Schweitzer Fachinformationen
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Mit Koffer nach Stuttgart
Sonnenstrahlen wecken mich. Es ist fast 14 Uhr. Ganz vorsichtig mache ich erst mal ein Auge auf, aber auch blitzschnell wieder zu. Mein Nachtschrank sieht aus wie eine Kellerbar. Leere Chipstüten, drei leere Piccolofläschchen, zwei leere Wasserflaschen und vier verklebte Gläser, die sich in den letzten Tagen hier angesammelt haben. Erstaunt stelle ich fest, dass die Gläser Wasserflecken in Anordnung der Olympiaringe auf meinem Nachtschrank hinterlassen haben. Wenn ich prominent wäre und eine Putzfrau hätte, würde sie bestimmt jede Menge Fotos von dem Chaos in meinem Haus machen und sie an eine Zeitung verkaufen. Gott sei Dank bin ich normal. Dafür muss ich allerdings meinen Müll auch selbst wegräumen. Prominenten-Putzfrau zu sein ist bestimmt ein ganz interessanter Beruf. Und aufregend.
Blitzartig fallen mir sofort zehn Promis ein, bei denen ich gerne mal saubermachen würde. Aber wahrscheinlich würde ich nach drei Tagen achtkantig rausfliegen, weil ich nur Sherlock Holmes gespielt hätte und die Bude immer noch dreckig wäre. Na ja.
Beim Gedanken daran, dass ich aufräumen müsste, drehe ich mich auf die Seite und nicke wieder ein.
Meine Augen wollen nicht aufgehen. Der Fernseher lief die ganze Nacht. Jemand redet. Ich bin irgendwie immer noch im Halbschlaf und höre ein Interview mit Karl Lagerfeld. Hat eigentlich schon jemals einer verstanden, was er sagt? Ich meine, auch sinngemäß? Ich nicht. Nur Wortsalat. Vielleicht ist er als kleines Kind mal in die Textilfarbe gefallen. Ich kann ihn nicht wegschalten, die Fernbedienung ist weg.
Heute habe ich es Karl Lagerfeld zu verdanken, dass ich schon auf den Beinen bin. Wenn die Fernbedienung nicht zu mir kommt, muss ich eben zum Fernseher. Ich ziehe den Stecker. Karl ist jetzt ruhig.
Heute ist Montag. Montags bleibt die Bar geschlossen. Und in dieser Woche öffne ich überhaupt nicht. Wegen Straßenbauarbeiten gar nicht; der Bürgersteig wird aufgerissen. Etwas Urlaub ist ja auch mal ganz nett. Wie lange ist der letzte überhaupt schon her? Mein Kühlschrank ist so leer, dass ich eigentlich die Gelegenheit nutzen und ihn mal auswischen könnte. Aber ich habe heute frei. Vielleicht morgen, denke ich. Thema vertagt. Heute trinke ich meinen Kaffee mal wieder ganz normal zu Hause am Tisch. Genau genommen am Schreibtisch. Internet an und ab zur Seite des Autohändlers, auf der ich das Auto entdeckt habe, das bald mir gehören wird.
Den Wagen habe ich schon letzte Woche telefonisch reserviert und sehe mir jetzt aus Vorfreude noch einmal die Bilder an. Am Mittwoch hole ich das Schätzchen in Stuttgart ab, was sechshundertdreiunddreißig Kilometer von meinem Wohnort entfernt ist, nur weil ich es nicht abwarten konnte, ein solches Auto in der Nähe zu finden.
Meine Ungeduld ist ein weiteres Defizit. Aber ich bin auch in diesem Fall nicht streng mit mir, schließlich war ich noch nie in Stuttgart.
Meine Abflugzeit in Berlin ist 8.30 Uhr und mein Weg zum Flughafen dauert eine knappe halbe Stunde. Vielleicht mache ich dann im Taxi noch kurz die Augen zu, denn um sechs Uhr morgens aus den Federn zu kommen gehört ebenfalls nicht gerade zu meinen Stärken.
Endlich ist Mittwoch. Verschlafen falle ich aus dem Bett. Mein Taxi ist da. Der Sommer scheint uns verlassen zu haben. Es ist kalt. Auf den Kaffee muss ich heute verzichten, obwohl ich kein Problem damit hätte, auch ins Taxi mit einer Tasse einzusteigen. Der Taxifahrer wahrscheinlich schon, und der muss eh schon genug Geduld aufbringen.
Zweimal muss ich, meiner Vergesslichkeit wegen, noch ins Haus zurück. Ein drittes Mal, weil ich, wie schon erwähnt, keine Handtasche besitze und deshalb alles in den Taschen meiner Jacke verstaut habe, die irgendwann prall wie Dolly Buster waren. Leider auf Hüfthöhe.
Reisepass, Handy, Geldbündel, Taschentücher, Kleingeld, mein Schlüsselbund mit dreißig Schlüsseln, zu denen es teilweise gar nicht mehr die Schlösser gibt. Die zwei riesigen Beulen in der Jacke sehen aber wirklich nicht toll aus. Ich muss also etwas Ähnliches wie eine Tasche oder einen Rucksack finden. Ich mache mich auf die Suche, obwohl ich derartige Behältnisse längst entsorgt habe oder gar nicht erst besitze. Mit einer Plastiktüte will ich auch nicht abfliegen. Ich finde auf die Schnelle nichts - außer einem alten blauen Plastik-Reisekoffer. Er ist riesig. Wem gehört der eigentlich? Wer hat ihn hier vergessen? Spontan sehe ich vor mir die Gesichter meiner Ex-Freunde wie in einem Film auftauchen. Ich hab keine Ahnung, wie er hierher kommt. Egal. Ich habe auch keine Zeit, weiter darüber nachzudenken.
Jetzt liegen die Dinge, die meine Jackentaschen ausgebeult haben, in einem großen Reisekoffer, wie ihn üblicherweise Urlaubsreisende mit sich tragen. Natürlich ist alles lose und klappert etwas, der Koffer ist ja fast leer.
»Los jetzt!«, feuere ich mich selbst an. Ich will die Nerven des Fahrers nicht länger strapazieren, denn die Zeit wird deutlich knapp.
Der Taxifahrer verstaut meinen Koffer im Kofferraum. Zum ersten Mal ergibt das Wort Kofferraum für mich einen Sinn. In meinem Kofferraum rollen immer nur Lebensmittel durch die Gegend, die ich im Supermarkt eingekauft habe.
Ich sitze hinten. Im Rückspiegel kann ich das Gesicht des Taxifahrers sehen. Er erinnert mich irgendwie an meinen Fahrschullehrer, der meine Übungsstrecken immer perfekt vorgeplant hat, oder sagen wir besser, nicht er, sondern seine Frau: Reinigung, Kaufland, Baumarkt, Gartenmarkt, Schuster, Apotheke. Wir haben alle Punkte angefahren, die auf seiner Liste standen. Immer sagte er: »Fräulein Rosenbach, ich bin in zwei Minuten wieder da.«
Wenn ich alle dieser besagten zwei Minuten zusammenrechnete, könnte ich locker vier Doppelstunden nachfordern. Das war mir schon damals klar. Besonders wenn ich bedenke, dass »Miss Fahrschullehrerin« von Beruf Hausfrau war und alle Zeit der Welt hatte, ihren Allerwertesten selbst in die Apotheke zu bewegen. Aus diesem Grund habe ich meinem Fahrschullehrer bei der Suche nach dem passenden Geburtstagsgeschenk für seine Frau auch großzügig meine Hilfe angeboten. Ich habe ihm zu sexy Unterwäsche als Präsent geraten. Und als wir in der Wäsche-Boutique standen, die sexy Spitzenwäsche wieder aus der Hand genommen und sie gegen einen vierundvierzig Euro teuren Baumwollschlüpfer eingetauscht, der einen extrem flachen Bauch machen soll.
»Die sollen wirklich funktionieren. Leistet sich 'ne Frau auch nicht jeden Tag bei dem Preis«, versicherte ich ihm. »Vielleicht noch ein kleines Beauty-Paket dazu, oder ist das Limit vom Preis her schon erreicht? Da würde sie sich bestimmt drüber freuen.«
»Sicher, aber davon habe ich keine Ahnung. Machen Sie das für mich?«
Natürlich hab ich das für ihn gemacht. Liebevoll habe ich ein kleines Körbchen für einen entspannten Beauty-Tag zusammengestellt und alles ordentlich in Folie gepackt. Billigparfüm, damit sie schön stinkt wie eine russische Hafennutte, Rosskastaniencreme, Anti-Cellulite-Creme, Faltencreme, Hornhautraspel, ein Präparat als Vorbeugung von Altersflecken, ja sogar den Werbeprospekt vom Fitnessstudio aus der Wurfzeitung, die jeden Mittwoch kommt, habe ich kunstvoll mit eingebunden. Schleife dran. Fertig. Ein Wunder, dass ich meine Fahrschulprüfung bestanden habe.
Ich bin am Flughafen. Der Abfertigungsschalter für meinen Flug befindet sich natürlich am anderen Ende des Terminals. Ich kämpfe mich mit meinem Koffer durch den Gang, vorbei an hektischen Menschen, Gepäckwagen, Stewardessen mit Koffer-Trolleys und Muttis mit Kinderwagen. Wenigstens ist mein Koffer leicht, denn die Chancen auf einen Gepäckwagen stehen nicht gut, weit und breit ist keiner zu sehen.
Handy, Pass und Ticket hole ich nun aus dem Koffer. Es sind nur noch ein paar Meter bis zum Schalter und ich kann jetzt schon deutlich sehen, dass ich Wartezeit mitbringen muss. Vor mir stehen zirka vierzig Personen in Doppelreihe in der Schlange. Es geht einfach nicht vorwärts. Ich starre auf die Marmorfliesen auf dem Boden und auf meine ungeputzten Schuhe. Ich könnte mir auch mal wieder ein Paar neue leisten. Das habe ich letztes Jahr schon zu mir gesagt, erinnere ich mich. Schön sehen sie wirklich nicht mehr aus, aber sie sind so bequem. Und wer sieht in dem Gedränge schon auf meine Schuhe? Nur ich - aus Langeweile.
Ein riesiger schwarzer Lackschuh gerät in mein Blickfeld. Während ich versuche, die Größe zu erraten, frage ich mich, ob Lackschuhe überhaupt noch modern sind. Soll man die wirklich mit der Innenseite einer Bananenschale polieren? Das hab ich mal irgendwo gehört oder gelesen. Neben diesem Lackschuh sehen meine Schuhe noch ungepflegter aus. Das gefällt mir nicht. Der Träger der Lackschuhe hätte sich auch weiter hinten anstellen können. Langsam merke ich, wie sehr mir der Kaffee fehlt. Allmählich schiebt sich die Schlange weiter und weiter Richtung Schalter. Herr Lackschuh ist immer dicht hinter mir. Ich sehe weiter nach unten und erkenne ein Stück schwarzen Hosensaum auf dem Schuh und die Ecke seiner Notebook-Tasche, die immer wieder in mein Blickfeld schwingt. Notebook-Tasche! Das wäre es doch gewesen! Und ich habe sogar eine Tasche für mein Notebook. Aber nein, ich verreise natürlich mit vier Kleinteilen im Reisekoffer, nur weil ich nicht schon einen Abend vor Abflug gepackt habe, wie andere Leute es tun. Aber es gab ja auch nichts zu packen. Ich fahre schließlich nicht in den Urlaub.
Geschafft! Jetzt bin ich dran. Die Dame am Schalter kommt mir vor wie eine Maschine. »Reisen Sie allein? Ihre Buchungsbestätigung bitte! Ihren Ausweis oder Reisepass bitte!« Alles mit monotoner Stimme. Sie sieht eher wie eine russische Gemüseverkäuferin...
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