Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
FRIEDERIKES VATER, bei ihrer Geburt einundvierzig Jahre alt, ist Rechtsgelehrter. Er hat in Straßburg und Leipzig studiert, ein weit gereister Mann. Er entstammt einer begüterten Kürschnerfamilie. Schon sein Großvater Fabian, der um 1600 als wandernder Geselle aus der pommerschen Handelsstadt Stettin nach Zwickau gekommen war, hatte als Kürschnermeister die Bürgerrechte und ein großes Haus erworben.
Auch Mutter Anna Rosine, geborene Wilhelm, viele Jahre jünger als ihr Mann, kommt aus gutbürgerlichem Hause. Ihr Geburtsdatum ist unbekannt, als Jahr ihrer Eheschließung mit Weißenborn wird 1691 oder 1696 angenommen. Ihr Vater Johann Heinrich Wilhelm war in jungen Jahren Notar. Nun ist er Hochgräflich Reuß-Plausischer Gutsverwalter zu Rothenthal bei Greiz, einer kleinen Residenzstadt nur wenige Meilen von Reichenbach.
Seit 1692 lebt Daniel Weißenborn als Gerichtsinspektor in Reichenbach. Der Ort im Vogtland ist mit seinen zweitausendsechshundert Einwohnern keine große Stadt, aber doch von Bedeutung. Der Tuchhandel blüht, die Geschäfte gehen weit. Bis nach Hamburg, nach München und ins Schwäbische, in die österreichischen Erblande und in die Kurpfalz. Wichtige Verkehrsstraßen kreuzen sich hier, und der Handel bringt Nachrichten aus der weiten Welt. Dass in Leipzig ein Gesangbuch gedruckt wird mit fünftausend Liedern. Dass in den Städten Europas die Reichen sich neuerdings in überdachten Sesseln, Sänften genannt, von Dienern umhertragen lassen. Oder dass man in England die Salzsteuer verdoppelt hat und dass der russische Zar, der junge Peter I., in den Niederlanden das Schiffszimmern erlernen soll. Der Zar als Zimmermann? Eine unglaubliche Geschichte.
Die Welt, in die Friederike hineingeboren wird, ist im Aufbruch. Mitteleuropa erholt sich von den Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges. Deutschland oder besser: die deutschen Lande sind durch die Vereinbarungen des «Westfälischen Friedens» anno 1648 ein Flickenteppich auf der Landkarte. Hunderte von Territorialstaaten, selbständige Herrschaftsgebiete, manche nicht größer als ein Bauerngut, bilden das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Wer zum Beispiel den ganzen Rhein hinunterreisen will, muss zweiunddreißigmal die als Zollschranke dienende Eisenkette über dem Fluss lösen und seine Waren von den strengen Zöllnern kontrollieren lassen. Auch Maße und Gewichte sind in fast jedem Herrschaftsgebiet anders. Der Scheffel, ein Getreidemaß, bedeutete in der kleinen Grafschaft Hoya 14,6 Liter, im Herzogtum Lüneburg hingegen 124,6 Liter. Immerhin gibt es überall in den deutschen Ländern den Taler, aber auch das sagt nicht viel. Der Wert ist unterschiedlich, und in Hannover zum Beispiel wird er in Schillinge, in Lüneburg in Groschen und in Oldenburg in Mariengroschen unterteilt. Eine Reise ist ein kompliziertes Unternehmen.
Die Gesellschaft ist fest in Stände eingeteilt, die den Menschen ihren Platz in der Welt unverrückbar zuweisen. Noch herrschen die Fürsten uneingeschränkt, absolut. Aber die Kaufleute und Handwerksmeister in den Städten, als Bürger nach Adel und Geistlichkeit der aufstrebende Stand, werden durch die wieder erblühende Wirtschaft reich und bedeutend. Mit wachsendem Selbstbewusstsein wird das Bürgertum in den kommenden Jahrzehnten endgültig und unaufhaltsam auch zum Motor und Träger des Geisteslebens werden. Fast ein Jahrhundert noch, bis der Sturm auf die Bastille von Paris die große, blutige Revolution in Frankreich einleitet.
Das Geburtshaus (rechts) von F.C. Neuber in Reichenbach 1837, wie es nach dem Stadtbrand 1833 wieder aufgebaut wurde.
Jetzt, um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert, ist der barocke französische Adel für die europäischen Fürsten, Grafen, Herzöge und ihre Satelliten in allem Vorbild. Die Bürger eifern zumindest der pompösen Mode nach. Nur für das «einfache Volk», etwa neunzig Prozent der Menschen, hat sich das Leben seit dem Mittelalter kaum verändert.
Das gilt auch in Sachsen. August der Starke, seit 1694 Kurfürst und in Friederikes Geburtsjahr auch zum Herrscher des katholischen Königreichs Polen gekrönt, lebt und regiert ebenso wie die anderen Fürsten und Monarchen Zentraleuropas nach dem Vorbild des «Sonnenkönigs»: Ludwig XIV. beherrscht seit fast vierzig Jahren Frankreich, aber sein Einfluss reicht weit über die Grenzen. Sein opulenter barocker Geschmack prägt ein Jahrhundert. Er ist der König der absoluten Macht, der Ausschweifungen und der nicht endenden rauschenden Feste. Die großen und kleinen Höfe Europas bis hinauf ins kalte Stockholm feiern ihm nach. Und wie er pressen sie für die Kosten dieser Pracht ihre Bauern aus: für Paläste und Gärten, für Feuerwerk, Wasserspiele und Statuen aus Marmor, für Goldbrokat und Seide, für den Traum vom Himmel auf Erden und italienische Primadonnen.
Ludwig liebt und fördert die Künste. Seine berühmten Feste lässt er von den größten Künstlern seines Landes ausrichten, unter ihnen Racine, Lully und - vor allem - Jean Baptiste Poquelin, der sich Molière nennt. Der berühmteste Organisator der Versailler Lustbarkeiten und bedeutendste Poet an Ludwigs Hof verändert das französische Theater - und beeinflusst in Friederikes Zeit, Jahrzehnte nach seinem Tod, grundlegend das deutsche.
Es ist ungewiss, wann Friederike seinen spitzen und so gar nicht gottesfürchtigen Meisterwerken zuerst begegnet ist. Sicher nicht in der Bibliothek des Vaters. Die ist zwar groß, ungewöhnlich für diese Zeit, aber nur voller gelehrter Juristerei und Philosophie.
Französische Theaterstücke können nur zu Anna Rosines heimlicher Lektüre gehört haben. Friederikes Mutter liebt - zum Ärger ihres strengen und herrschsüchtigen Ehemanns - die Literatur. Als Daniel Weißenborn ihr die Bücher nimmt, leiht sie sich heimlich Ersatz bei den Nachbarn. Sie spricht gut Französisch, sicher kennt sie Molières bittere Komödien.
Als Friederike fünf Jahre als ist, im Jahre 1702, verlässt die Familie Reichenbach und zieht nach dem nahen Zwickau um. Hier, in seiner Geburtsstadt, lässt sich Daniel Weißenborn als Notar nieder. Friederike ist immer noch das einzige Kind und wird es auch bleiben.
Das Leben in dem reichen dreigiebeligen Haus am Oberen Steinweg 56 ist keine Idylle. Vater Weißenborn ist ein jähzorniger Mann. Als Patriarch ist er unantastbar. Er tobt gegen Frau, Kind und Gesinde, flucht mit wüsten Worten. «Du Canaille», fährt er seine betende Frau an einem Bußtag an, «du wirst dich zum Teufel beten, nicht im Himmel». Oder später, kurz vor ihrem Tod: «Ich muß immer sehen, wenn der Teufel kömmt und deine verdammte Seele aus deinem verfluchten Körper herausreißet.» Er schlägt sie mit der Hundepeitsche, wirft mit dem, was gerade zur Hand ist, nach Frau und Tochter. Mal mit dem großen Stecken, den er stets bei sich trägt, einmal, als Anna Rosine die falsche Haube aufsetzt, mit einem «4pfündigen Hammer»[1]. Dass er diesmal nicht trifft, ist nur Glück.
Anna Rosine stirbt im November 1705, ziemlich plötzlich, und ganz Zwickau flüstert: «Daran ist der Weißenborn schuld.» Doch der Notar ist Herr in seinem Haus: Er kann in seiner Familie tun, was ihm beliebt. Gottvater, Landesvater, Hausvater. Jeder ein Herrscher in seinem Reich. So ist es Brauch in dieser Zeit.
An Anna Rosines frühem Tod ist der Weißenborn schuld! Dieses Gerücht wird viele Jahre lebendig bleiben, obwohl es dafür genauso wenig eine Grundlage gibt wie für ein anderes, das nach Friederikes Geburt auftaucht: Nicht Weißenborn sei der Kindsvater, sondern der hohe Pate selbst, der Adam Friedrich von Metzsch, Erb-, Lehns- und Gerichtsherr der kleinen Grafschaft Reichenbach-Friesen. Der Notar habe nur herhalten müssen damals, damit die Mutter in Ehren verheiratet und versorgt sei. Ob es denn nur ein Zufall sei, dass Weißenborn mit Frau und Kind gerade 1702, im Todesjahr des Adam Friedrich von Metzsch, seine gute Stellung in Reichenbach für eine unsichere Zukunft als Notar in Zwickau verlassen habe? Und habe er nicht oft den Körper seiner Frau verflucht, ihre tiefe Frömmigkeit und Demut verhöhnt? Nicht stets mit seinen Wurfgeschossen vor allem nach dem Gesicht des Kindes gezielt? Letzteres stimmt und ist bezeugt. Die Narbe auf Friederikes Wange, da, wo sein Schlüsselbund sich eines Tages in ihr Fleisch gegraben hat, wird sie ihr Leben lang an das hasserfüllte Wüten des Vaters erinnern. Was kann aus einem Kind werden, das unter solch zorniger, unberechenbarer Herrschaft heranwächst? Ein Duckmäuser. Oder ein Rebell.
Die Tochter ist jetzt mit dem Vater allein. Weißenborn, der Witwer, ist fast fünfzig, oft bettlägerig von der Gicht, und die Geschäfte gehen schlecht. Er hat Schmerzen und Sorgen - sein Regiment wird nun kaum milder gewesen sein. Was tun mit einem achtjährigen Kind? Wäre es ein Sohn, schickte er ihn auf die Lateinschule, dann auf die Universität nach Halle oder Leipzig zum Studium der Rechte oder der Theologie. Aber eine Tochter?
Auch wenn es noch keine Schulpflicht gibt, gehört für ein Mädchen aus dem Bürgertum Bildung zur Standespflicht: Rechnen, Lesen, Schreiben, ein wenig Französisch und feine Manieren. Auch nützliche Künste und genug Wissenschaften, damit es später ein großes Haus zu führen versteht, die Kinder im guten Geiste erziehen kann, dem Gatten eine gehorsame und unterhaltsame Gefährtin wird. Mehr gilt als verderblich. Aber über allem steht die Erziehung zur Frömmigkeit, aus der Gehorsam,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.