Schweitzer Fachinformationen
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Das Tempo, mit dem Tess in die Lisztstraße einbog, war zu hoch, das wusste sie. Aber noch bevor sie dieses Wissen in eine Handlung verwandeln konnte, war es zu spät.
»Ey!«, schrie Moyra.
Tess konnte nicht ausmachen, ob das noch eine Warnung oder schon ein Vorwurf sein sollte. Sie spürte vor allem den Stoß, der von ihrem rechten Fuß über die Beine, das Becken und die Wirbelsäule bis hinauf in den Nacken jagte, während der Werkzeugkasten gegen das Armaturenbrett knallte.
»Sorry!«, sagte sie kleinlaut. Sie merkte, wie Moyra sich zusammenriss, jetzt keinen Vortrag über Schlaglöcher zu halten. Der schlechte Zustand vieler Leipziger Straßen war ein Thema, das sie immer wieder ansprach. Aber es war trotzdem nicht ganz klar, ob sie es deshalb tat, weil es für sie tatsächlich ein ernsthaftes Problem darstellte, etwas, das sie stresste, wenn sie, meistens per Fahrrad, in der Stadt unterwegs war. Oder weil sie rätselte, weshalb viele Straßen dreißig Jahre nach der Wende noch immer so aussahen wie vor dem Mauerfall.
»Hat jemand die Tonnen verrückt?« Moyra lehnte sich aus dem Fenster, während Tess den Transporter vor dem Haus mit der Nummer 5 zum Stehen brachte. Das rot-weiße Flatterband hing nicht mehr so straff wie noch am Vorabend, als sie es zusammen mit einem DIN-A4-Blatt und dem Hinweis >Umzug am 1. April< zwischen zwei Mülltonnen gespannt hatten.
»Hat doch jemand für einen Scherz gehalten«, sagte Tess. »Wie ich's befürchtet habe.«
Moyra ging nicht darauf ein. »Der blaue Twingo stand gestern noch nicht da«, stellte sie fest.
»Stimmt.« Tess regte sich, anders als Moyra, jetzt nicht darüber auf, dass irgendjemand seinen Kleinwagen in einen Teil ihrer Parklücke gestellt hatte. Denn erstens hatten sie sich bewusst dagegen entschieden, kostenpflichtige Parkverbotsschilder beim Ordnungsamt zu beantragen. Und zweitens kam es ganz gelegen, dass Moyras Wut sich nun nicht mehr gegen sie und ihren, wie sie selbst immer sagte, >robusten< Fahrstil richtete, sondern gegen den unbekannten Besitzer oder die unbekannte Besitzerin des Twingos, dessen hellblauer Lack schadenfroh in der Frühlingssonne glänzte.
»Was machen wir jetzt?« Moyra betrachtete die Parklücke.
»Geht auch so.« Tess bewegte ihre Hand zum Schaltknüppel.
»Sicher?«
Sie war sich - ehrlich gesagt - nicht ganz sicher. Aber es war nun mal eine Top-Gelegenheit, den heftigen Stoß, der nicht nur sie, sondern sehr hörbar auch die Kisten und Möbel im Laderaum durchgerüttelt hatte, durch ein Eins-a-Einparkmanöver vergessen zu machen.
Moyras Stirnfalten spornten sie an. Sie sparte sich den Hinweis, dass nicht sie diejenige gewesen war, die eine offizielle Absperrung als »reine Geldverschwendung« bezeichnet hatte, und warf Moyra einen Blick zu, der so zuversichtlich war, wie er nur sein konnte.
Keine zwei Minuten später sprang sie mit einem Grinsen vom Fahrersitz.
»Alle Achtung, Tessi!« Moyra drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.
Vom Ende der Straße näherten sich die anderen, die den Weg von Tess' alter Wohnung per Fahrrad zurückgelegt hatten.
»Sehr schick!«, sagte Fabian. Er lehnte sein Rad an die Hauswand und schaute die beigefarbene Fassade empor. »Wie seid ihr denn da rangekommen?«
Tess öffnete die Türen zur Ladefläche, verbarg ihr Schmunzeln. Sie wusste, was jetzt kam.
»Wir hätten auch nicht gedacht, im Zentrum zu laden«, fing Moyra an. Wie so oft in letzter Zeit, wenn jemand danach fragte, holte sie zu einer ganzen Reihe weiterer Erklärungen aus, die in Tess' Ohren allesamt wie Entschuldigungen klangen: dass sie ohne den Hinweis einer Kollegin, die mit der Vormieterin befreundet ist, niemals von der Wohnung erfahren hätten; dass das Haus in privater Hand und die Miete wirklich ein Witz im Vergleich zu dem sei, was sonst inzwischen in der Gegend verlangt würde; dass sie von hier aus schnell zum Bahnhof kämen.
»Ist es dir peinlich, hier zu wohnen?«, hatte sie Moyra neulich gefragt.
»Es ist mir nicht peinlich. Ich find's super!«
»Okay. Und warum erläuterst du dann immer ellenlang die genauen Umstände?«
»Ich erzähle ja nur, wie wir die Wohnung gefunden haben.«
Tess versuchte, sich damit zufriedenzugeben. Trotzdem empfand sie die Äußerungen als Schmälerung dessen, was für sie rundum einen Triumph darstellte: in einer Altbauwohnung in zentraler Lage zu wohnen, mit drei Zimmern, hellem Dielenboden, hohen Fenstern und einem schattigen Hof mit gemeinschaftlich genutztem Garten. Dazu kam - und das war aus ihrer Sicht das Beste - ein Ladenlokal unten im Haus, in dem sie nach all den Jahren schlecht bezahlter, fremdbestimmter Arbeit ihre erste Maßschneiderei einrichten würde.
Sie inspizierte den Laderaum. »Sieht nicht so aus, als wäre was kaputt gegangen«, sagte sie zu Moyra gewandt. Sie griff nach einer Kiste.
In der Wohnung roch es nach dem frisch getrockneten Polarweiß, das sie auf die tapetenlosen Wände gestrichen hatten. Sie stellte die Kiste im Wohnzimmer ab und ging zum Fenster. Moyra stand noch immer mit den anderen vorm Haus. Die Sonne schien auf ihr Haar. Tess wollte sie am liebsten nach oben rufen, um noch einmal kurz mit ihr allein zu sein, die leere Wohnung zu genießen, bevor die Möbel und andere Einrichtungsgegenstände sie füllten. Es fühlte sich so gut an, ihre Beziehung, die durch das Wohnen an unterschiedlichen Orten bisher immer noch etwas halbgar gewesen war, in etwas Fertiges zu verwandeln.
Sie sprang die Treppe hinunter, nahm jeweils zwei Stufen auf einmal, rief Fabian und Anna zu, dass sie die Kommode ins Schlafzimmer bringen sollten.
»Läuft«, sagte sie zu Moyra und legte ihr die Hände auf die Schultern.
Moyra reagierte nicht. Sie hockte neben einem Stuhl, verrenkte ihren Kopf, um unter die Sitzfläche schauen zu können. Sie sah aus wie eine Automechanikerin, die einen Unterboden inspizierte.
»Scheiße, Tess!«, sagte sie, als sie wieder auftauchte.
»Was ist?«
Moyra griff nach der Sitzschale, bog sie zur Seite. Die Verankerung am Standbein schien beschädigt zu sein. »So viel zum Thema >Sieht nicht so aus, als wäre was kaputt gegangen<.«
»Fuck«, murmelte Tess. Sie lehnte sich an die Hauswand.
*
Vor fünf Monaten war sie dem Stuhl zum ersten Mal begegnet, an einem Samstagnachmittag in Berlin. Die Stadt lag unter der üblichen Decke aus Novembergrau. Sie hatten die Nacht nicht in Moyras Einzimmerwohnung im Wedding, sondern um die Ecke vom Rosenthaler Platz in der Maisonette von Nick verbracht. Moyra kannte Nick seit dem Studium. Sie hatten nicht das Gleiche studiert, aber das gleiche Stipendium erhalten. Und Nick hatte nicht den Weg in die Wissenschaft, sondern in eine Großkanzlei eingeschlagen.
»Also das war mindestens finanziell die richtige Entscheidung«, sagte Moyra, während sie im Wohnzimmer seine Plattensammlung durchstöberte. »Der Junge hat einfach so viel Geld.«
Tess bezweifelte das nicht. Und trotzdem stieß sie sich daran, dass Moyra ihre Wohnung für eine Woche an eine Australierin untervermietete, die für eine Tagung und ein wenig Sightseeing in der Stadt war, und zwar zu einem Preis, der deutlich über der Monatsmiete lag, während sie - kostenlos - Nicks Wohnung nutzten.
»Was stört dich daran?«, fragte Moyra und zog eine Dylan-Platte aus der Papphülle. »Die bekommt ihre Übernachtungskosten von der Uni erstattet, und Nick ist in Zürich. Die Wohnung wäre also sowieso leer gewesen. Hätte er was dagegen gehabt, hätte er mir die Schlüssel nicht gegeben, oder?«
Tess streifte durch die Wohnung. Sie war geräumig, sauber und, besonders im Vergleich zu Moyras dunklem Hinterhofloch, sehr hell. Aber bei jedem Schritt und jedem Griff hatte sie Angst, etwas kaputtzumachen: die mundgeblasene spanische Vase, die auf dem Boden stand; die verchromte Siebträgermaschine in der Küche, mit der sie gar nicht erst versuchen würde, einen Kaffee zuzubereiten; die Weißweingläser, von denen Moyra behauptete, eines allein koste mehr als der für ihre Verhältnisse sehr teure Chardonnay, den sie nun auf dem Sofa tranken, während Don't Think Twice, It's All Right lief.
Moyra hatte die Beine vor der Brust angewinkelt und rutschte näher, um ihre Hand in Tess Nacken zu legen.
Tess spürte das sanfte Kraulen auf ihrer Haut. Es war klar, was Moyra vorschwebte, um die anderthalb Stunden bis zum Abendessen, für das sie einen Tisch in einer neuen Ramen-Bar ergattert hatten, auszufüllen.
Sie legte ihr die Hand aufs Knie. »Tut mir leid, Mo, aber ich bin irgendwie nicht in Stimmung. Wenn du willst, könnte ich zumindest .«
Moyra schüttelte den Kopf und rutschte von ihr weg.
Tess wollte ihre Unlust auf Nicks Wohnung schieben, auf die...
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