Schweitzer Fachinformationen
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Draußen auf dem Bahnhof flogen die Möwen und Tauben zwischen den Menschen, die ihre Koffer auf den Bahnhofsboden stellten und sich umarmten. Die Vögel setzten sich manchmal so lange auf ihre Koffer, als wären sie selbst von einer langen Reise angekommen. Erst wenn die Menschen ihre Koffer wieder in die Hand nahmen, flogen sie wieder auf. Meine Mutter und mein Vater nahmen mich zwischen sich und hielten mich fest. Mein Vater sagte: »Meine Löwentochter, bist du gekommen?« Meine Mutter sagte: »Meine Tochter, erkennst du uns wieder?« Vor Aufregung elektrisierten sich ihre Haare, die dann auch meine Haare elektrisierten. So liefen wir, unsere Haare ineinandergedreht, über die Straßen. Ich staunte, wieviele Männer es in Istanbul gab. Ich schob die Luft vor mir her, meine Bewegungen kamen mir so langsam vor, die Bewegungen aller Menschen. Die Eselsfüße rutschten über die kleinen Pflaster, die Esel schrien mit ihrem ganzen Körper. Die Lastträger trugen auf ihrem Rücken schwere Pakete und schwitzten, ihre Gesichter küßten fast die Erde. Esel, Lastträger, Autos, Schiffe, Möwen, Menschen, alles bewegte sich, aber es kam mir alles viel langsamer vor als die Bewegungen in Berlin. Man roch scheißende Pferde, das Meer, der Straßenschmutz spritzte an die Strümpfe der Frauen, und alle Schuhe sahen schmutzig und alt aus, auch die Schuhe der reichen Männer. Den Straßenschmutz an unseren Schuhen, gingen wir auf das Fährschiff. Es schwankte mal nach links, mal nach rechts, so kippte ich mal auf die Schulter meiner Mutter, dann auf die Schulter meines Vaters und schlief dabei ein. Am Abend, als die Straßenlampen angingen, fragte ich: »Mutter, ist Istanbul dunkler geworden?« - »Nein, meine Tochter, Istanbul hatte immer dieses Licht, deine Augen sind an deutsches Licht gewöhnt.« Mein Vater hatte ein Pontiac-Auto. »Du hast Sehnsucht nach Istanbul«, sagte er, »ich fahre dich ein bißchen spazieren!« Er nahm manchmal Leute im Auto mit, die auf den Bus warteten. Ich saß neben meinem Vater, und er sagte zu einer Frau, die hinten saß: »Das ist meine Tochter, sie kommt gerade aus Deutschland, sie hat Europa gesehen.« Die Frau antwortete: »Europa gesehen zu haben, ist eine feine Sache. Man sieht einem Menschen im Gesicht an, daß er Europa gesehen hat. Die Europäer sind fortschrittlich, wir treten mit unseren Füßen auf der Stelle und bewegen uns einen Schritt vor und zwei Schritte zurück.« Dann fragte die Frau meinen Vater, ob ich dort Deutsch gelernt hätte. Mein Vater fragte mich: »Meine Tochter, hast du Deutsch gelernt?« Ich antwortete: »Nein, ich habe kein Deutsch gelernt.« Mein Vater blickte in den Rückspiegel und sagte zu der Frau, die er dort sah: »Nein, sie hat kein Deutsch gelernt.« Die Frau redete weiter im Spiegel mit meinem Vater: »Das geht aber nicht - Deutschland sehen und die Sprache nicht sprechen! Sie muß die Sprache lernen.« Mein Vater fragte mich: »Meine Tochter, willst du die Sprache lernen, hör, was die Dame sagt, du mußt die Sprache lernen.« - »Ja, Vater, ich möchte lernen.«
In Istanbul stand alles an seinem alten Platz, die Moscheen, die Schiffe, die Männer, die in den Schiffen arbeiteten, die Männer, die Tee kochten, der Gemüseverkäufer gegenüber unserer Wohnung. Sogar ein altes Auto, das kaputtgegangen war, stand genau an dem Platz, an dem ich es vor einem Jahr gesehen hatte. Aus seiner Tür wuchs Gras. Das Meer hatte immer noch die gleiche Farbe, und die Schiffe fuhren wie früher zwischen Asien und Europa hin und her. Ich dachte, ich kann wieder gehen, alles wird an seinem Platz bleiben und auf mich warten. In unserem Hauseingang hing immer noch die gleiche Glühbirne, die schon vor einem Jahr gezittert hatte und ständig an- und ausgegangen war. Wenn ich zurückkomme, dachte ich, wird sie immer noch zittern und an- und ausgehen, ich kann gehen. Ich wollte Deutsch lernen und mich dann in Deutschland von meinem Diamanten befreien, um eine gute Schauspielerin zu werden. Hier müßte ich jeden Abend nach Hause zurück und in die Augen meiner Eltern schauen. In Deutschland nicht.
Mein Vater gab mir 3000 Mark und schickte mich zum Goethe-Institut in eine Kleinstadt am Bodensee. Meine ersten Sätze waren »Entschuldigung, kann ich was sagen«, »Entschuldigen Sie bitte, wie spät ist es« und »Entschuldigen Sie bitte, kann ich noch eine Kartoffel bekommen«. Nur am Wochenende entschuldigte ich mich nicht. Am Wochenende machte ich mit der Italienerin, mit der ich zusammen Deutsch lernte, Autostop in Richtung Schweiz. Oft hielten französische Soldaten an, und wir hatten wieder keine Sprache, weil die Soldaten nur Französisch sprachen. Ich hatte etwas Deutsch gelernt, aber entschuldigte mich weiter bei jedem Satz.
Als die Schule zu Ende war, ging ich zum Bahnhof. Ich konnte nach Istanbul zurückkehren, aber hatte mich noch nicht von meinem Diamanten befreit. Ich rief Ataman in Berlin an: »Ataman, ich spreche Deutsch.« - »Hast du noch deinen Diamanten? Komm nach Berlin, hier ist viel los. Engel möchte auch, daß du nach Berlin kommst.« Ich sagte dem Kartenverkäufer: »Entschuldigen Sie, darf ich eine Karte nach Berlin kriegen.« - Im Zug sagte eine türkische Frau: »Ich arbeite bei Siemens, Siemens nimmt Arbeiterinnen.« In der Bahnhofshalle in Berlin hörte ich die Stimmen der Menschen und merkte, daß ich jetzt auch ihre Sätze verstand. »Entschuldigen Sie, wie spät ist es?« - »Kurz vor neun.« Vom Bahnhof rief ich Ataman und Engel an. Eine Stimme sagte mir: »Sie sind in Erlangen beim Theaterfestival, sie kommen erst in sechs Tagen zurück.«
Ich verließ den Bahnhof, ging am Wienerwald und an der zerbrochenen Kirche vorbei zum Aschinger Restaurant und aß im Stehen eine Erbsensuppe. Durch das Fenster sah ich wieder die türkische Frau, die ich im Zug getroffen hatte. Sie stand an der Bushaltestelle und wartete. Mein Teller war leer, ich stieg hinter der türkischen Frau in den Bus, stieg mit ihr wieder aus und stand wieder vor einem Frauenwohnheim. Hinter dem Wohnheim sah ich irgendwo Fabriktürme. Die Frau sagte mir: »Das ist Siemens.« Am nächsten Tag hatte ich bei Siemens eine Stelle und wohnte in dem neuen Frauenwohnheim, es hatte sechs Etagen und lag an einer Schnellstraße. Am ersten Samstag schauten sich alle Frauen im Salon einen türkischen Film an. Als der Film zu Ende war, fragte eine deutsche Siemenschefin die Mädchen, um was es in dem Film gegangen wäre. Die Mädchen verstanden sie nicht, aber ich sagte: »Entschuldigen Sie, darf ich Ihnen den Film erzählen? Das Mädchen und der Junge liebten sich, aber die böse Mutter trennte sie. Das Mädchen geht in die Großstadt, und dort wird sie Sängerin in einem Nightclub. Der Junge wird aus Kummer blind, geht eines Tages an diesem Nightclub vorbei, hört ihre Stimme, und seine Augen gehen wieder auf, aber das Mädchen hat einen bösen Chef.« Die Siemenschefin, sie hieß Gerda, sagte: »Hör mal, wie können Sie denn so gut Deutsch sprechen, kommen Sie morgen zu mir in die Fabrik.« Am nächsten Tag klopfte sie mir auf die Schulter. »Sie sind die neue Dolmetscherin im Siemens-Frauenwohnheim.« Die Heimleiterin war eine Griechin, Madame Gutsio. Alle türkischen Frauen sagten zu ihr: Madame Gusa. Ihre Haare waren vor vier Jahren in drei Nächten weiß geworden, weil ihr Freund in seinem Auto an einem Herzinfarkt gestorben war, als er einen Lastwagen auf sich zukommen sah. Gutsio hatte damals ein Kind im Bauch gehabt, das sie nach der Geburt bei ihrer Mutter in Griechenland gelassen hatte, weil sie Kommunistin war und nach Deutschland fliehen mußte. Abends telefonierte sie immer mit Griechenland, weil auch ihre Schwester und ihr Schwager Kommunisten waren und sie Angst hatte, daß die griechischen Militärputschisten die beiden ins Gefängnis schickten. Sie kam dann zu mir ins Zimmer und sagte: »Ich habe mit meiner Schwester und meinem Schwager gesprochen.« Dann blinzelte sie ein paarmal mit den Wimpern und wartete an der Tür, bis auch ich mit den Wimpern blinzelte. Dann sagte sie: »Ich gehe jetzt zu meinem Kafka und Camus.« Ich liebte Madame Gutsio sehr, sie hatte mir ein Buch von Kafka in Deutsch gegeben, das ein großes Photo von Kafka enthielt. Ich las in dem Buch, und immer wieder schaute ich mir Kafkas Gesicht an und stellte mir einen schönen, schlanken Mann mit schwarzen Haaren vor, der steppte. Abends, wenn wir das Bürolicht ausmachten, sagte Madame Gutsio immer zu mir: »Zuckerpuppe, laß uns zu unseren Kafkas gehen.« Sie ging zu ihrem Kafka, ich ging zu meinem Kafka. Das Dolmetscherinnenzimmer sah wie ein Klosterraum aus - ein kleines Bett, ein Tisch, ein Stuhl, eine Stehlampe, ein kleiner Schrank an der Wand. Draußen an der Schnellstraße rasten die Autos vorbei, nur wenn gerade kein Auto kam, hörte ich nebenan in Madame Gutsios Zimmer, wie sie in Kafkas Buch eine Seite umblätterte.
Das Wohnheim hatte sechs Etagen, in der vierten, fünften und sechsten wohnten die türkischen Frauen, die erste, zweite und dritte Etage standen leer. Wenn auf der Schnellstraße die Autos vorbeifuhren, klapperten in den ersten drei Etagen die Fenster viel lauter als in der vierten, fünften und sechsten Etage. Das Fabrikdirektorium kündigte an, daß in diese leeren Etagen bald türkische Ehepaare einziehen würden. Die Ehepaare kamen mit dem Flugzeug, ich brachte sie zur Fabrik, übersetzte für sie die Arbeit, die sie machen mußten, und brachte sie zum Fabrikarzt. Während ich übersetzte, stand der Meister rechts, und die Ehepaare standen links von mir. Wenn ich Deutsch sprach, fing ich meine Sätze wieder mit »Entschuldigen Sie bitte« an. Nach rechts sagte ich zum Meister: »Entschuldigen Sie mich bitte .« Wenn ich nach links ins Türkische...
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