus die Straße überqueren wollte, grüßten wir einander im menschlichen Verständnis. In den nächsten Stunden, während er weiter durch die Straßen von Berlin fuhr, entschloss ich mich, den Schmerz als Glück zu definieren.
Die Umwelt soll nicht beschrieben, sondern durchlebt werden durch die Empfindungen .
Cesare Pavese
Damals war ich jung. Das heißt, damals glaubte ich noch an den Zustand Jugend. Glücklich und unglücklich. Lebendig und tot. Von den vielen Städten, in denen ich war, weiß ich, dass ich in den Straßen, auf den Plätzen, in den Cafés, in den Gebäuden, in den Treppenhäusern, im Schatten und im Regen und im Wind und im krassen oder kalten Sonnenschein nur mein Ich vorangetrieben und beobachtet habe. Ich habe sie an die Tische gesetzt in den Cafés. Ich habe sie an den Kreuzungen stehen lassen, ich habe sie die Fassaden der Gebäude beobachten lassen. Ich habe sie viele viele Plätze, Boulevards und Gassen und Menschen vieler Städte entdecken lassen. Ich habe sie die Welt sehen lassen in unersättlicher Neugierde. Ich habe sie gequält. Ich habe sie nach Erlebnissen suchen lassen, auch wenn ich wusste, dass es aussichtslos war, so ein Leben zu durchleben in jenen Gassen, jenen Plätzen, in jenen Bahnhöfen und Flughäfen, wie es eigentlich in mir auf und ab ging. Dieser Wunsch war und ist unbeschreiblich. Alles, was sich darbot, war mangelhaft.
Die Winde mangelhaft. Der Geschmack des Wassers mangelhaft. Und die Länge der Tage und die Tage der Wochen mangelhaft. Ich habe sie viele Körper lieben lassen. In einer U-Bahn-Station habe ich sie hinter einer alten Frau sagen lassen: »Auch diese U-Bahn-Treppen der Jahrhunderte sind voller Unersättlichkeit und Sehnsucht.«
Ich habe sie beobachtet. In den Apfelgärten als Kind. In schlaflosen Nächten. In den Tiefen des Schlafs. Als Frau habe ich sie beobachtet, als Frau, die...
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