KAPITEL 1 ? UNTERNIMM ALLEINE EINE REISE
Das hier war zweifelsfrei das Dämlichste, was ich je getan hatte!
Die Stewardess schob ratternd einen dieser Snackwagen an mir vorbei und warf mir zum gefühlt tausendsten Mal einen fragenden Blick zu, den ich mit einem stummen Kopfschütteln quittierte. Seit mittlerweile neun Stunden war ich in dieser Maschine eingesperrt und rechnete immer noch jede Minute damit, dass ein Triebwerk Feuer fing oder mein freundlicher Sitznachbar Brian sich als Irrer herausstellte. Die Tatsache, dass die Maschine aus Hannover völlig unbeschadet in Amsterdam gelandet war, hatte meine Panik zwar ein wenig gemildert, trotzdem lauerte ein Rest davon noch in meinem Unterbewusstsein und ich bereitete mich darauf vor, bei der kleinsten Unregelmäßigkeit schreiend vom Sitz aufzuspringen.
Als ich mich vor gut fünfzehn Stunden am Flughafen von meiner Mutter verabschiedet hatte, hatte ich mich stark und selbstbewusst gegeben. Als wäre ich mir meines Vorhabens absolut sicher und würde nicht im Traum damit rechnen, dass diese Sache möglicherweise einen Haken haben könnte. Jetzt, geschätzte zwölftausend Meter über dem sicheren Boden, wünschte ich mir, ich hätte vorher darüber nachgedacht, wie ich den Atlantik genau würde überqueren müssen. Das Adrenalin, das in den letzten Tagen durch meine Adern geschossen war, während ich diese Reise geplant hatte, nahm allmählich wieder ab und machte der Erkenntnis Platz, dass ich ganz offensichtlich den Verstand verloren hatte. Wie sonst hatte es passieren können, dass ich kaum drei Wochen nach meiner letzten Klausur in einem Flugzeug nach Seattle saß, nur um den verqueren Traumschlössern meiner Großmutter nachzujagen? Lebensvorstellungen, die sie vor Jahrzehnten auf ein Blatt Papier gekritzelt hatte und die nun anscheinend in den nächsten Wochen mein Leben bestimmen sollten. Beziehungsweise meinen Tod bedeuteten, sollte dieser Vogel vom Himmel fallen.
Ich vergrub das Gesicht in den Händen und schloss die Augen. Bisher hatte ich nicht eine Minute schlafen können und ich bezweifelte, dass ich jetzt die Ruhe dafür finden könnte. Meine Gedanken drehten sich unaufhörlich um die Landung in Seattle. Dass ich bislang lediglich drei Nächte in einem Hostel gebucht und für danach quasi noch gar keine Pläne gemacht hatte, machte mich nervös. >Riskier was!<, hatte meine Großmutter gesagt. >Hör auf zu planen. Lass das Leben entscheiden!<. Wenn sie nicht so schwach gewesen wäre und nicht verkabelt in einem Krankenhausbett gelegen hätte, hätte ich gelacht und sie gefragt, von welcher Glückskeksbotschaft sie diese Phrasen abgeschrieben hätte. Aber so, wie die Dinge im Moment standen, hatte ich mich von ihren Überzeugungsversuchen einlullen lassen und tatsächlich einen Flug von Hannover nach Seattle gebucht.
Ich musste nicht bei Trost gewesen sein.
Ich warf Brian einen verstohlenen Blick zu. Nein, er machte nicht den Eindruck, als wollte er im nächsten Moment das Flugzeug entführen. Tatsächlich hatte er sich bislang als überaus nützlich erwiesen. Erst hatte er mich beim Start der Maschine sehr freundlich darauf hingewiesen, dass ich meinen iPod ausschalten müsste. Anscheinend beeinträchtigen derartige Geräte selbst im einundzwanzigsten Jahrhundert noch die Elektronik des Flugzeuges. Sofort waren in meinem Kopf Bilder von brennenden Wrackteilen und umhertorkelnden Passagieren aufgetaucht. Dann hatte er mir beim Ausfüllen der Zolldokumente geholfen, was mich vermutlich davor bewahrt hatte, sofort nach der Ankunft wieder nach Deutschland zurückgeschickt zu werden. Es war nicht so, dass ich Probleme mit der englischen Sprache hatte. Doch die Nervosität und die Flugangst hatten dazu geführt, dass die Buchstaben auf dem Formular vor meinen Augen verschwammen, und als Brian mein Zögern bemerkt hatte, war er mir sofort zur Hilfe gekommen. Alles in allem hatte er mir quasi das Leben gerettet.
Die Stewardess schlenderte erneut an mir vorbei und warf mir einen derart auffordernden Blick zu, dass ich ergeben ein Wasser bestellte, nur um sie glücklich zu machen. Sie strahlte wie die Frauen in einer Zahnpasta-Werbung, als sie mir die Flasche reichte. Sie war offensichtlich leicht zufriedenzustellen.
Mein Blick streifte die Menschen in den Sitzreihen vor mir und blieb an einer älteren Dame mit Hut hängen. Er war geradezu lächerlich extravagant und erinnerte mich schmerzlich an meine Großmutter. Eliza war - sowohl in modischer Hinsicht als auch was ihre Persönlichkeit anging - der ausgefallenste Mensch, den ich kannte. Selbst wenn ich meine Gedanken zur Ordnung rufen wollte, wanderten sie offensichtlich automatisch in unbequeme Gebiete. Zu dunklen, schmerzlichen Orten, die nicht mehr an die lebenslustige Frau erinnerten, die Eliza immer gewesen war.
Es war zwei Wochen nach meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag gewesen, als meine Mutter mich in der Uni angerufen und mir erklärt hatte, dass Eliza ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Auch wenn dieser Tag inzwischen Wochen zurücklag, konnte ich immer noch die Eiseskälte spüren, die sich in meinen Eingeweiden ausgebreitet hatte. Ich hatte mitten auf dem Gang innegehalten und mich von meinen Kommilitonen anrempeln lassen. Ich stand einfach nur da und konnte nicht fassen, dass die Welt sich weiterdrehte. Meine Großmutter war der Fixpunkt in meinem Leben gewesen. Lächelnd war sie mit mir durch all meine kleinen und großen Teenager-Dramen gegangen und war immer an meiner Seite gewesen. Dass ihr etwas passieren könnte, hatte meine Vorstellungskraft bisher überstiegen. Ohne einem meiner Freunde Bescheid zu sagen, war ich in mein Auto gestiegen und ins Krankenhaus gefahren. Heute konnte ich mich nicht mehr an die Fahrt dahin erinnern oder ob ich die Schwestern nach dem Weg zu ihrem Zimmer gefragt hatte. Das Einzige, was sich immer noch deutlich in meinen Erinnerungen abzeichnete, war die Angst. Die Angst, dass das Leben ein wenig farbloser wurde, würde ich Eliza verlieren. Und für einen Augenblick hatte diese Angst mich völlig gelähmt: in dem Moment, als ich sie gesehen hatte. Verkabelt und mit Schläuchen ans Bett gefesselt. Ihre sonst so rosige Haut war fahl und tiefe Augenringe hatten sich in ihr Gesicht gegraben. Wenn die Ärzte mir nicht eindringlich versichert hätten, dass vorerst keine Lebensgefahr bestünde, hätte ich geglaubt, sie wäre tot. Es war dieses Bild, das mich seitdem Nacht für Nacht in meinen Träumen heimsuchte und das ich vor mir sah, wann immer ich an die letzten Monate dachte.
Ich riss mich aus meinen düsteren Gedanken und griff mit zitternden Fingern nach meinem Wasser, um nicht mitten im Flieger in Tränen auszubrechen. Wie ein Mantra sagte ich mir immer und immer wieder, dass ich an der Situation nichts mehr ändern könnte. Dass wir eine Möglichkeit finden würden, das Leben mit all seinen schillernden Farben wiederaufzunehmen. Vielleicht war dieser hirnrissige Flug der erste Schritt, vielleicht auch nicht. Aber immerhin war es besser, als zu Hause zu sitzen und die Zimmerdecke anzustarren.
Zumindest war es das, wovon ich mich zu überzeugen versuchte.
Eine knappe Stunde später ertönte durch die Lautsprecher die Ankündigung, dass wir in Kürze landen würden. Ich atmete erleichtert aus. Die letzten zwanzig Minuten hatte ich kurz vor einer Panikattacke gestanden, weil wir wegen eines Gewitters zunächst keine Landeerlaubnis bekommen hatten. Die Vorstellung, bald wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, trieb mir beinahe die Tränen in die Augen.
Ich nahm mein Notizbuch von dem Klapptisch vor mir und warf einen Blick auf Elizas Liste, die seit Wochen zwischen den Seiten steckte. Die Liste, wegen der ich in diesem Flugzeug saß und weiche Knie bekam, wenn ich an die nächsten Wochen dachte. Es war ein alter karierter Zettel, auf dem vierunddreißig Aufgaben aufgeschrieben waren, eine haarsträubender als die nächste. Ich nahm an, dass Eliza ihn einst aus einem kleinen Ringbuch herausgerissen hatte. Er war unscheinbar, als hätte meine Großmutter ihm damals wenig Bedeutung beigemessen. In der Mitte, wo das Papier unzählige Male geknickt worden war, zerfledderte es schon etwas. Tatsächlich fürchtete ich, dass es jeden Moment auseinanderfallen würde, weshalb ich die Liste sorgfältig in meinem Notizbuch aufbewahrte. Sieben der Punkte waren bereits durchgestrichen, wobei ich mich ernsthaft fragte, ob meine Großmutter diese Aufgaben wirklich absolviert hatte. Es fiel mir ein wenig schwer, mir vorzustellen, dass sie tatsächlich auf einem Vogel Strauß geritten und rückwärts einen Marathon gelaufen war. Ihren Angaben zufolge hatte sie außerdem ein goldenes Willy-Wonka-Ticket gefunden, Glühwürmchen gefangen, eine Rollschuhbahn besucht, Elvis Presley berührt und war in einem Panzer gefahren. Aber auch wenn ich nicht wusste, wie genau sie das alles angestellt hatte, passte es zu ihr. In meinem Kopf stand sie mit wehenden Haaren und Halstuch in der Dachluke des Panzers und schrie sich die Seele aus dem Leib. In einem Krieg hätte sie den Gegner vermutlich allein mit ihrem Stimmvolumen zur Kapitulation gebracht.
Vor ihrer Pensionierung hatte sie als stellvertretende Geschäftsleiterin in einem Hotel gearbeitet, danach ehrenamtlich in wohltätigen Institutionen ausgeholfen. Meine Mutter und ich hatten uns oft darüber lustig gemacht, dass sie ihre Angestellten vermutlich hin und her gescheucht hatte. Ich liebte meine Großmutter, doch ich hätte nicht für sie arbeiten wollen.
Eine halbe Stunde später verließ ich zusammen mit den anderen Passagieren die Zollkontrolle und betrat die Gepäckhalle. Ich entdeckte meinen Rucksack auf dem Ausgabeband und hastete los, um ihn noch zu erwischen, bevor er wieder außer Reichweite...