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Kapitel 2
Welcher Zusammenhang besteht zwischen Autorität und Gehorsam?
Stromschläge als Motivationshilfe
(Stanley Milgram)
Episode 2
Wenn Frau Bergmann morgens in das gemeinsame Großraumbüro ihres Online-Vertriebsteams tritt, ist sie immer wieder überrascht, wie es ihre Chefin schafft, die Beschäftigten dazu zu bringen, am Telefon das jeweils anzupreisende Produkt fast schon irreführend positiv darzustellen und dazu noch die maximale Preisbereitschaft der Kunden abzurufen.
Offensichtlich gelingt ihr das mit einer Mischung aus materiellen Versprechungen (zum Beispiel Boni für die erfolgsreichste Verkäuferin des Monats) - sowie auch mit einer obskuren, »halboffiziellen Kündigungsliste« als latenter Drohung für alle diejenigen, die dauerhaft »unterperformen«. Die Frage ist nur: Warum lassen sich das alle Verkäuferinnen widerspruchslos gefallen? In ihrem Privatleben agieren diese Frauen meist ganz anders; irgendwie anständiger und reflektierter. Ist es nur die Furcht vor der Chefin oder dem Verlust des Arbeitsplatzes? Schlichte Bequemlichkeit? Warum bloß fällt allen der Widerspruch und das persönliche Zuwiderhandeln so schwer?
26I. Aufbau und Ablauf des Gehorsams-Experiments
In den Organisationen unserer Gesellschaft gibt es erstaunlich viele Mitläufer. Nicht alle sind so harmlos, wie es auf den ersten Blick scheint. Im Gegenteil: Die Spannweite reicht vom unreflektierten Mitläufer bis zum gern beteiligten Mittäter. Wer die »dunkle Seite« des Menschen, zu der wohl auch sein latenter Folgetrieb zählt, verstehen möchte, der kann ein klassisches Experiment dazu finden - nämlich jenes von Stanley Milgram (geb. 1933, gest. 1984 in New York). Er war damals 27 Jahre alt und Assistenzprofessor für Psychologie an der Yale University. Seine Experimente wurden in den Jahren 1961 und 1962 durchgeführt und erstmals 1974 bzw. 1982 auf deutsch veröffentlicht. Sie zeigen: Ein Großteil der »Durchschnittsbevölkerung« kann, wie Milgram es selbst ausdrückte, »durch eine pseudo-wissenschaftliche Autorität dazu gebracht werden, in bedingungslosem Gehorsam einen ihr völlig unbekannten, unschuldigen Menschen zu quälen« (vgl. Geleitwort zu Milgram, 1982).
Milgram wurde - wie sein akademischer Lehrer, der polnisch-amerikanische Gestaltpsychologe Solomon Asch (1907-1996) - zu einem Pionier bei der Erforschung von Autoritätseffekten und Konformitätsdruck. Und dies eben inspiriert durch ein Verhaltensexperiment seines Lehrers: Asch zeigte einer Gruppe von Studenten Bilder mit unterschiedlich langen Senkrechtstrichen. Die Gruppe sollte Person für Person den längsten (alternativ auch mal kürzesten) Strich benennen. Aschs Ausgangsfrage war: Wie lässt sich nachweisen, dass Menschen durch Normeneinfluss von Mehrheiten konform handeln, um dadurch gemocht oder akzeptiert zu werden?
Das Experiment war wie folgt aufgebaut: sechs bis acht Studierende, halbkreisförmig im Raum angeordnet (heißt: jeder konnte alle anderen und deren Reaktionen sehen). Ein Student ist uneingeweiht, also der Proband, während der Rest Teil der Versuchsanordnung ist. Drei Durchgänge lang geben alle die korrekte Längenschätzung ab; ab dem vierten Durchgang treffen die (von Asch eingeweihten) Teilnehmer absichtliche Falschurteile. Es entsteht nun natürlich Unglauben und Unbehagen bei den uneingeweihten Teilnehmern. Wie aber reagieren diese darauf? Interessant: 50-80 % votierten, obwohl sie sicher waren, die Strichlängen korrekt wahrzunehmen, mindestens einmal konform mit der Mehrheitsmeinung. 33 % schlossen sich trotz »sicherer« eigener Inaugenscheinnahme in mindestens der Hälfte der Fälle der Mehrheit an. Und lediglich ein Viertel blieb fest bei seinem Urteil. Das bedeutet 27letztlich: Ein Drittel der Menschen sind reine Mitläufer! Oder später in Milgrams Worten: »Das Wesen des Gehorsams drückt sich in der Tatsache aus, dass ein Mensch dahin kommt, sich selbst als Werkzeug zu verstehen, das den Willen eines anderen Menschen ausführt, und sich selbst nicht mehr als verantwortlich anzusehen für das eigene Handeln« (1982, S. 11). Dazu käme noch die Tendenz, »so stark in den engen technischen Aspekten einer Aufgabe aufzugehen, dass man den Überblick über die umfassenderen Konsequenzen verliert« (Milgram, 1982, S. 24).
Weitere Erkenntnisse - nun wieder bei Salomon Asch: Es kommt durchaus auf die konkrete Versuchsanordnung an. Gab man dem Teilnehmer einen »Verbündeten«, der ebenfalls gegen die Majorität korrekt antwortete, dann verringerte sich die Konformität der Probanden merklich (Stichwort Noelle-Neumann: Schweigespirale!). Auch die Größe des Linienunterschieds spielte eine Rolle. Allerdings: Ein gewisser Anteil gab selbst bei den extremsten Stimulus-Diskrepanzen der Gruppe nach, war also letztlich bereit, offensichtliche Nonsens-Urteile mitzutragen bzw. auf schon abstruse Weise die eigene Beurteilung der Lage im Interesse des Gruppengleichklangs zu verleugnen. Milgram muss dieses Treiben als junger Doktorand mit Staunen registriert haben. Seine daraufhin entstandene Idee, die menschliche Gehorsamsneigung näher zu untersuchen, führte zu dem nun eigentlich zu beschreibenden Experiment. Es ist weltberühmt geworden. Schon der Versuchsaufbau ist beeindruckend durchdacht.
Für sein Experiment rekrutierte Milgram etwa einhundert Männer aus New Haven. Er schaltete eine Zeitungsannonce, in der Personen für eine Untersuchung über Gedächtnisleistungen gesucht wurden und die den Mitwirkenden eine Zahlung von 4 Dollar und 50 Cents Fahrtkosten für eine Stunde Ihrer Zeit anbot (zum methodischen Vorgehen vgl. Milgram, 1982, S. 30ff.). Er wollte dabei ein großes Spektrum sozialer Schichten zur Auswahl haben. Die Teilnehmer wurden anschließend für die gesamte Dauer des Experiments in dem Glauben gelassen, dass sie an einer wissenschaftlichen Studie über die positiven Wirkungen von Strafen auf die menschliche Gedächtnisleistung und den individuellen Lernerfolg teilnähmen (vgl. Slater, 2018).
Der Ablauf des Experiments war so angelegt, dass es für die Probanden den Anschein hatte, dass zwei Freiwillige gleichzeitig eingeladen waren, denen eingangs per Losentscheid entweder die Rolle des »Lehrers« oder des »Schülers« zugeteilt wurde. Tatsächlich war jedoch nur einer der beiden ein echter Proband - nämlich der Lehrer. Die zweite 28Person war hingegen ein angestellter Schauspieler, der per manipuliertem Losentscheid stets die Rolle des Schülers zugewiesen bekam. Dieser Schüler wurde dann in einem Nebenraum, der durch eine Glasscheibe gut einzusehen und auch noch per Mikrophon mit dem Hauptraum verbunden war, auf eine Art elektrischen Stuhl festgeschnallt. Er sah sich hier, mit Elektroden verbunden, an einen Shock-Generator vom Typ ZLB angeschlossen. Auch dessen fiktiver Hersteller war sichtbar - die Dyson Instrument Company. Output 50 Volts bis 450 Volts war als furchteinflößende Bezeichnung auf dem offen angebrachten Typenschild zu lesen. Auf diesem Schockgenerator befand sich eine Instrumententafel mit insgesamt dreißig Kippschaltern. Diese Schalter waren aufsteigend angeordnet und gingen von 15 Volt (leichter Schock) über mittleren und schweren Schock hinauf bis zu einer tödlichen Voltstärke von 450 Volt (vgl. Kuhn/Weibler, 2020).
Die Funktion des Lehrers - also des eigentlichen Probanden - war es nun, dem Schüler diverse Wortpaare vorzulesen (zum Beispiel Himmel - blau, Auto - schnell, Hut - grün) und nach einer Pause abzufragen. Bei einem Erinnerungsfehler wurden dann mit dem Schock-Generator gezielte Stromschläge verabreicht. Diese erfolgten immer dann, wenn der Schüler sich nicht an den zweiten Teil des Wortpaares erinnern konnte. Der Lehrer (L) könne auf diese Weise, so wurde von der Versuchsleitung (V) zumindest behauptet, die Anstrengungsbereitschaft der Schüler (S) schrittweise erhöhen.
Abb. 2.1 Die klassische Aufstellungsvariante (Darstellung nach Milgram, 1982)
Wichtig dabei: Die Höhe der Stromschläge wurde nach jedem Fehler des Schülers jeweils in 15 Volt-Stufen gesteigert - beginnend mit 15 Volt 29als niedrigster Stufe bis hin zu potentiell 450 Volt als höchstmöglicher Stufe bei allzu häufigen Gedächtnisaussetzern. Für den Verlauf des Experiments ergab sich somit, dass der Schüler in der subjektiven Wahrnehmung des Lehrers immer höheren Stromschlägen ausgesetzt war, auf die der »Schüler-Schauspieler« entsprechend lautstark reagierte. Ebenfalls wichtig: Den Probanden war bereits vor dem Beginn des Experiments ein unangenehmer 45-Volt-Schock verabreicht worden, so dass sie selbst einschätzen konnten, wie sich ihre Strafzuteilung für den Schüler anfühlte.
Tatsächlich aber floss zu keiner Zeit Strom, der Shock-Generator war eine reine Attrappe! Gleichwohl reagierte der Schüler bei Fehlern weisungsgemäß auf seine Bestrafung. So teilte er dem mit ihm im Hauptraum sitzenden Lehrer nach dem »fälligen« 120-Volt-Schock über die vorhandene Gegensprechanlage mit, dass dieser Stromschock doch recht schmerzhaft sei. Beim irgendwann fälligen 150-Volt-Schock weigerte er sich dann, weiterzumachen und forderte nachdrücklich, losgeschnallt zu werden. Der anwesende Versuchsleiter lehnte dieses Ansinnen in jedem einzelnen Experiment konsequent ab (O-Ton an den Lehrer: »Bitte fahren Sie fort«, heißt: ich übernehme die volle Verantwortung).
Das Experiment nimmt unterdessen seinen Lauf. Bei 270 Volt bricht der Schüler in »qualvolles Schreien« aus und verweigerte jede weitere Antwort. Daraufhin fordert der Versuchsleiter den Lehrer auf, keine Antwort wie eine falsche...