Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Dreimal ist bisher das Grauen in die wohlgehütete Ordnung meines Lebens eingebrochen. Einmal, es war im Sommer 1999, als ich durch die Länder des ehemaligen Jugoslawiens trampte, schoss ein alter Bauer auf mich. Er sah mich an seinem einsam liegenden Hof vorbeiwandern, hob ohne Umschweife ein Jagdgewehr und drückte ab. Die Kugel fuhr vor mir in den staubigen Boden, Kiessplitter wirbelten auf. Das Echo des Schusses hallte lange nach. Ich hob die Hände, und nach vielerlei Erklärungen, dass ich weder ein Tschetnik noch ein ehemaliges Mitglied der JNA sei - mein Pass überzeugte den Bauern letztendlich, dass ich viel zu jung dazu war -, schlossen wir Brüderschaft. Josip tischte mir Pflaumen und Äpfel auf, servierte hausgemachte slawonische Räucherwurst und Mortadella mit Oliven.
Ein weiteres Erlebnis, das meinen Alltag durcheinanderbrachte, geschah noch zu Studienzeiten. Nach einer Ferienwoche, die ich zu Hause bei meinen Eltern verbracht hatte, fand ich die Tür zu meiner Wohngemeinschaft offen vor. Drei Beamte der Berner Stadtpolizei erwarteten mich im Flur, wo sie mich über den Verbleib meines Mitbewohners Walter ausfragten.
»Vermutlich bei seiner Freundin.«
Ich konnte keine exakte Antwort geben, und die Polizisten gaben sich äußerst bedeckt, was den Grund ihrer Ermittlungen anbelangte. Doch dass Walter verschwunden war und seit einigen Tagen polizeilich gesucht wurde, ließ sich zwischen den Zeilen herauslesen. Als sie gingen, nahmen sie alle Zahnbürsten mit. Das war Erklärung genug, dass die Geschichte wohl nicht gut ausgehen würde.
Zwölf Tage später fand man Walters Leiche.
Seine Freundin, Sekretärin beim Inselspital, gab nach einem mehrstündigen Verhör zu Protokoll, sie sehe sich selbst, wie sie eine schwere Last aus jenem Haus trage, in welchem sie mit ihrem Vater wohne. Sie sehe sich selbst, wie sie ein Loch beim Pferdegestüt schaufle. Sie sehe sich selbst, wie sie etwas mit Benzin überschütte und anzünde. Laut den Erkenntnissen der Gerichtsmedizin muss Walter gezielt niedergestreckt worden sein: zwei aufgesetzte Revolverschüsse, einen in den Rücken, einen in den Hinterkopf. Danach wurde er in einem Erdloch verbrannt und verscharrt. Später sprachen die Medien von einem Beziehungsdelikt, die Täterin wurde zu 18 Jahren Haft verurteilt.
Im letzten Beispiel meiner Aufzählung - chronologisch gesehen jedoch im ersten - stehe wiederum ich im Mittelpunkt. Als Schriftsteller, der vorwiegend historische Romane schreibt, weiß ich um die Momente und Phasen, in denen einen der Glaube an das eigene Medium oder das eigene Schaffen verlässt. Was Julius Bentheim, der Protagonist meiner Berlin-Krimis, erlebt oder was ihm angetan wird, mag noch zu spannender und unterhaltsamer Lektüre herhalten, denn er ist erfunden, eine Kunstfigur, mit der ich meiner Leserschaft bieten kann, wonach sie verlangt. Aber ich selbst? Kann ich mich zum Helden des vorliegenden Berichts aufschwingen, ohne den Fabuliergeist zu beschwören, der aus Tatsachen Märchen entstehen lässt? Bemüht man Tschechow als Richter in dieser Angelegenheit, so ist das Verdikt klar: Das geht nicht! Der russische Dichter hasste nämlich Biografien .
Dennoch will ich es versuchen. Wenn auch der Mensch Armin Öhri wenig interessant ist und hinter den farbenfrohen Viten seiner Romanhelden zurücksteht, vermag vielleicht seine Krankheitsgeschichte zu fesseln. Aber sind diese Seiten eigentlich für die Öffentlichkeit bestimmt? Zum Zeitpunkt ihrer Niederschrift bin ich mir darüber noch im Unklaren, und so schreibe ich meine lose Assoziationsfolge einfach weiter.
Irgendwann in der Nacht vom 2. auf den 3. September 1993 erlitt ich eine Hirnblutung, die mich für mehrere Stunden in einen komatösen Zustand fallen ließ. Ich war 15 Jahre, elf Monate und ein paar Tage alt, weshalb der Rettungswagen das Kinderspital St. Gallen anfuhr, statt mich in der Erwachsenenabteilung des Kantonsspitals unterzubringen, das auf meinen Fall womöglich besser vorbereitet gewesen wäre. Ich konstatiere dies nur als Fakt, ohne Missmut oder Bitterkeit. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob mein Leben eine andere Wendung genommen hätte, wäre ich in besseren Händen gelandet.
Tatsache ist, dass meine Ärzte überfordert waren. Wenn ich Rückschau halte, treten mir Dinge vor Augen, die man heutzutage als undenkbar bezeichnen würde. Das vorherrschende Bild aus jener Zeit ist jenes eines verängstigten Teenagers. Sobald die Krämpfe in meinen Extremitäten einsetzten - beginnend mit den Beinen, dann übergreifend auf die Finger, schließlich auf die ganzen Arme - wurde ich stets von den Krankenschwestern mit Riemen an die Gestelle des Spitalbetts gefesselt.
»Wir tun dies, damit du dich nicht verletzt«, sagt eine von ihnen, die ich Schwester Vera nennen will. Ihr routinierter Blick soll wohl so etwas wie Fürsorge ausdrücken. Das Bett rasselt, meine Arme schlingern unkontrolliert hin und her. Untergebracht in einem Sechserzimmer, bestaunen mich die restlichen Kinder mit unverhohlener Neugier. Eines von ihnen beginnt zu weinen, ein anderes klammert sich an seinem Teddy fest.
»Los geht's«, meint Schwester Vera voller Elan, als sie das Klinikbett auf den Stationsflur schiebt. Jedes Mal dieselbe Prozedur. Ziel der täglichen Ausfahrt ist die Abstellkammer der Putzequipe. Dort werde ich - die Beine voran - in den engen Schlund hineingeschoben. Patientenseitig links ist der sogenannte Bettseitenteil angebracht, der verhindert, dass ich aus dem Bett falle. Rechts erkenne ich mehrere Abstellflächen für Reinigungsmittel. In wilder Unordnung stapeln sich Schwämme, Flaschen mit Lösungsmitteln und Seifenlauge, Desinfektionssprays und Duftstoffe. Hinter mir fällt die Tür ins Schloss, und ich bin allein.
Der Mittelfinger meiner Linken zittert, ich friere, da meine Decke verrutscht ist, bin schweißgebadet. Und völlig unerwartet schaltet sich das automatische Licht ab, sodass ich im Dunkeln liege. Hin und wieder geht die Tür auf. Fremdländisch aussehendes Putzpersonal beugt sich über mein Bett, hantiert mit Reinigungsmaterial herum und geht grußlos. Vor allem wenn die Besuchszeiten vorüber oder noch nicht angebrochen sind, werde ich auf diese Weise von den Schwestern und Pflegern versorgt - aus den Augen, aus dem Sinn. Die Ärzteschaft billigt dies ausdrücklich, und als meine Mutter mich nicht erwartungsgemäß im Zimmer auffindet, sondern zur Abstellkammer geleitet wird, reagiert sie empört.
Wer auch immer eine Tochter, einen Sohn hat, kann ihre Reaktion verstehen, sogar nachfühlen. Auch ich - inzwischen Vater eines kleinen Kindes - verspüre eine gewisse Unruhe, die mich packt, sobald ich recherchiere, was diesem 15-jährigen Jungen vor mehr als zwei Jahrzehnten widerfahren ist. Auf dem Bürotisch liegt ein riesiger Stapel Papier vor dem Computerbildschirm: meine Patientenakte. Bereits der erste Brief, geschrieben im abgehackten Ton der Mediziner, lässt meinen Atem rasen, wenn ich die Ereignisse von damals Revue passieren lasse: »Schwächesensationen in den Beinen, Zittern in den unteren Extremitäten. Patient zuckend und bewusstlos aufgefunden. Seither blieb er 24 Stunden bis zum nächsten Nachmittag nicht ansprechbar. Komatös. Das Zucken ließ bis zum Abend nach. Dann erneutes Zucken mit hüpfenden Bewegungen aus den Schultern, röchelndes Geräusch, Abklingen der Symptomatik bis 21.00 Uhr.«
Und an einer weiteren Stelle: »Zunehmendes Zucken mit verstärkter Intensität. Redet schwach, erkennt nichts, fragt, wer er sei. Auf der Fahrt ins Kinderspital St. Gallen mit der Ambulanz fragt der Jugendliche nach Namen und Begriffen, die ihm geläufig sein sollten. Er kann französisch sprechen und gibt auf die gestellten Fragen des Vaters auf Französisch Antwort.«
Je weiter ich vordringe, je mehr Blätter ich durchstöbere, desto klammer wird das Gefühl, das meine Herzgegend einengt. Die Vergangenheit scheint ein zäher Hund zu sein. Irgendwie hat sie es letzten Endes doch geschafft, sich an mir festzubeißen. Egal wie stark ich schüttle, sie lässt nicht los.
»Neurologie: Patient wirkt bedrückt, verunsichert, hat einen starren Blick, eine Hypomimie, nimmt die Umgebung kaum wahr, ist in sich gekehrt. Kennt seinen Namen nur, weil es ihm der Vater vorher erzählt hat, weiß nicht, wo er wohnt, ist örtlich und zeitlich nicht orientiert. Muskeltonus und Muskelkraft inzwischen regelrecht. Reflexe beidseitig symmetrisch. Kardiopulmonal: rhythmische normokarde Herzaktion, Vesikuläratmen über allen Lungenfeldern. Abdomen: weiches, indolentes Abdomen ohne Organomegalie. Urogenitale: bewusst nicht untersucht. Bewegungsapparat: wohlgestaltetes Skelett.«
Wenigstens das!, denke ich. Eine Augenweide für zukünftige Archäologen.
Und schließlich - der Befund.
»Patient wurde wegen einem akuten Apoplex mit anhaltendem Ausfall großer Bereiche des Zentralnervensystems sowie anschließender akuter retrograder Amnesie eingewiesen. Initial kannte Armin weder seinen Namen noch wusste er, wo er wohnt, noch kannte er seine Familienangehörigen. Während seiner Hospitalisation wirkt der Knabe depressiv kontrolliert und verunsichert.«
Das menschliche Hirn besteht laut medizinischer Standardwerke aus rund 100 Milliarden Nervenzellen. Jene Zellen, die diese Neuronen stützen und in Gang halten, die sogenannten Gliazellen, überwiegen dabei jedoch um das Zehnfache. Zentrum für unsere geistigen und seelischen Fähigkeiten ist das Großhirn, jener gefaltete, aus zwei Hemisphären bestehende Teil, der die übrigen Hirnregionen wie ein...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.
Dateiformat: PDFKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Das Dateiformat PDF zeigt auf jeder Hardware eine Buchseite stets identisch an. Daher ist eine PDF auch für ein komplexes Layout geeignet, wie es bei Lehr- und Fachbüchern verwendet wird (Bilder, Tabellen, Spalten, Fußnoten). Bei kleinen Displays von E-Readern oder Smartphones sind PDF leider eher nervig, weil zu viel Scrollen notwendig ist. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.