Schweitzer Fachinformationen
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Fünfzehn Jahre später
1. KAPITEL
Kartons
Iwata erwachte aus einem Falltraum. Wieder einmal. Schweißgebadet rang er nach Luft. Er ging zum Fenster. Unter ihm dehnte sich die Landschaft von Tokio aus, Städte über Städte, unendliche Fluchten. Fünfunddreißig Millionen Existenzen, eingepfercht in einen betonierten und verkabelten Tag- und Nachtrhythmus. Immense Infrastruktur, wuchernde Geflechte, und alles so fragil wie ein Kolibriherz.
Die Lichter der Stadt leuchten so schön.
Iwata ging zur Kochnische in seiner kargen Wohnung und goss sich ein Glas Wasser ein. Sein Blick fiel auf die großen Pappkartons in der Ecke, und er schaute schnell wieder weg. Er wickelte sich in eine Decke, hockte sich vor die Stereoanlage und setzte sich einen Kopfhörer auf. Schuberts Impromptu Opus 90 Nummer 3 in G-Dur stillte seine Unruhe, und der Albtraum löste sich in der Musik auf.
Grauer Morgendunst sickerte durch die Gardinen, als Iwata beschloss aufzubrechen. Er trank in Ruhe seinen Kaffee, duschte kräftig und zog sich Jeans und einen dicken Cashmere-Pullover an. Er griff sich die Zeitung, fuhr mit dem Aufzug hinunter zum Parkhaus und schloss seinen Isuzu 117 Coupé, Baujahr 1979 auf. An der Windschutzscheibe klemmte ein Zettel mit einem Kaufangebot, er zerknüllte ihn und steckte ihn in die Tasche. Die Ledersitze waren rissig, der Wagen nicht garagengepflegt, dennoch fand Iwata nahezu alle zwei Wochen solche Angebote. Bestimmt ein neidischer Nachbar.
Er startete den Motor, ließ das Radio ausgeschaltet und genoss die seltene Stille in den Straßen von Tokio. Am Südeingang des Bahnhofs Shibuya hatten sich die ersten Straßenhändler eingefunden, eine verschworene Gemeinschaft, die Tüten mit heißen Nüssen und Thermosflaschen mit Tee herumreichten. Kleinkreditgeber und Handyanbieter öffneten ihre Fensterläden. Auf einem Kaufhausdach ein gigantischer LED-Schirm, über den Nachrichten flimmerten. Mina Fong, eine berühmte Schauspielerin, war tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Eine bekannte Millionenerbin hatte sich von einem vielversprechenden Pitcher der Yomiuri Giants getrennt. Eine beliebte Kochshow war abgesagt worden. Und eine neue Single hatte es auf Platz eins der Popcharts geschafft. Die Nachrichten endeten mit dem Slogan einer Versicherung: Japan, wie es sein sollte.
Iwata bog von der Hauptverkehrsstraße ab und fand einen Parkplatz auf einem freien Grundstück hinter einer Ladenpassage. Er steckte die Hände in die Taschen und stapfte die zugigen Seitenstraßen entlang. Der Frühling hatte sich dieses Jahr nicht nur verspätet, sondern anscheinend bereits aufgegeben.
Iwata ging ins nächste Kaufhaus und verbrachte eine Stunde, um Leuchtstifte, Notizbücher und Trennblätter zu kaufen. In der Cafeteria bestellte er einen Kaffee mit Zuckersirup und einen Obstsalat. Es gab hier kein WLAN, aber Iwata mochte die Aussicht. Er saß zwischen erschöpften Nachtschichtarbeitern, schlürfte seinen Kaffee und blickte hinunter auf die Hauptstraße. In Shibuya wimmelte es jetzt von gehetzten Pendlern und übernächtigten Studenten. Polizisten regelten hektisch den zähen Autoverkehr, Fußgänger reagierten gereizt auf rote Ampeln.
Iwata schlug die Zeitung auf und widmete sich als Erstes dem Anzeigenteil. Er ignorierte die versteckten Angebote von Frauen mittleren Alters für diskrete Massagen, Begleitservice zum Essen und Französischunterricht. Bei der Rubrik Lagerraum hielt er inne. Nach wenigen Minuten umkringelte er eine Anzeige. Dann faltete er die Zeitung zusammen, klemmte sie unter den Arm und verließ die Cafeteria.
Draußen hatte sich der Nebel vorübergehend gelichtet, und der Himmel erstrahlte in einem kalten exquisiten Blau. Iwata ging zurück zu seinem Auto und rief die in der Anzeige angegebene Nummer an. Eine verschlafene Stimme meldete sich.
»Matsumoto hier«, sagte der Mann, hustete und zündete sich eine Zigarette an. »Ihr Lagerproblem ist meine Leidenschaft.«
Iwata brachte sein Anliegen vor, und Matsumoto leierte eine Adresse herunter. Sie verabredeten ein Treffen in einer Stunde.
Er fuhr Richtung Norden, durch Harajuku, parkte unweit des U-Bahnhofs und ging die Takeshita Straße mit ihren Läden für gefälschte Marken-T-Shirts, Hello-Kitty-Produkten und Plastiknippes entlang. Touristen begafften die grellen Neonreklamen und das affektierte Gehabe. Poster der neuesten Idole klebten an jeder verfügbaren Fläche. Aus billigen Lautsprechern plärrte Happy Pop, und schulschwänzende Teenager verglichen Preise. Iwata war dieser Ort verhasst, doch in der Nähe gab es eine Nudelbar, die zum Frühstück leckere Tamagoyaki anbot. Meistens war sie nur halb voll, doch aus irgendeinem Grund hatte sich heute eine lange Schlange rauchender Büroangestellter vor dem Eingang gebildet. Fluchend kehrte Iwata zu seinem Auto zurück.
Er fuhr Richtung Südosten, die breite, von Bäumen gesäumte Omotesando Allee entlang, wo sich in den Flagship-Stores italienischer Designer-Marken betuchte Hausfrauen tummelten, bog in die Aoyama Dori und fünfzehn Minuten später in die Meguro Dori. Auf einem unbebauten Grundstück zwischen zwei Häusern fand er einen freien Parkplatz. Er stieg aus und sah zum Himmel. Heute Abend würde es regnen.
An einem Imbiss bestellte er Gemüse mit Garnelenklößchen, und der Koch reichte ihm durch eine Luke in der Mauer einen Pappteller. Der alte Mann schimpfte über das gestrige Spiel, Iwata nickte und versprach wiederzukommen.
Am Ende der Straße, vor einem schmuddeligen Laden, dessen Schaufenster mit vergilbtem Zeitungspapier zugeklebt waren, stand ein gedrungener, dicker Mann mit einem Pferdeschwanz. Er zog gierig an einer Zigarette und sah die Straße auf und ab. Als er Iwata erblickte, klemmte er den Stummel zwischen die Lippen und streckte Iwata die Hand entgegen.
»Sind Sie meine Verabredung?« Die Zigarette wippte auf und ab. Iwata nickte, und sie gaben sich die Hand.
»Dann wollen wir den Laden mal für Sie aufmachen.«
Matsumoto stieg über einen Haufen Werbepost. Der Raum war schmal, aber Iwata gefiel die Düsternis. Die Wände säumten unterschiedlich große Schließfächer, hinten standen mehrere kleine Tresore.
»Was meinen Sie, Mister? Passt es Ihnen?«
»Sehr sogar.«
»Wofür brauchen Sie den Platz?«
»Für meine Kartons. Sechzehn Stück. Fünfundvierzig mal fünfundvierzig mal fünfzig.«
Matsumoto pfiff.
»Ich könnte Ihnen den ganzen hinteren Raum zur Verfügung stellen, aber das würde mehr kosten.«
»Wie viel?«
Er musterte Iwata.
»Warum wollen Sie die Kartons nicht in Ihrer Wohnung aufbewahren, Mister, wenn ich fragen darf?«
»Dürfen Sie nicht. Wie viel?«
»Also gut. Fünfunddreißigtausend im Monat.«
Iwata schüttelte den Kopf.
»Ich mache Ihnen ein Angebot: Achtzigtausend für drei Monate. Wenn Sie akzeptieren, zahle ich im Voraus.«
»Achtzig?« Matsumoto blies Rauch aus und kniff die Augen zusammen. »Im Voraus?«
»Ganz genau.«
»Wer sind Sie? Ein Kredithai?«
»Ich brauche nur Lagerraum für meine Kartons.«
»Warum bei mir? Warum lagern Sie sie nicht in einem der großen Häuser ein? Ist billiger.«
»Ich mag keine Formulare.«
Matsumoto zuckte die Schultern. »Scheiß drauf. Wir sind im Geschäft.«
Der Kassierer in der Bank machte Iwata darauf aufmerksam, dass nur noch eine geringe Deckungssumme übrig bliebe, doch Iwata hörte nicht auf ihn. Draußen übergab er Matsumoto den dicken Umschlag, der ihn einsteckte und ihm im Gegenzug einen Schlüsselbund zuwarf.
»Dann sehen wir uns also in drei Monaten wieder«, sagte Matsumoto augenzwinkernd.
Er wandte sich ab. Sein Pferdeschwanz baumelte beim Gehen hin und her. Iwata kehrte zu seinem Auto zurück. In der Ferne hörte er Donnergrollen.
Kurz nach ein Uhr erreichte Iwata das Labyrinth des Bahnhofs Shinjuku, der die Ausmaße eines Flughafens hatte. Er kaufte eine Fahrkarte für den Shinkansen nach Nagano und bestieg den Asama 573. Die Sitze waren sauber, die Temperatur optimal eingestellt für menschliche Bedürfnisse, die Zugbegleiter verbeugten sich beim Betreten und Verlassen der Waggons, und der Ruhebereich war tatsächlich sehr ruhig.
Der Zug fuhr los, und Tokio schwand aus Iwatas Blickfeld. Trabantenstädte mit künstlichen Seen flogen vorbei. Hier lebten junge Berufstätige, die sich gesund ernährten und viel Sport trieben. Auch Iwata hatte einmal zu ihnen gehört, als die Notwendigkeit für diese Reise noch nicht bestand. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit diesem Zug gefahren war. Wollte sich auch nicht erinnern.
Als die grauen Schlafstädte endlich hinter ihm lagen, folgten nur noch Felder und Strommasten. In der Ferne wogten Hügel wie liebeskranke Seufzer.
Nach der Ankunft im Bahnhof Nagano kaufte Iwata eine Abendzeitung und eine Lunchbox, obwohl er nach beidem kein Bedürfnis verspürte, und bestieg einen klapprigen Zug, der auch als Nostalgiezug nichts getaugt hätte. In gemächlichem Tempo ging es zunächst durch grünes Flachland, dann bewaldete Hänge hinauf in die Berge.
Iwata beobachtete durchs Fenster banale Dinge einer banalen Welt. Eine Frau an einer Ampel kratzte sich am Ellbogen. Schulkinder übermalten eine graffitibesprühte Wand. Eine alte Dame auf einer Bank schaute einer vom Wind getriebenen Zellophanverpackung hinterher. Ein einzelnes Auto in einem Reisfeld, die Alarmanlage blinkte.
Kurz vor fünf Uhr erreichte er sein Ziel, ein...
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