Schweitzer Fachinformationen
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Unruhig wanderte Max Angers Blick zwischen seinem Handy und der Wand des Konferenzraums hin und her, an der auf mehreren Bildschirmen Nachrichtensender aus ganz Zentral- und Osteuropa liefen. Dann las er erneut Paschies SMS. Sie hatte ihm am Freitag geschrieben, dass sie versucht habe, ihn zu erreichen. Daraufhin hatte er es am Wochenende mehrmals auf ihrem Vektor-Handy probiert. Doch das Handy war ausgeschaltet gewesen. Was in aller Welt ging da vor?
Er blickte erneut zu den Bildschirmen. Der Ton war abgestellt, stumme Bilder blitzten ihm entgegen. Wie immer interessierte ihn der russische Kanal am meisten. Max rutschte auf seinem Stuhl herum, als Bilder des zugefrorenen Wassers rund um Archangelsk an einem sonnigen und klaren Spätwintermorgen gezeigt wurden.
Durch eine Rinne im Eis fuhr ein rostiger Fischkutter auf den Fähranleger zu. Als das Boot den Kai erreichte, stießen die Männer an Deck ihre Jagdstöcke gen Himmel und riefen den Demonstranten, die sich an Land versammelt hatten, trotzige Antworten entgegen.
Dann wurden Bilder eines offenen Lkws mit einer Ladefläche voller Robbenjungen eingeblendet. Wieder andere Bilder zeigten, wie die Jungtiere an einer Laderampe bei lebendigem Leib gehäutet wurden.
Das ist nicht korrekt - das müssen sie noch auf dem Eis machen!
Max rutschte wieder nervös auf seinem Stuhl hin und her. Die Fernsehbilder erweckten alte Erinnerungen zum Leben. Er sah aus dem Fenster auf den Valhallavägen hinunter, wo die Wipfel der großen Bäume im Wind hin- und herschaukelten wie schäumende Wellen, die einander nachjagten.
Er war zwölf Jahre alt gewesen, als er von Arholma aus - der Insel vor der schwedischen Ostküste, wo er aufgewachsen war - nach Osten übers Eis zur unbewohnten nächsten Insel lief. Die Strecke war deutlich länger, als er gedacht hatte, und er schwitzte aus allen Poren. Als er die Jacke aufknöpfte, hörte er plötzlich ein merkwürdiges Röcheln. Er drehte sich um - und bei dem unerwarteten Anblick des schlafenden Robbenjungen verschlug es ihm den Atem. Es war schneeweiß, im Schnee annähernd unsichtbar, lag flach auf dem Bauch und tankte Sonne. Es war allerhöchstens ein paar Tage alt. Max wusste, dass der Pelz maximal zwei Wochen so strahlend weiß blieb.
Das Robbenjunge schlug seine rabenschwarzen Augen auf und sah Max neugierig an.
Er wusste, was zu tun war, wenn er auf dem Eis auf so ein Jungtier traf. Er wusste, dass er ihm den Schlagstock einmal hart über die Schnauze ziehen musste. Wenn er richtig traf, setzte der Blinzelreflex aus, und das Junge starrte ihn mit leerem Blick an.
Diese Tat würde ihn zum Mann machen, der unter Beweis gestellt hatte, dass er dem altehrwürdigen Mannesideal gerecht wurde, das sein Vater immer noch in Ehren hielt. Die Freunde seines Vaters würden ihre Sachen packen, zu ihnen nach Hause kommen und mit ihnen Max' erstes Robbenjunges feiern.
Doch Max vermochte sich nicht zu rühren.
Je mehr Zeit verstrich, desto unmöglicher fühlte es sich an. In diesem Moment und an dieser Stelle begriff Max, dass er anders war. So ein unschuldiges Wesen totzuschlagen war keine Großtat - nichts, was aus einem Jungen einen Mann machte. Er sollte nie auf der anderen Insel ankommen. Er machte kehrt und lief wieder nach Arholma, erzählte niemandem von dem weißen Robbenjungen und hängte auch kein Robbenfell vor dem Haus auf.
Irgendeines Tages würde es wieder eine Gelegenheit geben. Und da würde alles komplett zum Teufel gehen.
Mit einem Mal gingen die Bildschirme aus.
»Violet hat mir gesagt, dass ich dich hier finde.«
Sarah Hansen stand mit der Fernbedienung in der Hand hinter ihm und sah ihn an. Womöglich hatte sie dort schon eine ganze Weile gestanden.
»Du siehst echt schlimm aus, Rospigg«, sagte sie und fuhr sich mit den Fingern durch das strubbelige weißblonde Haar.
Sarah Hansen war Max' Chefin und die einzige Person in seinem Leben, die ihn Rospigg nennen durfte - eine uralte Bezeichnung für jemanden, der aus der Region Roslagen stammte.
Sie hatten sich während der Ausbildung beim Militär im Russischunterricht kennengelernt. Max war Kampfschwimmer gewesen, Sarah hatte die Dolmetscherschule besucht. Aus Kameraden wurden Freunde, und auch wenn sie nach der Ausbildung getrennter Wege gingen, blieben die beiden in Kontakt. Max verfolgte ihre steile Karriere bei einer Investmentbank und war beeindruckt von ihrem Unternehmergeist, als sie später einen Thinktank namens Vektor gründete, der sich der Demokratisierung und Sicherheit schwedischer Nachbarstaaten widmete. Als er selbst einige Jahre später die Kürzungen beim schwedischen Militär leid war und sie ihn fragte, ob er sich vorstellen könne, als Analyst mit Schwerpunkt Russland für sie zu arbeiten, hatte er nicht lange gezögert. Es war an der Zeit gewesen, das Soldatenleben hinter sich zu lassen und neue Wege zu beschreiten.
»Was du in deiner Freizeit machst, ist wirklich deine Sache, aber dir ist schon klar, dass du hier auch arbeitest, oder?« Sarah bedeutete ihm, ihr ins Büro zu folgen. »Und dass ich diejenige bin, die dich dafür bezahlt?«
Sie setzte sich an ihren ausladenden Mahagonischreibtisch und musterte ihn durch Brillengläser, die so dick waren, dass sie mehrere Millimeter über das zierliche schwarze Metallgestell hinausragten. Max wich ihrem Blick aus und ließ sich in einen himmelblauen Sessel fallen, den Sarah bei Christie's in London ersteigert hatte.
»Wie könnte ich das vergessen«, murmelte Max. »Immerhin hast du mich zum Rubelmillionär gemacht.«
Sarah grinste schief.
Er sah zu dem Foto hoch, das über ihr an der Wand hing - darauf schüttelte sie König Carl XVI. Gustaf die Hand. Max kannte niemanden, der auch nur annähernd so patriotisch war wie Sarah. Sie war in Polen zur Welt gekommen, hatte aber mit sechzehn die schwedische Staatsbürgerschaft angenommen. Inzwischen liebte sie Schweden mehr als alles andere auf der Welt, konnte im Schlaf die Namen sämtlicher Regierungschefs von De Geer bis Carlsson herunterrattern und selbst einem Vierjährigen aus dem Kindergarten ihrer Tochter die Besonderheiten des parlamentarischen Systems erklären.
Sarah sah ihn besorgt an.
»Ganz ehrlich, Max, du siehst aus, als hättest du seit einer Woche nicht geschlafen.«
Max antwortete nicht. Im Grunde gab es darauf auch nichts zu erwidern. Sarah hatte recht.
»Hast du Carl Borgenstierna erreicht?«
Max starrte auf seine Knie, auf die Schwielen an seinen Händen. Und nickte dann bedächtig.
»Ich hab ihn besucht, ja.«
»Hat er sich gefreut, dich zu sehen?«
»Schwer zu sagen. Er war nicht bei Bewusstsein . und er hatte so eine Maske auf dem Gesicht, die einem hilft zu atmen. Sie hatten ihm gerade zwei Nieren transplantiert.«
Max hatte immer noch vor Augen, wie jämmerlich der Alte an dem Dialysegerät ausgesehen hatte. Wie oft hatte er in seiner Kindheit und Jugend den Namen Carl Borgenstierna gehört, insbesondere immer dann, wenn Jakob - sein Vater - betrunken gewesen war. Es war ihm eher wie ein Traum vorgekommen, dem Mann nach all den Jahren leibhaftig gegenüberzutreten.
Am Bett auf seinem Nachttisch hatte ein Album mit der Prägung einer Lilie gelegen, daneben ein gerahmtes Bild, das sepiabraune Porträt einer jungen, wunderschönen Frau, die ausgesehen hatte wie ein Filmstar aus einem alten Hollywood-Streifen. Irgendetwas an ihrem Blick hatte sich in Max verhakt - da war eine Glut gewesen, eine Sehnsucht, die ihn an jemand anderen erinnert hatte. An Paschie.
Nach dem Tod seiner Mutter vor einem Monat hatte Max beschlossen, endlich die Wahrheit über die Namen herauszufinden, die sein Vater immer derart hasserfüllt ausgesprochen hatte.
Wallentin und Borgenstierna.
Max wusste immer noch nicht, wie alles zusammenhing. Aber bislang hatten seine Nachforschungen ergeben, dass sein Vater 1944 als Pflegekind auf Arholma gelandet war. Und dass Borgenstierna auf irgendeine Weise damit zu tun gehabt hatte. Wenn der alte Mann tatsächlich für das Unglück von Max' Familie verantwortlich war, dann würde er auch dafür bezahlen.
Max hatte den Mann gerüttelt und versucht, ihn aufzuwecken. Er hatte sich zusammenreißen müssen, um nicht kurzerhand die Schläuche aus dem Dialysegerät zu ziehen.
»Was weißt du über Borgenstierna?«, fragte Max.
Sarah sah ihn überrascht an.
»Das habe ich dir doch erzählt. Ich weiß im Grunde nicht viel mehr, als dass er vor rund fünfzig Jahren die Ostseestiftung ins Leben gerufen hat, die wiederum seit ein paar Jahren Vektor finanziell unterstützt. Ich bringe diesem Mann größten Respekt entgegen und bin ihm wirklich dankbar, auch wenn ich ihn bisher noch nicht persönlich kennengelernt habe.«
Sie rekelte sich in ihrem Stuhl und legte dann die Hand auf eine dicke Akte vor ihr auf dem Schreibtisch.
»Du musst endlich einen Schlussstrich unter deine kleine Privatermittlung ziehen. Dein Urlaub ist hiermit vorbei.«
Dann schob sie Max die Akte über den Tisch.
»Das hier sind deine Hausaufgaben für heute Abend.«
Vergebens versuchte Max, enthusiastisch auszusehen, als er den Wälzer aufschlug.
»Nur Schulkinder haben Skiferien, Max. Du hattest letzte Woche frei. Hättest eigentlich schon gestern wieder da sein müssen.«
Sie zeigte auf die Akte.
»Fahr nach Hause und lies dir das durch. Und schlaf in Gottes Namen ein paar Stunden. Ich krieg heute Abend Besuch, wenn du also...
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