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Hamburg, einige Wochen früher, im Juli anno 1650
Der Brief aus Amsterdam erreichte das Haus am Herrengraben an einem freundlichen Sommertag. Die Sonne schien, es war weder zu heiß noch zu kühl, von der Elbe wehte ein leichter Wind, und am blauen Himmel zogen gemütliche weiße Wolken.
Der drei Jahrzehnte währende Krieg war nun endgültig beendet, auch unter den allerletzten zäh ausgehandelten Bedingungen waren die Siegel der Vertreter aller beteiligten Mächte erhärtet. Überall im Reich feierten die Menschen Friedensfeste. So viele Dankgottesdienste und in Licht und Farben explodierende Feuerwerksspektakel hatte es nie zuvor gegeben. Auch in Hamburg wurde ein weiteres prächtiges Freudenfest vorbereitet. Im vergangenen Jahr schon war nur wenige Schritte vom Herrengraben entfernt der Grundstein für ein ganz besonderes Friedensdenkmal gelegt worden: für die eigene Pfarrkirche der Neustadt. Sie sollte nach dem Erzengel Michael benannt werden, dem Bezwinger des Satans, Schutzpatron der Soldaten und des Reichs. Ein teures Denkmal, doch diesmal knauserten die wohlhabenden Bürger nicht. Etliche Kaufleute der großen Hafen- und Handelsstadt hatten zwar besonders gut am Krieg verdient, letztlich versprach jedoch der Frieden Prosperität, Freiheit des Handels und sichere Wege in die Welt.
Womöglich war deshalb der Brief aus Amsterdam gerade in diesen Tagen auf die Reise geschickt worden. Auch die Holländer waren in den Friedensschluss involviert, worüber dort, ganz am westlichen Rand Nordeuropas, allerdings nicht nur Freude herrschte.
Als es gegen Mittag an der Haustür am Herrengraben pochte, sprang Emma van Haaren auf und lief in die Diele. Sie hatte sich brav am neuen Spinett gequält, jede Unterbrechung kam ihr recht. Emma liebte ihre Laute, da der Hausherr jedoch das Spinett vorzog, verstand es sich von selbst, dass seine Stieftochter sich nun auch auf den hellen und dunklen Tasten übte.
Natürlich schickte es sich nicht für eine junge Dame von fast achtzehn Jahren, wie ein ungebärdiger Junge zur Tür zu rennen und dabei Magd oder Diener zuvorzukommen. Das vergaß Emma hin und wieder. Bis sie mit ihrer Mutter in das Ostendorf'sche Haus gezogen war, hatten derlei Nachlässigkeiten niemanden gestört, schon weil es nur eine Hausmagd gegeben hatte, Margret, die stets mit Wichtigerem beschäftigt gewesen war.
Vor der Tür stand ein Hüne, Kleidung und Gesicht waren von Schweiß und Staub geschwärzt, wie nach einem langen, rasanten Ritt über die Landstraßen. Er hielt sein Pferd am Zügel, ein mächtiges Tier, dessen Farbe unter dem eigenen Schweiß und Schmutz kaum zu deuten war. Die Satteltaschen waren prall gefüllt.
«Juffrouw van Haaren?» Seine Stimme klang tief und heiser.
Als Emma nur nickte, reichte er ihr einen Brief aus dickem, mehrfach gefaltetem Papier, umwickelt von einer braunen Kordel und doppelt gesiegelt. Mit energischer, doch akkurater Schrift hatte ihn jemand an Mevrouw Flora Ostendorf und Juffrouw Emma van Haaren, Straat aan de Heerengraben, Hamburg adressiert.
Emma stutzte. Das war Niederländisch. Und woher hatte der Bote gewusst, dass sie das Fräulein van Haaren war? Sie wollte ihn fragen, doch statt auf die Bezahlung zu warten, hatte er sich schon abgewandt und führte sein Pferd die Straße hinunter zum Hafen.
Niemals zuvor hatte Emma einen Brief von jenseits der Wälle bekommen. Vor allem: niemals zuvor aus Holland. Plötzlich war ihr schwindelig, ein bisschen nur, sie war keine, die einfach so in Ohnmacht fiel, aber ein Brief aus Amsterdam - nach all den Jahren? Zu gerne hätte sie das Siegel erbrochen, gleich jetzt, hier vor der Tür. Aber das ging nicht. Zum einen weil ihre Hände zitterten, was es zu verbergen galt, zum anderen weil der Brief zuerst an Flora gerichtet war, an ihre Mutter.
Etwas Eigentümliches geschah. Plötzlich fühlte sie sich wieder klein, wie ein Kind von acht Jahren. Voller Trauer und betäubt von dem, was geschehen war. Damals hatte sie schließlich der Gedanke gerettet, dass ihr Vater, ihr wunderbarer, immer fröhlicher Vater, gar nicht tot war. Er konnte einfach nicht tot sein. Es war nur eine Geschichte, die man ihr erzählt hatte, um sie zu foppen. Ein grausamer Scherz, Erwachsene waren so. Sie wussten oft nicht, ob etwas grausam oder lustig war.
Nun war sie also fast achtzehn Jahre alt und fühlte sich wieder wie das Kind von damals, wollte an eine erschreckende und zugleich beglückende Gewissheit glauben. Der Brief kam aus Amsterdam, aus der Heimatstadt ihres Vaters - also hatte sie recht gehabt. Er war nicht tot. Er war nur verschwunden, damals, irgendwo in den Wirren des Krieges verlorengegangen. Aber er lebte, und nun, endlich, nach all den Jahren, hatte er geschrieben. Für seine Frau kam der Brief zu spät. Flora hieß seit fast einem Jahr Ostendorf. Aber für eine Tochter kommt so ein Brief nie zu spät, und gerade jetzt erreichte er Emma zur allerpassendsten Zeit. Gerade jetzt.
Schon bevor Flora das Siegel erbrach und zu lesen begann, hatte Emma ihre alte Kinderphantasie verscheucht. Sie hatte viel zu oft das Grab ihres Vaters besucht, um wirklich an seinem Tod zu zweifeln, und sie wusste auch, dass unerfüllbare Wünsche zu Träumen werden können, bis man sie eines Tages mit der Wirklichkeit verwechselt. Der Brief aus Amsterdam war nicht von Hanns van Haaren. Natürlich nicht. Ihr Vater war schon vor einem Jahrzehnt nach einem dieser schweren Fieber innerhalb weniger Tage gestorben. Seine Mutter hatte diesen Brief geschickt, die alte Mevrouw van Haaren. Flora und Emma kannten sie und die gesamte Amsterdamer Verwandtschaft Hanns van Haarens nicht - sie hatten diese Ehe nie akzeptiert. Kämen die Zeilen nun tatsächlich aus dem Totenreich, wäre es kaum weniger erstaunlich. Noch überraschender war die Botschaft des Briefes.
Ein Jahrzehnt nach dem Tod ihres «über alles geliebten jüngsten Sohnes Hanns», so schrieb Mevrouw van Haaren, Emmas unbekannte Großmutter, habe Gott ihr die Gnade der Einsicht und Milde geschenkt. Sie bedauere tief - von Reue erwähnte sie nichts -, sich die Freude der Bekanntschaft und kindlichen Liebe ihrer Enkeltochter versagt zu haben. Ihr bleibe nur mehr wenig Zeit auf Erden, um wiedergutzumachen, was sie versäumt habe. Die Fahrt von der Amstel an die Elbe sei für eine alte und von der Gicht geplagte Frau zu beschwerlich. «So bin ich zuversichtlich, das einzige Kind meines unglücklichen jüngsten Sohnes ist gerne bereit, die Mühen der Reise auf sich zu nehmen, um der Mutter ihres Vaters ein wenig Seelenfrieden zu schenken.»
Die üblichen Höflichkeitsfloskeln, die an den Anfang und das Ende eines artigen Briefes gehören, waren ein wenig knapp gehalten, was die Privatheit des Schreibens nur unterstrich.
Im Ostendorf'schen Haus herrschte plötzlich summende Unruhe. Für gewöhnlich ging es dort ruhig zu. Natürlich nicht in Kontor und Speicher, Emmas Stiefvater war in seinen Handelsgeschäften überaus erfolgreich. Es war fraglich, ob diese speziellen Geschäfte mit den großen Gewinnen auch nach dem Friedensschluss in Münster und Osnabrück weiter fließen würden. Erst in diesen Wochen hatten die Mächtigen besonders aus Frankreich, Schweden und dem Deutschen Reich in Nürnberg den Frieden endgültig besiegelt. Ostendorf blickte zuversichtlich in die Zukunft. Seine Verbindungen reichten inzwischen weit und quer durch Europa.
Wie jeder wahrhaftige Christ hatte er für den Frieden gebetet und versäumte keinen Dankgottesdienst, aber er vertraute auf die Menschheit, die es nie lange ohne Krieg aushielt. Hier der Frieden, dort der Krieg. So hielt sich die Welt im Gleichgewicht. Frankreich, dachte er immer, wenn ihn doch eine leichte Ungewissheit bedrängte. Spanien. Und England. Und die Holländer, überhaupt die nördlichen Niederlande? Da drohte noch manches Pulverfass zu explodieren, seit die katholischen Spanier endgültig über die südlichen Niederlande herrschten. Und erst in den überseeischen Kolonien - es gab wirklich keinen Grund zur Sorge um die Prosperität des Ostendorf'schen Handels.
Der Brief der Mevrouw van Haaren erforderte eine baldige Antwort. Doch die Tage gingen ins Land, nun waren es schon fünf, ohne dass Flora zur Feder gegriffen hätte. So sah es jedenfalls für ihren zweiten Ehemann aus. Tatsächlich hatte sie an jedem der vergangenen Tage mit der Feder in der Hand vor einem Bogen guten Papiers gesessen, stets ohne Ergebnis. Es war längst beschlossen, dass Emma so bald wie möglich nach Amsterdam reisen würde. Jedenfalls hatte Friedrich Ostendorf als Stiefvater so entschieden. Er war in dieser Sache einig mit dem Ratsherren Jacobus Engelbach, Emmas Paten und seit dem Tod ihres Vaters ihr Vormund.
Nur Flora schwankte noch. Jeder Mensch sollte seine Familie kennen und sich auf ihren Schutz verlassen dürfen. Emma hatte sich mit der Familie ihrer Mutter begnügen müssen. Die bestand nur aus Floras Eltern, die viele Tagesreisen entfernt im Osten lebten, seit ihr Vater, Professor Reuter, an die Universität Königsberg berufen worden war. Der Brief aus Amsterdam bedeutete für Emma ein großes Glück. Ein Geschenk des Schicksals. Und doch . Eine Mutter sorgte sich immer um ihr Kind, das war ein Gebot der Liebe, aber da war noch ein anderes, ein schwarzes Gefühl in ihr, etwas Bedrohliches, das über die Sorge, Emma könne auf der langen Reise etwas zustoßen, hinausging.
Auch an diesem Tag, sonnig und freundlich wie jener, an dem der Brief angekommen war, drehte sie wieder die Feder in den Händen und haderte mit ihrer Unentschlossenheit. Heute musste sie es tun, sie hatte es versprochen, Ostendorf, ebenso dem lieben...
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